Grenzenlose Souveränität im Cyberspace
Eine Kritik des Positionspapiers der Bundesregierung zum digitalen Völkerrecht
Dieses Jahr legen die Arbeitsgruppen der UN zum internationalen Recht im digitalen Raum, die Group of Governmental Experts sowie die Open-Ended Working Group ihre Abschlussberichte vor. Dazu veröffentlichte die Bundesregierung Anfang März ein Positionspapier zur Anwendung des Völkerrechts im Cyberspace. Auffällig an dieser Stellungnahme ist besonders der weite Anwendungsbereich, den die Bundesrepublik für die Staatensouveränität im Internet vorsieht. Die Menschenrechte und weitere Grenzen der Souveränität tauchen in dem Papier kaum auf. Dies ist problematisch. Setzt sich ein zu weites Verständnis der Staatensouveränität im Cyberraum durch, drohen erhebliche Freiheitsbeschränkungen im Internet.
Hintergrund
Die Staatensouveränität ist ein Grundpfeiler des Völkerrechts. Sie besagt, dass jedem Staat ein eigenes Hoheitsgebiet zusteht, auf dem dieser seine Hoheitsgewalt unabhängig von anderen Staaten ausüben kann. Damit geht jedoch keine uneingeschränkte Freiheit der Staaten einher, auf dem eigenen Gebiet die eigene Staatsmacht willkürlich auszuüben. Die Menschenrechte verhindern – zumindest in der Theorie – als Begrenzungen der Staatensouveränität ein solches Vorgehen.
Die Frage, wie und ob sich die Souveränität auf das Internet bzw. den Cyberspace übertragen lässt, beschäftigt die Staatengemeinschaft schon seit vielen Jahren. Ein Problem einer solchen Übertragung liegt darin, dass das Internet als virtueller, die ganze Welt verbindender Raum weitgehend losgelöst von staatlichen Territorien existiert. Der Bezug zu einem Staatsgebiet als Anknüpfungspunkt der Staatensouveränität ist damit im Internet weniger stark ausgeprägt als in der analogen Welt (Positionspapier, S. 2-3).
Im Zusammenhang mit verschiedenen UN-Arbeitsgruppen haben eine Vielzahl von Staaten ähnlich wie die Bundesrepublik eigene Konzepte zur Staatensouveränität im Internet vorgestellt. Die Meinungen über die Reichweite derselben gehen weit auseinander. Während Großbritannien und manche Mitarbeitende der US-Regierung abstreiten, dass die Staatensouveränität im Cyberraum überhaupt eine selbständig verletzbare völkerrechtliche Regel darstellt, orientieren China und Russland ihre Konzepte zur Anwendung des Völkerrechts im Cyberspace in erster Linie an einer weiten Auslegung des Souveränitätsbegriffs. Will die bundesdeutsche Position hier zu einer Konsensbildung beitragen, muss sie also Brücken zwischen diesen Extrempolen bauen.
Die Position der Bundesregierung
Anders als Großbritannien und die Mitarbeitenden der US-Regierung hält Deutschland die Staatensouveränität im Cyberraum für eine eigenständig verletzbare Regel des Völkerrechts, die auch dann betroffen sein könne, wenn speziellere Regeln wie das Interventions- oder Gewaltverbot nicht greifen (S. 3). Die Souveränität erhält damit den Charakter einer Art „Auffangregel“ für verschiedenste Eingriffe. Wie Russland und China, aber auch Frankreich betont die Stellungnahme der Bundesrepublik zudem einen weiten Anwendungsbereich der Staatensouveränität im Internet (S. 2-4). Dieser Anwendungsbereich setze sich aus einer inneren und einer äußeren Dimension zusammen. Nach innen räume die Souveränität den Staaten die Möglichkeit ein, Angelegenheiten rund um den Cyberraum selbständig zu regeln. Nach außen garantiere sie sowohl die territoriale Integrität der Staaten als auch deren politische Unabhängigkeit.
Eine Verletzung der territorialen Integrität liege vor, so das Positionspapier (S. 4), wenn durch digitale Maßnahmen physische Schäden oder Funktionsbeeinträchtigungen auf fremdem Staatsgebiet verursacht werden. Zu vernachlässigende, physische oder funktionelle Beeinträchtigungen stellten jedoch keinen Verstoß dar. Damit etabliert die Bundesrepublik eine sinnvolle Erheblichkeitsschwelle für Verletzungen der territorialen Souveränität, die verhindert, dass auf jegliche Zugriffe auf fremde Netzinfrastruktur mit Gegenmaßnahmen reagiert werden kann. Auch eine Beeinträchtigung kritischer Infrastruktur führe laut dem Positionspapier (S. 4) nicht automatisch zu einer Verletzung der Staatensouveränität. Ohne eine international anerkannte Definition des Begriffs „kritische Infrastruktur“ komme einer solchen Beeinträchtigung lediglich eine Indizwirkung zu. Insgesamt ist die deutsche Position zur territorialen Integrität damit einer einzelfallgerechten, sinnvollen Bewertung zwischenstaatlicher Konflikte zugänglich. Beispielsweise wäre das Schäden verursachende Hacken des Stromnetzes mit anschließendem Stromausfall nach der deutschen Position wohl völkerrechtswidrig, bloße Spionage über das Internet hingegen eher nicht.
In problematischer Weise vage bleiben die deutschen Darstellungen zur politischen Unabhängigkeit des Staates als Teil der Souveränität (S. 3). Das Recht eines Staates, das eigene politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle System frei zu wählen, falle unter diese Dimension der Staatensouveränität. Was genau hierunter zu verstehen ist, bleibt jedoch weitgehend offen. Ausgeführt wird zwar, dass auch die politische Unabhängigkeit als Teil der Souveränität selbständig verletzbar sei. Die Voraussetzungen einer Verletzung werden jedoch nicht genannt. Insbesondere ist unklar, ob die Überschreitung einer Erheblichkeitsschwelle wie im Bereich der territorialen Integrität auch für eine Verletzung der politischen Unabhängigkeit nötig ist.
Wertungswidersprüche des Papiers
Diese oberflächlichen Angaben zur politischen Unabhängigkeit als Teil der Staatensouveränität führen zu Wertungswidersprüchen innerhalb des Positionspapiers. Sie untergraben die differenzierten Darstellungen des Papiers zu anderen völkerrechtlichen Regeln wie dem Interventionsverbot (S. 4-6).
Dieses verbietet Einmischungen in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten mit einer Zwangs- bzw. Nötigungswirkung. Eine solche Zwangswirkung dürfe laut dem Positionspapier nicht leichtfertig angenommen werden. Notwendig sei, dass der Willen eines Staates mit digitalen Mitteln in ähnlicher Weise gebeugt werde wie bei einer Zwangswirkung mit herkömmlichen Mitteln (S. 5). In der Beeinflussung ausländischer Wahlen liege beispielsweise nur in Ausnahmefällen eine völkerrechtswidrige Intervention, etwa wenn das Wahlergebnis direkt verändert werde, Wahlinfrastruktur angegriffen werde oder gewaltsame Unruhen mithilfe von Falschnachrichten heraufbeschworen werden (S. 5-6). Pointierte Kommentare und harsche Kritik an dem Verhalten anderer Staaten verstießen hingegen nicht gegen das Interventionsverbot (S. 5). Ein Verstoß gegen das Interventionsverbot ist nach der deutschen Position also voraussetzungsvoll.
Zugleich sei laut dem Positionspapier bei Einflussnahmen auf ausländische Wahlen auch ein Verstoß gegen die politische Unabhängigkeit eines anderen Staates als Teil von dessen Souveränität denkbar (S. 3). Da die Voraussetzungen für einen Verstoß gegen die politische Dimension der Staatensouveränität nicht genannt werden, sind Verstöße gegen diese auch denkbar, ohne dass zugleich ein Verstoß gegen das Interventionsverbot vorliegt. Aufgrund des Auffangcharakters der Staatensouveränität dürften zudem sämtliche Verstöße gegen das Interventionsverbot zusätzlich einen Verstoß gegen die Staatensouveränität darstellen. Dies mag von der deutschen Position durchaus beabsichtigt sein. Das Interventionsverbot verliert auf diese Weise jedoch weitgehend einen eigenständigen Anwendungsbereich. Auf Rechtsfolgenebene spielt es ebenfalls keine Rolle, ob ein Verstoß gegen das Interventionsverbot oder die Staatensouveränität vorliegt. In beiden Fällen kann der betroffene Staat nach geltendem Völkerrecht mit verhältnismäßigen Gegenmaßnahmen reagieren. Ein Verstoß gegen das Interventionsverbot eröffnet dabei nicht automatisch einen weiteren Handlungsspielraum als ein Verstoß gegen die Staatensouveränität. Letztlich wird damit ein Verstoß gegen die politische Dimension der Staatensouveränität zur einzig entscheidenden Frage für die Reaktionsmöglichkeiten des betroffenen Staates. Die differenzierte Darstellung zum Interventionsverbot wird hingegen faktisch bedeutungslos. Für eine konsequente Positionierung wären daher weitere Erläuterungen zur politischen Dimension der Staatensouveränität und deren Grenzen notwendig gewesen.
Menschenrechte im Internet
Eine weite Lesart der politischen Unabhängigkeit der Staaten als Teil ihrer Souveränität birgt zudem Gefahren für menschenrechtlich geschützte transnationale Informationsflüsse zwischen Privatpersonen. China und Russland erstreben beide eine souveränitätsbasierte Unterteilung des Internets in nationale Regelungsräume, mit der sämtlicher Datenaustausch zwischen diesen nationalen Regelungsräumen staatlicher Kontrolle unterläge. Selbst die bloße Weitergabe von Informationen zwischen Privatpersonen könnte sodann nur mit staatlicher Zustimmung geschehen. So führten beide Staaten in den letzten Jahren Gesetze für ein „Souveränes Internet“ ein, die u.a. dazu dienen, die eigene Bevölkerung stärker von Informationsquellen aus dem Ausland abzuschirmen. Die Menschenrechte sehen Russland und China hingegen zunehmend als unzulässige Rechtfertigung westlicher Einmischungen in ihre inneren Angelegenheiten an.
Diesbezüglich wäre eine ausführliche Positionierung Deutschlands zu der begrenzenden Wirkung der Menschenrechte für die Staatensouveränität sinnvoll. Die einmalige oberflächliche Erwähnung dieser Funktion in dem Positionspapier (S. 2) greift zu kurz. Dass der freie, grenzübergreifende Fluss von Informationen zwischen Bürgern im Rahmen ihrer Informationsfreiheit im Internet zu schützen ist, sollte ebenso selbstverständlich sein, wie der Schutz der digitalen Privatsphäre und der freien Meinungsäußerung in den sozialen Medien. Dies sollte in völkerrechtlichen Positionspapieren demokratischer Staaten deutlich zum Ausdruck gebracht werden. Folgen auch in Zukunft keine detaillierteren Stellungnahmen zu den Menschenrechten in völkerrechtlichen Positionspapieren, so droht aufgrund der Pläne Russlands und Chinas ein Verblassen zentraler demokratischer Werte und Freiheiten im Netz. Das weitgehende Schweigen der deutschen Stellungnahme zu diesen zentralen Werten ist daher bedauerlich.
Betrachtet man die erheblich divergierenden Vorstellungen der einzelnen Staaten zur Geltung der Staatensouveränität im Internet, wird die Komplexität einer Übertragung dieses völkerrechtlichen Grundprinzips auf den Cyberraum deutlich. Hier im Rahmen der UN-Arbeitsgruppen zu gehaltvollen Konsenserklärungen zu finden, ist enorm schwierig. Die nur zurückhaltenden Äußerungen vieler Staaten zur begrenzenden Rolle der Menschenrechte für die Staatensouveränität dürfte hierin ihren Ursprung haben. Äußern sich die Staaten ausführlicher zu den Menschenrechten, eröffnen sie mit der strittigen Rolle derselben im Cyberraum einen weiteren Streitpunkt, der die Konsensfindung beeinträchtigt.
Vor diesem Hintergrund scheint es als habe die Bundesrepublik bei der Darstellung der politischen Unabhängigkeit als Teil der Staatensouveränität zugunsten der Konsensfähigkeit des eigenen Positionspapiers auf eine deutliche Darstellung der eigenen Werte verzichtet. Die ausführliche Betonung der Menschenrechte als Grenzen der Staatensouveränität sollte jedoch nicht zugunsten der Konsensfähigkeit geopfert werden. Die bei Durchsetzung eines zu weiten digitalen Souveränitätskonzepts drohenden Freiheitsbeschränkungen im Internet wiegen schwerer als die Nachteile, sollte der zwischenstaatliche Streit über die Reichweite der Souveränität im Internet ohne Konsens weiterbestehen.