31 May 2021

Mehr als nur empfundene Verpflichtung

Grundrechtliche Schutzpflichten für das Leben afghanischer Ortskräfte

Spätestens zum 11. September 2021, womöglich schon Anfang Juli diesen Jahres, soll die NATO Mission „Resolute Support“ in Afghanistan beendet sein. Dementsprechend sind Planung und Umsetzung des Abzugs der daran beteiligten deutschen Soldat*innen in vollem Gange. Die absehbare Verschärfung der Sicherheitslage im Land stellt dabei nicht nur die abziehenden internationalen Einheiten vor Herausforderungen, sondern bedroht vor allem afghanische Menschen, die mit diesen zusammengearbeitet haben.

In einem kürzlich veröffentlichten Aufruf fordert ein breites Bündnis, das über parteipolitische und disziplinäre Grenzen hinweg Vertreter*innen aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Militär und Verwaltung umfasst, von den beteiligten Bundesministerien daher eine unbürokratische und schnelle Aufnahme afghanischer Ortskräfte in Deutschland. Die Autor*innen nehmen Bezug auf „die Wertegebundenheit deutschen Krisenmanagements“ und verweisen darauf, dass die Fürsorge des deutschen Staates für das Leben afghanischer Mitarbeiter*innen ein „Gebot der Verlässlichkeit, der Glaubwürdigkeit und auch der politischen Klugheit“ sei. Auch Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hatte zuvor mitgeteilt, dass sie „es als eine tiefe Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland [empfinde], diese Menschen jetzt, wo wir das Land endgültig verlassen, nicht schutzlos zurückzulassen.“

All dem ist zuzustimmen – doch vieles spricht dafür, dass es nicht bloß einem moralischen, politischen oder strategischen Gebot entspricht, afghanischen Ortskräften nach einem Truppenabzug Schutz in Deutschland zu gewähren. Vielmehr kann aus sogleich näher auszuführenden Gründen von einer entsprechenden grundrechtlichen Pflicht ausgegangen werden. So schreibt auch das Grundgesetz der deutschen Staatsgewalt im Wege einer Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verbindlich vor, was die Verteidigungsministerin für sich als verpflichtend empfindet.

Grundrechtsbindung gegenüber Ausländer*innen im Ausland

Ein solches Bild ergibt zumindest eine Zusammenschau jüngerer Rechtsprechung, die sich zunehmend mit Fragen extraterritorialer Grundrechtsgeltung zu befassen hat. Den Ausgangspunkt entsprechender Überlegungen kann dabei das im letzten Jahr vielfach besprochene BVerfG-Urteil zum BND-Gesetz bilden (vgl. etwa hier, hier und hier). Darin hat der Erste Senat bestätigt, worüber in der Literatur bereits zuvor weitgehend Einigkeit bestand: die Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG gilt territorial und personal uneingeschränkt (Rn. 88 ff.). Grundsätzlich greift sie damit auch gegenüber Ausländer*innen im Ausland (Rn. 93). Dabei wies das Gericht ausdrücklich darauf hin, dass „zwischen verschiedenen Grundrechtsdimensionen, etwa der Wirkung der Grundrechte als Abwehrrechte […] oder als Grundlage von Schutzpflichten zu unterscheiden sein“ könne (Rn. 104). Da bezüglich der Auslandsfernmeldeaufklärung allein die abwehrrechtliche Dimension betroffen war, musste es auf mögliche Unterschiede zu grundrechtlichen Schutzpflichten zunächst nicht näher eingehen.

Schutzpflichten für Ausländer*innen im Ausland – Die Ramstein-Urteile

Gerade diese Frage nach grundrechtlichen Schutzpflichten für Ausländer*innen im Ausland beschäftigte hingegen schon seit 2015 die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Zusammenhang mit der Nutzung der Airbase Ramstein durch das US-Militär. Über die dort befindliche Satteliten-Relaisstation werden Steuerungssignale für Drohneneinsätze im Jemen geleitet, bei welchen in der Vergangenheit wiederholt Zivilist*innen getötet wurden. Das hatte dem OVG Münster in zweiter Instanz in 2019 – also noch vor dem BND-Urteil des BVerfG – gereicht für „einen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Anspruch [der jemenitischen Kläger] darauf, dass die [Bundesregierung] sie vor drohenden Beeinträchtigungen ihres Lebens und ihrer körperlichen Unversehrtheit durch bewaffnete US-Drohneneinsätze in der jemenitischen Provinz Hadramaut schützt, soweit solche Einsätze unter Nutzung der Air Base Ramstein durchgeführt werden und gegen völkerrechtliche Vorgaben mit engem Bezug zu den Schutzgütern des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verstoßen“ (Rn. 189).

Ein Jahr darauf, im November 2020, ruderte das BVerwG im Ergebnis zurück. Es sah weder ausreichend dargelegt, dass ein hinreichend enger Bezug zur deutschen Staatsgewalt gegeben war, um Schutzpflichten auszulösen (Rn. 49 ff.). Noch sei die Gefahr drohender Beeinträchtigungen von Leib und Leben der Kläger ausreichend konkret (Rn. 51). Schließlich wären Schutzpflichten selbst im Falle ihres Bestehens nicht verletzt, da der Exekutive insofern ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Einschätzungsspielraum zukäme (Rn. 55). Gleichzeitig wies das BVerwG den Revisionsvortrag der Bundesregierung, die eine Ausweitung von Schutzpflichten auf Ausländer*innen im Ausland im Grundsatz für ausgeschlossen hielt, unter Bezugnahme auf das in der Zwischenzeit ergangene Urteil des BVerfG zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung zurück (Rn. 42 f.). Die offene Formulierung des BVerfG zu möglichen Unterscheidungen bei der umfassenden Grundrechtsbindung schränkte das BVerwG mit Hinweis auf ältere Verfassungsrechtsprechung dahingehend ein, dass eine „unbegrenzte legislative oder exekutive Verantwortung der deutschen Staatsgewalt für die Unversehrtheit grundrechtlicher Schutzgüter außerhalb des eigenen Hoheitsbereichs dem Grundgesetz fremd“ sei. Erforderlich für die Auslösung von Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG sei deshalb, „dass jedenfalls die Gefahrenlage in wesentlicher Hinsicht innerhalb des Verantwortungsbereichs der deutschen Staatsgewalt […] entstanden ist“ (Rn. 46).

Wen umfasst der „Verantwortungsbereich deutscher Staatsgewalt“?

Übertragen auf die Situation in Afghanistan scheint selbst nach diesen strengeren Maßstäben des BVerwG naheliegend, dass der deutsche Staat verpflichtet ist, Leib und Leben afghanischer Ortskräfte vor Vergeltungsmaßnahmen der Taliban zu schützen. Dass eine Gefahr drohender Beeinträchtigung konkret besteht, entspricht einhelliger Einschätzung und ein anderweitiger Schutz als durch Aufnahme in Deutschland, etwa innerhalb des afghanischen Staatsgebiets, ist nach vollständigem Truppenabzug kaum vorstellbar. Entscheidend für das Vorliegen von Schutzpflichten ist daher auch hier der hinreichend enge Bezug zur deutschen Staatsgewalt. Das setzt nach dem BVerwG voraus, dass die Gefahrenlage in wesentlicher Hinsicht innerhalb deren Verantwortungsbereich entstanden ist. Für die Frage, wie ein solcher Verantwortungsbereich rechtlich abzustecken ist, hilft das Ramstein-Urteil vorliegend nicht weiter. Darin musste sich das Gericht allein mit territorialen Bezügen zur deutschen Staatsgewalt durch die Nutzung der auf deutschem Staatsgebiet gelegenen Sattelitenstation befassen. Hinsichtlich der afghanischen Ortskräfte entsteht die Bedrohung jedoch nicht erst vermittelt durch Berührungspunkte mit dem deutschen Staatsgebiet. Der Bezug zur deutschen Staatsgewalt ist hier viel unmittelbarer. Gerade als Mitarbeiter*innen verschiedener in Afghanistan tätiger Bundesministerien sind die afghanischen Ortskräfte in die jetzige Gefährdungslage geraten. Ohne für den oder mit dem deutschen Staat gearbeitet zu haben, müssten sie nicht um ihr oder das Leben ihrer Familien fürchten. Diese Konsequenz der nichtsdestotrotz unverzichtbaren Anstellung lokaler Kräfte war zudem seit langem bekannt. Vor diesem Hintergrund wird sich der Verantwortungsbereich deutscher Staatsgewalt auch auf afghanische Ortskräfte erstrecken müssen.

Schutzpflichten für Ausländer*innen im Ausland – Andeutungen des BVerfG

Ob die vom BVerwG vorgezeichnete Eingrenzung der extraterritorialen Schutzpflichten den vom BVerfG vage angedachten Unterscheidungen nach einzelnen Grundrechtsdimensionen entspricht, könnte sich bald klären. Eine Verfassungsbeschwerde der jemenitischen Kläger gegen das Revisionsurteil ist anhängig. Dass dabei mitunter großzügiger bestimmt werden könnte, unter welchen Voraussetzungen eine Schutzpflicht des deutschen Staates für Leben und Gesundheit von Ausländer*innen im Ausland besteht, deutet sich – trotz der im Übrigen auffälligen Zurückhaltung hinsichtlich der Aktivierung von Schutzpflichten – zuletzt im Klimabeschluss des BVerfG an.

Darin hat das BVerfG zwar erneut offengelassen, ob Schutzpflichten für die ausländischen Kläger*innen im konkreten Zusammenhang greifen, dies aber zumindest als „prinzipiell denkbar“ bezeichnet (Rn. 174). Dabei hält es daran fest, dass die Umstände, unter denen Grundrechte als Grundlage von Schutzpflichten gegenüber im Ausland lebenden Menschen zur Anwendung kommen, „bislang nicht geklärt“ seien (Rn. 175), was darauf schließen lässt, dass es die einschränkende Lesart seiner früheren Entscheidungen durch das BVerwG nicht als zwingend erachtet. Da es einen möglichen Anknüpfungspunkt für Schutzpflichten schon darin sieht, dass Beeinträchtigungen durch den Klimawandel „zu einem, wenn auch geringen, Teil auch durch von Deutschland ausgehende Treibhausgasemissionen verursacht sind“ (Rn. 175), deutet sich gar eine großzügigere Einrahmung des hinreichend engen Bezugs zur deutschen Staatsgewalt an.

Konsequenzen des Nachdenkens in Schutzpflichten

Vor dem Hintergrund jüngerer Rechtsprechung ist also gut begründbar, dass eine vielseits empfundene moralische Verpflichtung gegenüber afghanischen Ortskräften einer grundrechtlichen Schutzpflicht des deutschen Staates für das Leben dieser Menschen aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG entspricht. Dass es sich dabei trotz bereits bestehender Aufnahmemöglichkeiten und weitgehendem Einvernehmen über deren Erforderlichkeit nicht um eine rein dogmatische Spielerei handelt, sondern konkrete praktische Folgen mit einer Betonung der grundrechtlichen Dimension verbunden wären, soll abschließend skizziert werden.

Die Zusage zur Einzelaufnahme gefährdeter afghanischer Ortskräfte und ihrer Kernfamilie kann seit 2013 über das sog. Ortskräfteverfahren erteilt werden. An diesem Verfahren soll auch in der aktuellen Situation festgehalten werden – nicht zuletzt dagegen richtet sich die öffentliche Kritik. Rechtlicher Ausgangspunkt ist insofern § 22 S. 2 AufenthG, welcher es in das Ermessen des BMI oder von diesem bestimmter Stellen legt, „zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland“ eine Aufnahme zu erklären. Zwar gibt die Bundesregierung an, dieses Ermessen gegenüber afghanischen Ortskräften großzügig auszuüben (Antwort auf Frage 17, S. 23). Tatsächlich wurden in den letzten Jahren aber kaum Aufnahmeversprechen erteilt (Antworten auf Fragen 43a) und b), S. 16). Die Gründe für eine Ablehnung bleiben den Betroffenen dabei verborgen, wogegen sich bereits vor Jahren Proteste zahlreicher Ortskräfte richteten (S. 1). Nach Einschätzung des BMI handelt es sich dennoch um eine rein verwaltungsinterne Entscheidung, welche daher keiner Begründung bedarf und gegen die schließlich auch kein Rechtsweg gegeben ist (S. 4).

Aufnahmeverfahren grundrechtskonform ausgestalten

An dieser Stelle wirkt es sich entscheidend aus, die Aufnahme afghanischer Ortskräfte nicht als politische Interessenabwägung sondern als Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten zu betrachten. Erkennt man eine Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG wie dargelegt an, käme weiterhin § 22 AufenthG zur Umsetzung in Betracht, wäre nun aber entsprechend grundrechtskonform anzuwenden. Besteht keine andere Möglichkeit zum Schutz der gefährdeten Menschen als deren Aufnahme, wäre das Ermessen diesbezüglich auf Null reduziert. Da der subjektiv-rechtliche Charakter von grundrechtlichen Schutzpflichten seit langem von der Rechtsprechung anerkannt ist, müsste zudem der Weg zur deutschen Gerichtsbarkeit eröffnet sein, um deren Einhaltung zu überprüfen. Dass Grundrechte auch bei extraterritorialen Sachverhalten ihren Charakter als subjektive Rechte behalten und nicht etwa auf eine bloß objektiv-rechtliche Dimension eingestampft werden, hat das BVerfG wiederum im als Ausgangspunkt gewählten BND-Urteil deutlich hervorgehoben (Rn. 92).

Schließlich ergäben sich auch Konsequenzen hinsichtlich des Kreises der in einem grundrechtskonform ausgestalteten Aufnahmeverfahren berechtigten Anspruchsteller*innen. Bisher kommt die vermeintlich großzügige Erteilung von Aufnahmezusagen im Rahmen des Ortskräfteverfahrens nur Personen zugute, deren Beschäftigungsverhältnis nicht länger als zwei Jahre beendet ist (Antwort auf Frage 22, S. 12). Eine solche zeitliche Einschränkung hat für die hinsichtlich der Schutzpflicht allein ausschlaggebende Einschätzung der Bedrohung durch die Taliban gerade nach Abzug der internationalen Einheiten aber keine Berechtigung.

Keine große Geste, sondern grundlegende Pflicht

Selbstverständlich ist allein durch die Zuerkennung subjektiver Rechte und gerichtlich überprüfbarer Verfahren für die Situation der Ortskräfte noch wenig gewonnen (vgl. insofern die Entwicklung in Frankreich). Es kommt weiter entscheidend darauf an, dass Politik und Verwaltung in Deutschland mit allen verfügbaren Argumenten an ihre Verantwortung erinnert werden. Für die jetzt erforderliche schnelle und unbürokratische Aufnahme gefährdeter Menschen kann der Hinweis auf grundrechtliche Pflichten des deutschen Staates dabei ein Argument unter vielen sein. Der hier vorgeschlagene Blick mag dabei insofern einen Beitrag leisten, als dass die Position der afghanischen Ortskräfte nicht länger als diejenige von Bittstellern an den deutschen Staat, sondern als die von Berechtigten mit verfassungsrechtlich garantiertem Anspruch auf ein Mindestmaß an Schutz vor existenziellen Bedrohungen gesehen wird.


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