06 September 2021

Die List(e) mit den „kleinen sicheren Herkunftsstaaten“

Zur verfassungswidrigen Idee, unter dem Deckmantel des Unionsrechts weitere Staaten als „sicher“ einzustufen

Im aktuellen Wahlkampf spielen die Themen Flucht und Migration nur eine untergeordnete Rolle, sieht man einmal vom Afghanistan-Debakel ab. Und doch hat die Idee einer Liste mit „kleinen sicheren Herkunftsstaaten“ Eingang in das gemeinsame Wahlprogramm der CDU und CSU (Rn. 812ff.) gefunden. Anders als bei den herkömmlichen „sicheren“ Herkunftsstaaten, soll sich die Sicherheitsvermutung der dort gelisteten Staaten nur auf den unionsrechtlich determinierten Flüchtlingsschutz und subsidiären Schutz beziehen. Die Idee „kleiner Lösungen“ klingt sympathisch: sie suggeriert, dass der ganz große Wurf zwar nicht gelungen ist, man aber doch einen guten Kompromiss erzielt hat. Dies soll wohl auch bei der Idee unionsrechtlicher „kleiner sicherer Herkunftsstaaten“ mitschwingen. Tatsächlich verbirgt sich hinter dieser List(e) eine verfassungswidrige Umgehung des Zustimmungserfordernisses des Bundesrats zur Erweiterung der Liste sog. sicherer Herkunftsstaaten unter dem Deckmantel des Unionsrechts.

Das Konzept der „sicheren“ Herkunftsstaaten

Das Konzept der „sicheren“ Herkunftsstaaten in Art. 16a Abs. 3 GG stellt die (widerlegbare) Vermutung auf, dass in bestimmten Herkunftsstaaten keine asylrechtlich relevante Verfolgung stattfindet. Diese Staaten können per Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrats bedarf, als „sichere“ Herkunftsstaaten gelistet werden. In der Praxis enthält diese Liste aber nicht alle „sicheren“ Staaten weltweit, sondern Staaten, aus denen eine erhebliche Zahl von Asylsuchenden nach Deutschland kommt, um hier einen Schutzstatus zu beantragen. Dem Konzept liegt also vorrangig das Ziel zugrunde, potentielle Asylsuchende aus Staaten mit geringen Anerkennungsquoten von der Asylantragstellung abzuschrecken. Ergänzend soll ihr Verfahren, so denn doch ein Antrag gestellt wird, durch verfahrensrechtliche Besonderheiten schnellstmöglich abgeschlossen und sie, im (wahrscheinlichen) Fall der Ablehnung, abgeschoben werden. Neben den an dieser Stelle ausführlich beschriebenen verfahrensrechtlichen Folgen wirkt sich die Einstufung als „sicher“ auch erheblich auf die aufenthaltsrechtliche Stellung der Asylsuchenden aus: Sie unterliegen einer unbefristeten Wohnverpflichtung in Erstaufnahmeeinrichtungen, einem dauerhaften Erwerbstätigkeitsverbot, erhalten Sozialleistungen v.a. als Sachleistungen und sind von Integrations- und Sprachkursen ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund sind derzeit Albanien, Bosnien und Herzegowina, Ghana, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien, Senegal und Serbien als sicher eingestuft. Die Einstufung weiterer Staaten scheiterte bislang daran, dass der Bundestag zwar 2019 ein entsprechendes Gesetz verabschiedete, der Bundesrat dem Gesetz bislang aber nicht zugestimmt hat. Grund dafür sind starke Zweifel an der tatsächlichen Sicherheit der einzustufenden Staaten, insbesondere für LGBTIQ-Personen, die v.a. Bundesländer mit grüner Regierungsbeteiligung teilen. Auch das Unionsrecht kennt das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten (Art. 36, 37 Verfahrens-RL), auf die Erstellung einer EU-weiten, gemeinsamen Liste konnten sich die Mitgliedsstaaten trotz entsprechender Vorschläge der Kommission aber bislang nicht einigen.

Die Idee hinter den „kleinen sicheren Herkunftsstaaten“

Die Idee „kleiner sicherer Herkunftsstaaten“ beschreibt nicht, wie man irrigerweise annehmen könnte, die Einstufung von einwohner- oder flächenmäßig kleinen Staaten als sicher. Vielmehr geht es darum, weitere Staaten, deren Einstufung bislang an der Zustimmung des Bundesrats scheiterte, nun ohne dessen Zustimmung als „sicher“ im Sinne des Unionsrechts zu erklären. Da das Unionsrecht, anders als Art. 16a GG, keine Vorgaben zum Einstufungsverfahren macht, kann man Staaten über diese „kleine Lösung“ als „sicher“ einstufen, ohne auf den Bundesrat angewiesen zu sein – so die Behauptung –, mit der Folge, dass für diese „kleinen sicheren Herkunftsstaaten“ dann die Vermutung der Verfolgungsfreiheit bzw. der Sicherheit hinsichtlich des unionsrechtlich determinierten Flüchtlingsschutzes und subsidiären Schutzes greift. Unklar ist, wie mit der Prüfung des grundrechtlich geschützten Asylanspruchs umzugehen ist (dazu sogleich). Zu der Idee, die fehlende Mehrheit im Bundesrat zur Einstufung weiterer Herkunftsstaaten durch eine unionsrechtliche Liste zu umgehen, veröffentlichte Thym ein – man möchte sagen – Machbarkeitsgutachten in der Zeitschrift für Rechtspolitik. Thym sieht bei der rechtlichen Umsetzung zwar ein „prozessuales Restrisiko“ (S. 52), hält sie aber grosso modo für rechtmäßig und zeigt direkt verschiedene Umsetzungsmöglichkeiten auf. Derartig juristisch „geprüft und für machbar befunden“ steht die Idee nun im Wahlprogramm der CDU. Es lohnt sich daher zu rekapitulieren, was die Einstufung von (weiteren) Staaten als sicher bezweckt und diese Zwecke unter die (verfassungsrechtliche) Lupe zu nehmen.

Das Ziel der Verfahrensbeschleunigung wird nicht erreicht

Die Einstufung von Staaten als „sicher“ soll zum einen der Beschleunigung der Asylverfahren dienen, indem spezielle beschleunigte Verfahren durchgeführt werden können und verkürzte Rechtsmittelfristen Anwendung finden. Nach den neuesten verfügbaren Zahlen dauerte das behördliche Asylverfahren im 1. Quartal 2021 allerdings im Schnitt 6,5 Monate, während die durchschnittliche Verfahrensdauer für Personen aus „sicheren“ Herkunftsstaaten im Durchschnitt 5,4 Monate betrug und damit nur rund einen Monat kürzer als der Gesamtdurchschnitt war (S. 5). Die Bundesregierung selbst hat eine Vielzahl von Gründen ausgemacht, an denen die beschleunigte Bearbeitung eines Asylverfahrens scheitern kann (S. 22). Ohnehin ist für die vorliegende Idee der „kleinen sicheren Herkunftsstaaten“ zu beachten, dass eine Verfahrensbeschleunigung nur dann denkbar wäre, wenn es dabei nicht zu einer Spaltung der Schutzprüfung in ein unionsrechtliches und ein nationales Verfahren käme.

Zum Verhältnis von Art. 16a GG und unionsrechtlichem Anwendungsvorrang

Eine solche Verfahrensspaltung könnte sich daraus ergeben, dass sich die Vermutungswirkung einer unionsrechtlich determinierten „kleinen Liste“ nur auf den Flüchtlingsschutz und subsidiären Schutz erstreckte, das deutsche Grundrecht auf Asyl aber nicht erfasst wäre und daher ausführlich geprüft werden müsste. Thym argumentiert, dass eine derartige Verfahrensspaltung die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts (effet utile) untergrübe, weshalb das Unionsrecht in diesem Fall die parallele nationale Regelung des Art. 16a GG nicht dulde (S. 54). Dieser werde daher durch den unionsrechtlichen Anwendungsvorrang überlagert und bleibe unangewandt. Es handle sich um die „praktische Einsicht vom Bedeutungsverlust des Art. 16a GG“. Diese Argumentation läuft jedoch fehl.

Falsch ist zunächst die Annahme, dass Art 16a GG neben dem unionsrechtlichen Schutzstatus aufgrund der Gleichheit der gewährten Rechte keinerlei Bedeutung mehr hätte. Art. 16a GG vermittelt zunächst einmal einen verfassungsrechtlich einklagbaren subjektiven Anspruch. Auch formell wurde bislang kein einheitlicher Status geschaffen (s. § 31 Abs. 2 AsylG). Während der unionsrechtliche Flüchtlingsstatus einen materiellen Mindeststandard definiert, kann auf nationalstaatlicher Ebene Raum für einen höheren Schutzstandard bestehen [1]  ̶  soweit dies nicht die Wirksamkeit des Unionsrecht untergräbt (dazu sogleich). Dieser Schutzstandard zeigt sich verfahrensrechtlich etwa darin, dass die Sicherheitsvermutung nach Art. 16a Abs. 3 GG der prozessual hohen Anforderung eines Zustimmungsgesetzes bedarf. Auf dieses Verfahrenserfordernis weist auch das BVerfG in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der sicheren Herkunftsstaatenregelung hin (Rn. 141).

Unzutreffend ist auch, dass das Unionsrecht die Existenz des deutschen Asylgrundrechts nicht dulde, weil es mit dem unionsrechtlichen Flüchtlingsschutz verwechselbar sei. Der EuGH stellte 2010 zwar in einem Urteil fest, dass es gegen Unionsrecht verstößt, wenn nationale Rechtsvorschriften „von der Flüchtlingsanerkennung im Sinne der Richtlinie ausgeschlossenen Personen ein Asylrecht gewähren“ (Rn. 120) und diese nationalen Vorschriften zugleich nicht klar vom Schutzstatus gemäß der Richtlinie unterscheidbar seien. In diesem Fall löste also die klare Kollision einer unionsrechtlichen (Ausschluss-) Regelung mit einer nationalen Regelung den Anwendungsvorrang des Unionsrechts aus. Hier liegt der Fall jedoch anders. Das Unionsrecht macht zwar in Anhang I zur Verfahrens-RL materielle Vorgaben, welche Voraussetzungen ein Staat zu erfüllen hat, um als „sicher“ eingestuft zu werden. Diese Vorgaben finden auch Anwendung auf die Einstufung von sog. sicheren Herkunftsstaaten in Deutschland. Prozessuale Vorgaben zur Einstufung von Staaten als sicher macht die Verfahrens-RL aber nicht. Vielmehr sieht Art. 36 Abs. 2 Verfahrens-RL ausdrücklich vor, dass „die Mitgliedstaaten […] in den nationalen Rechtsvorschriften weitere Regeln und Modalitäten für die Anwendung des Konzepts des sicheren Herkunftsstaat fest[legen].“ Zu einer anwendungsvorrangauslösenden direkten Kollision mit etwaigem Unionsrecht kommt es daher nicht. Soweit man argumentieren wollte, dass eine indirekte Kollision in Betracht käme, indem das nationale (Verfahrens-) Recht (hier: das verfassungsrechtliche Zustimmungserfordernis des Bundesrats) die wirksame Anwendung des Unionsrechts (hier: das unionsrechtliche Konzept sicherer Herkunftsstaaten) verhindere, verfängt auch dieses Argument nicht. So existiert das Konzept sicherer Herkunftsstaaten in einem überwiegenden Teil der Mitgliedstaaten überhaupt nicht. Im Sinne eines erst-recht-Schlusses kann das deutsche Einstufungsverfahren daher nicht den effet utile-Grundsatz verletzen. Anders stünde es, wenn auf EU-Ebene eine gemeinsame Liste mit sicheren Herkunftsstaaten aller Mitgliedsstaaten beschlossen würde und eine Umsetzung dieser Liste in Deutschland am Zustimmungserfordernis scheitern würde. Eine solche gemeinsame Liste existiert aber bislang nicht (s.o.). Dennoch mit dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts zu argumentieren, der durch die Schaffung einer vermeintlich „unionsrechtlichen“ Liste auf nationaler Ebene ausgelöst werden soll, ohne dass das Unionsrecht ein bestimmtes Verfahren für eine derartige Liste regelt, ist abwegig. Eine derartige „kreative Gesetzgebung“ (S. 55) versucht in der Tat die verfassungsrechtliche Verfahrensvorgabe des Art. 16a Abs. 3 GG zu umgehen. Im Ergebnis scheint dies auch CDU und CSU bewusst zu sein, die zur geplanten Einführung „kleiner sicherer Herkunftsstaaten“ in ihrem Wahlprogramm ergänzen: „Davon unberührt bleibt die im Grundgesetz garantierte Prüfung auf Asyl nach Art. 16 a“ (Rn. 825f.). Damit kann die Regelung einzig die Abschreckung von Asylsuchenden aus den Herkunftsstaaten einer „kleinen Liste“ bezwecken.

Das Ziel der Abschreckung potentieller Asylsuchender

Indem Asylsuchenden aus sog. sicheren Herkunftsstaaten im Asylverfahren die Beweislast für die Verfolgung auferlegt wird und zusätzlich ihre aufenthaltsrechtliche Stellung während des Verfahrens stark eingeschränkt wird, sollen sie davon abgeschreckt werden „missbräuchlich“, also aus asylfremden Gründen, einen Asylantrag zu stellen.  Dies gilt für die bereits als „sicher“ erklärten Staaten und ist auch Zweck einer etwaigen Liste „kleiner sicherer Herkunftsstaaten“. Die aufenthaltsrechtlichen Einschränkungen müssten, um verfassungsgemäß zu sein, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen, also zunächst einen legitimen Zweck verfolgen und dieser zur Abschreckung geeignet sein. Während etwa aufenthaltsrechtliche Einschränkungen aufgrund von Mitwirkungspflichtverletzungen auf die (erneute) Mitwirkung am Asylverfahren abzielen, handelt es sich bei der Abschreckung potentieller Asylsuchender um eine generalpräventive Zielsetzung. Wie Werdermann überzeugend ausführt, könnte das Ziel, Asylsuchende vom grundrechtlich geschützten Recht einer Asylantragstellung abzuhalten, nur dann legitim sein, wenn die Asylantragstellung von Personen aus sog. sicheren Herkunftsstaaten pauschal ein rechtsmissbräuchliches Verhalten darstellt. Dass dies nicht der Fall ist, zeigt bereits, dass eine – wenn auch geringe – Zahl dieser Anträge begründet ist. Daher stellt auch das Grundgesetz für die Sicherheit dieser Staaten lediglich eine widerlegbare Vermutungswirkung auf, anstatt deren Staatsangehörige völlig vom Verfahren auszuschließen. Darüber hinaus stehen die Einschränkungen sozio-ökonomischer Rechte während des Asylverfahrens in keinem kausalen Zusammenhang zur Anerkennungsquote und sind daher sachwidrig, wie Janda zutreffend festgestellt hat (S. 254).

Doch selbst wenn man die aufenthaltsrechtlichen Einschränkungen zu Abschreckungszwecken als legitim beurteilte, vermögen sie kaum eine abschreckende Wirkung auszuüben. So ist Janda darin zuzustimmen, dass es mehr als zweifelhaft ist, ob die aufenthaltsrechtliche Stellung während des Asylverfahrens für Menschen tatsächlich so attraktiv ist, dass sie zu einer missbräuchlichen Asylantragstellung allein aus wirtschaftlichen Motiven führt (S. 253). Die Theorie der Existenz derartiger „Pull-Faktoren“ hält sich in der Rechtswissenschaft zwar hartnäckig, darf jedoch mit guten Gründen bezweifelt werden und gilt in der Sozialwissenschaft schon seit geraumer Zeit als überholt. Nicht zuletzt müsste eine funktionierende Verteilung von Asylsuchenden innerhalb der EU aufgrund der Dublin-III-VO ohnehin verhindern, dass nationale Teilhaberegelungen „Fehlanreize“ setzen können.

Fazit

Eine Liste „kleiner sicherer Herkunftsstaaten“ würde weder der Abschreckung missbräuchlicher Asylantragstellungen dienen noch wäre eine solche Zielsetzung mit dem Grundgesetz vereinbar. Da die Umgehung der Prüfung des asylrechtlichen Schutzes nach Art. 16a GG durch eine Liste „kleiner sicherer Herkunftsstaaten“ verfassungswidrig wäre, kann dadurch auch keine Verfahrensbeschleunigung erreicht werden. Weitere Staaten als „sicher“ benennen zu wollen, indem man dafür das Unionsrecht vorschiebt, ist somit keine „kreative Gesetzgebung“, sondern populistische Augenwischerei mitten im Wahlkampf.

[1] V. Arnauld/Martini, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, 7. Aufl. 2021, Art. 16a Rn 14; Will, in: Sachs, Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 16a 1d.

Ich danke Johanna du Maire und Pauline Endres de Oliveira für die wertvollen Hinweise und den bereichernden Austausch zu diesem Beitrag.


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