Der völkerrechtliche PISA-Schock und seine Folgen
Als 2001 die OECD ihre erste PISA-Studie veröffentlichte, fiel nur wenigen Staats- und Völkerrechtlern ein, die Erforschung und wissenschaftlichen Einordnung dieses Vorgangs könnte sie etwas angehen. Armin von Bogdandy kam auf diese Idee, als er merkte, welch einschneidende Folgen PISA für sein ganz privates Familienleben hatte: “Bei Bogdandys wurde am Sonntag Mathe gelernt.”
Wie kommt eine bloße politikvergleichende Studie dazu, in der gesamten deutschen Bildungspolitik das Unterste zuoberst zu kehren? Was geschieht da? Wer handelt da überhaupt? Mit welcher Legitimation? Fragen wie diese könnte man zu sehr vielen Phänomenen internationaler oder globaler Politikbeeinflussung und -gestaltung stellen. Das Forschungsprojekt “International Public Authority” am Heidelberger Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht ist eins der ambitioniertesten Vorhaben, darauf juristische Antworten zu finden. Am Montag war MPI-Direktor Armin von Bogdandy in Berlin beim Wissenschaftskolleg zu Gast, um dieses Projekt zur Diskussion zu stellen.
Der Heidelberger Ansatz steht in Konkurrenz zu anderen Projekten mit vergleichbarer Zielrichtung: Die einen greifen in den staatsrechtlichen Instrumentenkasten und fordern, das Völkerrecht zu konstitutionalisieren. Andere suchen dem Phänomen mit verwaltungsrechtlichen Denkfiguren zu Leibe zu rücken. Beides, so Bogdandy, sei problematisch: Der Verfassungsbegriff führe im globalen Maßstab in unlösbare konzeptionelle Probleme, und von Verwaltung könne man nur sprechen, wo auch Gesetzgebung und Rechtsprechung anzutreffen seien; ohne den Kontext der Gewaltenteilung funktioniere der Begriff nicht.
Stattdessen, so Bogdandy, empfehle es sich, am guten alten deutschen Begriff des öffentlichen Rechts anzuknüpfen bzw. handlungstheoretisch die “öffentliche Gewalt” in den Mittelpunkt zu rücken: Wenn so etwas wie PISA die ganze deutsche Schullandschaft umpflügen und von Input- auf Outputorientierung umstellen kann (von den Auswirkungen auf die Wochenendgestaltung Heidelberger Professorenfamilien ganz abgesehen), dann ist das mehr als nur eine vergleichende Studie internationaler Politikbewertung – dann ist das ein höchst wirkungsvolles Instrument, Politik in einem ganz bestimmten Sinne zu gestalten.
Ist das öffentliche Gewalt? Nicht im klassischen Sinn von Staatsgewalt und Territorialherrschaft natürlich, aber der tauge ohnehin nicht mehr viel. Bogdandy zitierte ein Bonmot von Eyal Benvenisti, der das alte, vom Souveränitätsdenken geprägte öffentliche Recht mit einer Villa mit großem Garten vergleicht, im Gegensatz zu einem Hochhaus mit 200 Parteien – der heutigen Situation.
Mit einem weiteren Gewaltbegriff werde aber die “unglaubliche Gewaltdimension” der Global Governance erkennbar. Bei den internationalen Organisationen konzentriere sich mittlerweile die Expertise, nicht mehr bei den Ministerien – und damit auch die mit dem Wissen einhergehenden Machtressourcen. “Der Horizont der internationalen Organisationen”, so Bogdandy, sei “voller Machtphänomene, die danach rufen, verregelt zu werden.”
Nur wie? Bogdandy setzt seine Hoffnung darauf, diese Regeln auf einen gemeinsamen Bestand von Grundprinzipien gründen zu können: Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit seien auf nationaler, supranationaler und internationaler Ebene zu diesem Bestand zu rechnen, und auch wenn von der einen Rechtsordnung zur anderen Unterschiedliches darunter verstanden werde, könne man doch über diese Unterschiede vernünftig miteinander reden. In diesem Kommunikationsraum könne eine Ordnung entstehen, die die Global Governance rechtlich einhege.
An der Stelle regte sich im Berliner Publikum allerdings Widerspruch: Dem einen erschien der Ansatz, dem Rechtsraum des Völkerrechts eine solch fein systematisierte Ordnung einziehen zu wollen, als “parochial deutsch”. Andere vermissten das Politische und forderten Raum für die “Ermächtigung politischer Akteure, sich Verfahren auszudenken, in denen bestimmte Fragen auch nicht juristisch entschieden werden dürfen”.
Den Einwand, das Politische müsse in diesem Ansatz seinen Ort bekommen, nahm Bogdandy auf – den, zu deutsch zu sein, dagegen nicht: Das deutsche Rechtsdenken mit seinem hohen Gewicht auf Systematisierung habe immerhin ein bemerkenswert funktionstüchtiges Rechtssystem hervorgebracht. “Natürlich ist das deutsch. Aber das allein diskreditiert den Ansatz nicht.”
Spannend – schade, dass ich selbst den Vortrag am Wissenschaftskolleg verpasst habe, aber gut, hier das Wichtigste nachlesen zu können!
Nur eines verwundert mich: Wenn Bogdandy ein System vorschlägt, das öffentliche Gewalt rechtlich eingrenzt, auf den Grundsätzen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtsschutz basiert und politische Gestaltung ermöglicht – worin unterscheidet sich sein Ansatz dann konkret von dem des supranationalen Konstitutionalismus? Sind das nicht genau die Merkmale, die man gemeinhin einer Verfassung zuschreibt? Und woher kommen dann die “unlösbaren konzeptionellen Probleme”, die dieser Begriff ihm bereitet?
Lieber Manuel,
das ist in der Tat eine berechtigte Frage. Man sollte den Unterschied zwischen dem Ansatz von Bogdandy et al. (IPA = International Public Authority) und manchen Ansätzen zur Konstitutionalisierung tatsächlich nicht überbewerten. Es geht Bogdandy nach meiner Einschätzung v.a. um eine Abgrenzung gegenüber solchen Ansätzen im Rahmen der Konstitutionalisierungsdiskussion, die eher hierarchisch und weniger pluralistisch ausgelegt sind. Daher ähneln der IPA-Ansatz insbesondere Ansätzen wie denen von Kleinlein oder Peters, die die Konstitutionalisierung als einen inkrementellen, prinzipienbasierten Prozess verstehen und keine übergreifende institutionelle Hierarchie vorschlagen. Ihnen allen geht es um eine öffentlich-rechtliche Einhegung der von internationalen Institutionen ausgehenden Gewalt. Der Unterschied zwischen Bogdandy und Peters besteht vielleicht im Anknüpfungspunkt: IPA geht vom Begriff der internationalen öffentlichen Gewalt aus, ist also konsequent handlungsorientiert. Die Ausübung öffentlicher Gewalt, egal durch wen und in welcher Form, zieht die Forderung nach einem öffentlich-rechtlichen Rahmen nach sich. Peters scheint mir dagegen an völkerrechtliche Akteure bzw. das Völkerrecht als solches anzuknüpfen. Kleinlein hingegen bezieht sich auf S. 520 seines Buchs an entscheidender Stelle explizit auf IPA und folgt damit ebenfalls einem handlungsorientierten Ansatz.