02 September 2021

Kopfgeld gegen Abtreibungen

Wie das „Heartbeat“-Gesetz in Texas trotz offensichtlicher Verfassungswidrigkeit in Kraft treten konnte

Seit dem 1. September 2021 sind Abtreibungen in Texas faktisch verboten – obwohl die Rechtsprechung des US Supreme Courts Abtreibungen vor der 24. Schwangerschaftswoche erlaubt und entgegenstehende Regelungen verfassungswidrig sind. Der US-Bundesstaat Texas hat ein Gesetz erlassen, das die Bürger:innen einspannen soll, um das Ziel eines faktischen Verbotes zu erreichen – mit einem Anreiz von $10.000, wenn sie die Durchführung von Abtreibungen zivilgerichtlich verhindern.

Texas, der Staat mit dem ohnehin schon restriktivsten Abtreibungsrecht, hat dazu im Mai dieses Jahres das sog. „heartbeat“-Gesetz (SB8) erlassen. Danach sind Abtreibungen dann verboten, wenn beim Fötus ein Herzschlag festgestellt werden kann. Dies tritt meist um die sechste Schwangerschaftswoche ein. Die meisten schwangeren Personen wissen in diesem Zeitpunkt noch nichts von der Schwangerschaft: Da Schwangerschaftswochen nach dem Tag des Eintritts der letzten Periode berechnet werden, liegt die Empfängnis erst vier Wochen, das Ausbleiben der zu erwartenden Periode erst etwa zwei Wochen zurück. Eine Unkenntnis über die Schwangerschaft im letztmöglichen Zeitpunkt für eine legale Abtreibung ist damit nicht ungewöhnlich.

Dass eine solche Regelung geltendem amerikanischen Verfassungsrecht widerspricht, ist kaum zu bestreiten. Darauf ist das Gesetz auch ausgelegt . Es ist mehr als ein Testballon, um die durch Trump hergestellte ultra-konservative Besetzung des US-Supreme Courts zu erproben.

Faszinierend und abstoßend zugleich ist die Konstruktion von SB8. Das Verbot wird nicht durch staatliche Kontrollen aufrecht erhalten, sondern involviert unbetroffene Bürger:innen. Sec. 3 von SB8 erklärt: „Any person, other than an officer or employee of a state or local governmental entity in this state, may bring a civil action against any person who (1) performs or induces an abortion (…); (2) knowingly engages in conduct that aids or abets the performance or inducement of an abortion (…).“ Das Anti-Abtreibungsgesetz wird also dadurch durchgesetzt, dass jede:r diejenigen zivilrechtlich verklagen kann, die Abtreibungen vornehmen oder der Durchführung helfen. Dabei ist „helfen“ im weitest möglichen Sinne zu verstehen: Die Organisation oder Versicherung, die Kosten übernimmt; der Rezeptionist, der die Patientin ein Datenblatt ausfüllen lässt; die Taxifahrerin, die (unwissend über die medizinischen Behandlungen ihres Gastes) jemanden zur Abtreibung fährt.

Aus mindestens zwei Gründen ist das bemerkenswert. Erstens wird die „Bürger:innenschaft zur anti-Abtreibungs-Stasi“ gemacht. Texas schafft nicht nur den Anreiz, Abtreibungen zu verhindern, sondern trifft auch noch eine Kompensationsregel. Nicht nur für jedes erfolgreiche gerichtliche Verfahren, sondern für jede angeklagte Abtreibung  werden dem:der Kläger:in $10.000 sowie Ersatz der Anwaltskosten versprochen. SB8 schützt gleichzeitig klagende Bürger:innen vor Gegenklagen, sollten ihre Behauptungen nicht stimmen. Ganz bewusst wird dadurch nicht nur die mächtige pro-life-Bewegung angesprochen, sondern eine allgemeine Kopfgeldjagd eröffnet. Alle, d.h. wirklich alle, außer texanischen Behörden, dürfen zivilrechtliche Anti-Abtreibungsverfahren anstrengen. Das wird nicht nur moralisierende Evangelisten auf den Plan rufen, sondern kann auch von nicht-texanischen Behörden genutzt werden. Die Anreize sind hoch. Die Privatisierung der Durchsetzung des Gesetzes erzeugt ein Klima von Misstrauen und Angst.

Der eigentliche Coup liegt aber im prozessualen Aufbau des Gesetzes. Die Konstruktion über eine privatrechtliche Durchsetzung der Norm greift bewusst das etablierte System der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen an. In den USA erstreckt sich die Immunität des Staates auch auf die Bundesstaaten. Unter der Doktrin der state immunity können Bundesstaaten für ihr Verhalten nicht gerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden. Erlässt also ein Bundesstaat ein verfassungswidriges Gesetz, kann er – in diesem Falle Texas – dafür nicht direkt gerichtlich angegriffen werden. Der Weg führt vielmehr seit der Entscheidung Ex Parte Young (1908) über das zur Durchsetzung verantwortliche Organ. Das ist zumeist ein Beamter, im Falle von SB8 u.a. der im Antrag erstgenannte Austin Reeve. Er ist natürlich weder Legislativorgan noch verantwortlich für das texanische Gesetz, sondern neuralgischer Angriffspunkt und Einfallstor für die gerichtliche Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit.

Genau an dieser prozessualen Besonderheit der state immunity knüpft das texanische Gesetz an. Durch die Privatisierung der Durchsetzung und den Ausschluss der Beteiligung staatlicher Stellen fehlt ein Angriffspunkt zur gerichtlichen Überprüfung. Es gibt keine staatliche Stelle, gegen die ein gerichtliches Verfahren angestrengt werden könnte, da keine staatliche Stelle die Durchsetzung des Gesetzes durchführt. Diese Taktik ist nicht neu, wurde aber noch nicht so prominent und unverfroren eingesetzt.

Und sie hat heute einen ersten Erfolg errungen. Erfolgreiche Anträge auf einstweilige Anordnungen müssen, ähnlich wie im deutschen Verfassungsrecht, in einem Abwägungsprozess u.a. aufzeigen, dass sie voraussichtlich Erfolg im Hauptsacheverfahren haben werden (likely to succeed on the merits). Allein aufgrund der prozessualen Fragen hat der US Supreme Court den Antrag auf einstweilige Anordnung mit der erwartbaren konservativen Mehrheit von 5-4 abgelehnt. Die Mehrheit beschränkt sich in ihrer äußerst kurzen Entscheidung darauf, die prozessualen Fragen aufzuzeigen, und erwähnt den Inhalt des – materiell unzweifelhaft verfassungswidrigen – Gesetzes nicht.

Demensprechend verhalten sich die Dissents von Roberts (deutlich und das erste Mal auf der Seite der liberalen Minderheit), Breyer (wütend), Kagan (mit grundsätzlicher Kritik an den unüberprüfbaren Entscheidungen des Gerichts im einstweiligen Rechtsschutz, dem sog. shadow docket) und Sotomayor(tobend). Justice Sotomayor beschreibt scharf wie selten, aber präzise wie immer, was sie von dem Mehrheitsbeschluss hält: „The Court’s order is stunning. Presented with an application to enjoin a flagrantly unconstitutional law engineered to prohibit women from exercising their constitutional rights and evade judicial scrutiny, a majority of Justices have opted to bury their heads in the sand (…) The Act is clearly unconstitutional under existing precedents (…) The Texas Legislature was well aware of this binding precedent. To circumvent it, the Legislature took the extraordinary step of enlisting private citizens to do what the State could not (…) In effect, the Texas Legislature has deputized the State’s citizens as bounty hunters, offering them cash prizes for civilly prosecuting their neighbors’ medical procedures (…) Taken together, the Act is a breathtaking act of defiance—of the Constitution, of this Court’s precedents, and of the rights of women seeking abortions throughout Texas (…) This is untenable (…) The Court should not be so content to ignore its constitutional obligations to protect not only the rights of women, but also the sanctity of its precedents and of the rule of law.”

Dem ist kaum etwas hinzuzufügen. Der perfide Effekt des Gesetzes war am Vorabend seines In-Kraft-Tretens zu beobachten: die wenigen Kliniken, die Abtreibungen vornahmen, waren voll mit Patient:innen, während Abtreibungsgegner:innen auf den Parkplätzen davor einen Countdown runterzählten. Schätzungsweise 85% der legalen Abtreibungen in Texas werden verhindert werden, bis zu 46% der Schwangeren, die eine Abtreibung wünschen, wären gezwungen die ungewollte Schwangerschaft auszutragen.

Der prozessuale Kniff kann eine Überprüfung des Gesetzes auf seine Verfassungsmäßigkeit jedoch nicht für immer ausschließen. Das Hauptsacheverfahren ist anhängig, und es ist davon auszugehen, dass die ersten zivilgerichtlichen Urteile gegen Abtreibungen (oder Abtreibungsversuche) mit verfassungsrechtlichen Argumenten angegriffen werden. Der Ausgang aber erscheint ungewiss. Die unter dem Schlagwort Roe v. Wade zusammengefasste Rechtsprechung zum Schwangerschaftsabbruch könnte sich grundlegend verändern und die schlimmsten Befürchtungen, die nach dem Tod von Justice Ruth Bader Ginsburg unter Liberalen aufkamen, wahr werden. Der erste Schritt ist den Abtreibungsgegner:innen heute gelungen.


2 Comments

  1. Gast Fri 3 Sep 2021 at 09:43 - Reply

    Gibt es rechtliche Hindernisse für Texanerinnen die Abtreibung (post Herzschlag, prä 24. Woche) in anderen US Bundesstaaten durchzuführen oder “nur” ökonomische?

    • Dominic Bair Sat 11 Sep 2021 at 16:56 - Reply

      Zur Ausräumung von Missverständnissen: Roe vs. Wäre besagt nicht, dass Abbrüche nach der 24. (ursprünglich 28.) Schwangerschaftswoche verboten sind. Sondern lediglich, dass diese ab diesem Zeitpunkt verboten werden KÖNNEN.
      Das heißt, in vielen
      (den meisten?) Bundesstaaten ist die Abtreibung bis unmittelbar vor dem Einsetzen der Wehen formell zulässig.

Leave A Comment

WRITE A COMMENT

1. We welcome your comments but you do so as our guest. Please note that we will exercise our property rights to make sure that Verfassungsblog remains a safe and attractive place for everyone. Your comment will not appear immediately but will be moderated by us. Just as with posts, we make a choice. That means not all submitted comments will be published.

2. We expect comments to be matter-of-fact, on-topic and free of sarcasm, innuendo and ad personam arguments.

3. Racist, sexist and otherwise discriminatory comments will not be published.

4. Comments under pseudonym are allowed but a valid email address is obligatory. The use of more than one pseudonym is not allowed.




Explore posts related to this:
Abortion, Texas, US Supreme Court


Other posts about this region:
USA