Ein paar Gedanken zum New-School-Antisemitismus
Was Old-School-Antisemitismus ist, davon haben wir alle eine ziemlich genaue Vorstellung. Weltverschwörung und Hostienschändung, Stürmer-Karikaturen von krummnasigen Börsenjuden: damit wollen wir natürlich alle nichts zu tun haben. Das ist was für Skinheads und SS-Veteranen. Aber wir doch nicht! Wir verabscheuen doch die Nazis aus tiefster Seele. Gerade weil das unsere Großväter waren. Wir wissen doch Bescheid. Uns passiert das doch nicht noch einmal.
Aber dann ergibt es sich, dass uns Juden Anlass geben, uns über sie aufzuregen. Dann ist vielleicht was los. Dann brechen alle Dämme. Wer weiß, vielleicht sind am Ende gar nicht wir die Bösen? Haben da nicht die angeblichen Opfer auch, oder sogar: viel mehr Dreck am Stecken? Da wird uns gleich ganz pudelwohl bei dem Gedanken. Die Gelegenheit lassen wir uns nicht entgehen.
Das ist der New-School-Antisemitismus. Und von dem sind wir, Hand aufs Herz, alle nicht völlig frei.
Der Fall Augstein hat die alte Debatte, wo die Kritik an der israelischen Regierungspolitik aufhört und der Antisemitismus anfängt, wieder mächtig hochkochen lassen in den letzten Tagen. In der Süddeutschen (noch nicht online) setzt sich heute Andrian Kreye mit der Antisemitenhitparade des Simon-Wiesenthal-Centers und anderen Versuchen auseinander, Antisemitismus mehr oder minder objektiv und kriteriengestützt zu definieren. Am Ende kommt er zu dem (nicht weiter ausgeführten) Schluss, bei Ressentiments und Vorurteilen gehe es
weniger darum, wie man sie definiert, als darum, wie sie empfunden werden.
Daran ist sicher richtig, dass man mit objektiven Kriterien das Dilemma in Zweifelfällen kaum gelöst bekommt. Ich würde das Argument nur umdrehen: Ob eine Äußerung antisemitisch ist oder nicht, liegt nicht im Ohr des Adressaten, sondern in der Motivation des Äußerenden.
Das macht die Sache schwierig: Aus welchen Motiven jemand etwas sagt, ist erstens von außen schwer zu bestimmen und noch schwerer zu beweisen und zweitens dem Äußernden selber nicht unbedingt bewusst.
Aber gerade unbewusste Motive haben so eine Art, sich auf geradezu geisterhafte Weise Sichtbarkeit zu verschaffen in der Wortwahl dessen, der sich äußert. Ich bin gestern auf einen Text gestoßen, dem man sich eigentlich nicht ohne Nasenklammer nähern sollte, der das aber sehr schön exemplifiziert. Der Autor (the less said about him, the better) regt sich maßlos über Henryk M. Broders Attacken gegen Augstein auf, und zwar mit folgenden Worten:
Was Broder mit Augstein versucht, hat sich Broder direkt bei den Nazis abgeschaut. (…) Wer sich so äußert, jenseits von Fakten, der will nur noch vernichten. Und Henryk M. Broder ist fest entschlossen, Jakob Augstein zu vernichten. Diese Zitate haben eine Art Endkampf-Charakter – Broder ist der Aggressor und Augstein das Opfer, der in den verrückten Augen von Broder ein Täter ist (…)
Da brauche ich nichts weiter zu sagen, oder?
Was Augstein selbst betrifft, so will und kann ich mich über seine Motive nicht äußern. Die Zitate jedenfalls, auf die das Simon-Wiesenthal-Center seinen Antisemitismusvorwurf stützt, geben keine derartigen Zaunpfahl-Winke her. (Das wäre ja auch noch schöner.)
Vielleicht aber kommt es aber gar nicht so sehr darauf an. Eigentlich ist es doch so: Die Versuchung, uns durch Umkehrung des Täter-Opfer-Schemas Erleichterung zu verschaffen, verspüren wir doch irgendwie alle. Man muss sich doch nur mal klar machen, wie viel Zeit man mit Händeringen über Netanjahu verbringt und wie wenig mit, sagen wir mal, Haareraufen über Pakistan.
Den Unterschied macht nicht das Haben oder Nichthaben dieser Motive, sondern der Umgang damit. Und umgehen kann man erst damit, wenn man sich überhaupt bewusst geworden ist, dass man sie hat. Das ist wie bei den Anonymen Alkoholikern: Wer darauf beharrt, kein Alkoholproblem zu haben, wird es nie los.
Insoweit scheint mir die Situation in Deutschland noch ganz passabel. In der deutschen Politik und Medienöffentlichkeit ist das Bewusstsein darüber, was es mit dem New-School-Antisemitismus auf sich hat, ziemlich weit verbreitet. Wer das für selbstverständlich hält, sollte sich mal mit Österreichern unterhalten (von Ungarn ganz zu schweigen).
Deshalb fliegt bei uns ein CDU-Abgeordneter aus der Fraktion, wenn er von den Juden als “Tätervolk” faselt. Deshalb stürzen wir unseren Nationalnobelpreisträger Günter Grass vom Podest, wenn er Israel den Willen zum atomaren Holocaust an den Leib dichtet. Deshalb ist sich die politischen Elite – in scharfem Kontrast zur breiten Bevölkerung – fast geschlossen einig darin, dass die Beschneidung nicht kriminalisiert werden darf.
Aber ich will hier keine Selbstzufriedenheit verbreiten. Dass dazu kein Anlass besteht, zeigt ein Blick in die Kommentarspalte unter jedem einzelnen der Artikel auf diesem Blog, die das Beschneidungsthema behandeln…
Soll ich die letzten Sätze so verstehen, dass Gegner der Beschneidung von Nicht-Einwilligungsfähigen Newschool-Antisemiten sind? :) Oder ist diese Kritik nur auf diejenigen beschränkt, die “Endkampf”-Rhethorik benutzen? Aber da treffen sich scheinbar auch zwei verschiedene Wahrnemungswelten. Ich hab mehr Irrationalität und Nazi-Beschimpfungen auf der Seite der Beschneidungsbefürworter als Antisemitismus auf Seiten der Gegner gesehen. Und dass Israels Regierung nicht friedlich ist, hat nichts damit zu tun, dass dort große Teile der Bevölkerung dem Judentum angehören. Ähnlich wie Italiens Hang zur Wahl von Berlusconi (=> Martin Schulz sei optimal geeignet für die Rolle des “KZ-Wächters”, man erinnert sich) nichts mit dem hohen Anteil an Katholiken in der Bevölkerung zu tun hat. Dennoch sind beide Regierungen widerlich.
Das Israels Regierung nicht friedlich ist mag vielleicht nichts damit zu tun haben, dass die Mehrheit der israelischen Bevölkerung jüdisch ist. Dass wir uns mehr Zeit mit der israelischen Regierung in der Öffentlichkeit auseinandersetzen als mit der syrischen (allein in diesem Jahr brachte der Konflikt dort mehr Todesopfer als im Israel-Palästina Konflikt in den gesamten letzten 20 Jahren), könnte durchaus etwas damit zu tun haben, dass eine Mehrheit der israelischen Bevölkerung jüdisch ist.
Herr Steinbeis: Was für ein undifferenzierter Kommentar zur Beschneidung. Lesen Sie mal, was Prof. Dr. Holm Putzke dazu gestern in einem Interview gesagt hat, dann bekommen Sie vielleicht eine Vorstellung davon, von welche intellektuelle Differenziertheit (und Redlichkeit) ich meine: http://hpd.de/node/14709
@Shirin: Ich behaupte nicht, dass alle Argumente gegen Beschneidung antisemitisch motiviert sind. Aber ich behaupte, dass die jubelnde Begeisterung, mit der sich so viele Leute auf dieses Thema stürzen, nicht anders als durch New-School-Antisemitismus erklärbar ist. Im Übrigen: Verschafft mir Ihr Link auf das Putzke Interview eine Vorstellung von intellektueller Differenziertheit und Redlichkeit? Nö. Kann ich eigentlich nicht sagen.
Zitat Putzke: “Zweitens bestand die Projektgruppe der AAP selber aus zahlreichen Beschneidungsbefürwortern, die teilweise sogar ihre eigenen Kinder hatten beschneiden lassen.”
– Ist ja irre! Solche Leute? Scheiß die Wand an! Dabei sollte doch klar sein, dass – ganz nach dem Vorbild der deutschen Debatte – eigentlich nur Menschen ohne beschnittene Kinder über diesen Brauch reden sollten.
Ich mag den Vergleich: “Das ist wie bei den Anonymen Alkoholikern: Wer darauf beharrt, kein Alkoholproblem zu haben, wird es nie los.”
Das Gundproblem dabei ist das gleiche wie bei einem Menschen unter Terrorverdacht: Je unauffälliger er sich verhält, desto verdächtiger macht er sich. Oder eben beim Alkoholismus: Wer das Problem zugibt, hat eines. Wer es abstreitet, ebenfalls.
@ schorsch
Zitat Putzke: “Zweitens bestand die Projektgruppe der AAP selber aus zahlreichen Beschneidungsbefürwortern, die teilweise sogar ihre eigenen Kinder hatten beschneiden lassen.”
– Ist ja irre! Solche Leute? Scheiß die Wand an! Dabei sollte doch klar sein, dass – ganz nach dem Vorbild der deutschen Debatte – eigentlich nur Menschen ohne beschnittene Kinder über diesen Brauch reden sollten.
Einer der Autoren des AAP-Reports hat seinen eigenen Sohn auf dem Küchentisch (!) beschnitten:
Do you have a son and, if so, did you have him circumcised?
Yes, I do. I circumcised him myself on my parents’ kitchen table on the eighth day of his life. But I did it for religious, not medical reasons. I did it because I had 3,000 years of ancestors looking over my shoulder.
http://www.thejewishweek.com/features/new-york-minute/fleshing-out-change-circumcision
Würden Sie wissenschaftliche Expertisen zur weiblichen Beschneidung von Leuten akzeptieren, die die Klitorisvorhaut ihrer Tochter amputiert haben?
Herr Steinbeis: Der Gedanke, dass die “jubelnde Begeisterung” (eine ekelhafte, verhetzerische Metapher) auch etwas mit der Sache selbst zu tun haben könnte, der ist Ihnen wohl noch nie gekommen? Bis vor kurzem herrschte überall, so auch in der Medizin eine Verharmlosung der Vorhautbeschneidung vor. Unter anderem wurde behauptet, dass Säuglinge weniger Schmerzen empfinden als ältere Kinder und Erwachsene. Allerdings hat sich in den letzten Jahrzehnten herausgestellt, dass sie tatsächlich sogar mehr Schmerzen empfinden und das, teils lang anhaltende, Traumatisierungen eher die Regel als die Ausnahme sind. Selbstverständlich erfordert das eine Neubewertung. Und selbstverständlich ist ein großer Teil der Bevölkerung erst anlässlich des Kölner Urteils auf diese neuen Erkenntnisse aufmerksam geworden.
Meine eigene erste Reaktion war vergleichbar mit der von Frau Merkel. Dann habe ich mich sicherheitshalber noch etwas genauer informiert und musste leider feststellen: Beschneidung ist leider keine Bagatell-Körperverletzung sondern kann erhebliche irreversible Nachteile bewirken. Bei Säuglingen stellt sie zudem in der Regel objektiv Folter dar. Ich bin überhaupt nicht glücklich über diese Erkenntnis. Das erlaubt es mir aber nicht, davor die Augen zu verschließen.
Es ist in jedem Fall faszinierend, wie Sie das ernste Thema Antisemitismus als Aufhänger für einen billigen unsachlichen Angriff auf die Gegner der Zwangsbeschneidung verwenden. Aber wahrscheinlich habe ich mich für so eine Äußerung qualifiziert, denn bekanntlich ist ja jeder, der die Verharmlosung von männlicher Genitalverstümmelung nicht mitmacht, genauso automatisch ein Antisemit, wie jeder, der nicht zu 100% auf der jeweils aktuellen Linie der israelischen Regierung (oder rechts davon) steht und natürlich ganz besonders jeder, der zu behaupten wagt, es gäbe einzelne, die Antisemitismus bagatellisieren, indem sie das Wort zur Durchsetzung kurzsichtiger politischer Ziele inflationär anwenden.
@ Maximilian Steinbeis
“Aber ich behaupte, dass die jubelnde Begeisterung, mit der sich so viele Leute auf dieses Thema stürzen, nicht anders als durch New-School-Antisemitismus erklärbar ist.”
Sie haben ja auch nicht den Versuch unternommen, eine alternative Erklärung zu finden.
Und mit Ihrem Ansatz können Sie auch nicht erklären, wieso im Sommer 45 % der deutschen Bevölkerung für ein Verbot der Zwangsbeschneidung von Knaben und 42 % dagegen waren, während jetzt 70 % sich gegen das verabschiedete Gesetz aussprechen und nur 24 % dafür.
Offensichtlich kann nicht innerhalb von wenigen Monaten der von Ihnen postulierte “New-School-Antisemitismus” so gigantische Ausmaße angenommen haben. Eine weitaus plausiblere Erklärung ist, daß die Menschen gespürt haben, daß Politik, Medien und religiöse Lobbygruppen sie mit Unwahrheiten überschütten (die beiden Beiträge von Prof. Andrea Gotzmann auf Ihrem Blog waren eine rühmliche Ausnahme). Jeder konnte sich im Web 2.0 oder durch persönliche Bekanntschaft mit Moslems und Juden darüber informieren, daß islamisches und jüdisches Leben keineswegs von der Amputation der kindlichen Vorhaut abhängt.
Vielen Dank für die Analyse, Herr Steinbeis!
Im Endeffekt geht es bei der Beurteilung, ob eine Kritik zulässig ist oder nur beleidigen soll um die Verhältnismäßigkeit.
Hinterfrage ich einen Brauch oder stelle ich die Praktiziereden als Monster dar?
Kritisiere ich eine komplexe Regierungspolitik oder hänge ihr ohne besseres Wissen Verbrechen gegen die Menschlichkeit an?
Seit Jahrtausenden werden Juden global angefeindet oder gar ausgelöscht. Und das soll sich so schnell geändert haben? Keine Antisemiten mehr?
@ Maximilian Steinbeis: “Aber ich behaupte, dass die jubelnde Begeisterung, mit der sich so viele Leute auf dieses Thema stürzen, nicht anders als durch New-School-Antisemitismus erklärbar ist.”
Natürlich kann diese ” jubelnde Begeisterung” anders erklärt werden.
1. Sexuelle Folgen: Eine Beschneidung hat schon rein anatomisch massive Auswirkungen auf die Sexualität. Selbst eine völlig komplikationslose Beschneidung beeinträchtigt die Sexualität für den Rest des Lebens ganz erheblich. Das ist keine Bagatelle, Viele Beschnittene wollen die Nachteile zwar nicht wahr haben – Aber sie sind trotzdem da. (Ich bin übrigens selbst beschnitten, und auch ich habe mich lange dagegen gesträubt, mir die einzugestehen.)
Neben den anatomischen Schäden gibt es dann auch noch psychische Folgen, wenn einem eine solche Operation aufgezwungen wird. Bei Kindern ist das meist der Fall. Und bei Kleinkindern ist es sogar regelmäßig der Fall. Auch das wollen die Betroffenen selbst häufig nicht wahrhaben. Aber auch das ist trotzdem so.
Bei einer Beschneidung drohen Kindern massive Störungen in ihrer sexuellen Entwicklung. Eine Genitalbeschneidung kann für den Rest des Lebens zu schweren Beeinträchtigungen der Sexualität führen. Ja, auch bei Jungen.
Von meiner Seite aus geht es hier tatsächlich in allererster Linie um genau diesen Punkt. Mir geht es um den Schutz der sexuellen Integrität dieser Kinder – Alles andere sind Randnotizen. Und ich glaube, das ist bei den meisten Beschneidungsgegnern ähnlich.
Wer nun die sexuellen Auswirkungen von Beschneidungen ignoriert, der kann diese Motivation der Beschneidungsgegner natürlich nicht verstehen. Insofern ist es nachvollziehbar, dass aus Sicht dieser Leute dann nur Dinge wie Antisemitismus oder Religionsfeindlichkeit als denkbare Motivationen der Beschneidungsgegner übrig bleiben. Allerdings werden derlei Vorwürfe auch durch ständiges Wiederholen nicht richtiger.
2. Es gibt übrigens noch einen zweiten Grund dafür, dass es von Seiten vieler Beschneidungsgegner sprachlich heiß her geht: Nämlich die Ignoranz der Gegenseite. Viele Beschneidungsbefürworter ignorieren die sexuellen Auswirkungen von Beschneidungen einfach komplett. Andere verniedlichen die sexuellen Folgen. Oder sie stellen diejenigen Betroffenen, die darüber klagen, als Spinner hin, als Mimosen oder als tragische Einzelfälle.
Mir ist praktisch kein Beschneidungsbefürworter bekannt, der sich ernsthaft mit den sexuellen Auswirkungen von Beschneidungen auseinandergesetzt hätte. Mal werden diese Schäden kleingeredet oder geleugnet (nicht etwa widerlegt!), mal werden sie totgeschwiegen. Oft wirkt es so, als wollten praktisch alle Beschneidungsbefürworter eine Diskussion um diesen Punkt um jeden Preis vermeiden.
Diese Weigerung, sich mit den sexuellen Auswirkungen einer Beschneidung auseinanderzusetzen, ist sehr frustrierend. Und genau diese Frustration merkt man Beschneidungsgegnern oft auch an.
Steinbeis, schorsch: Danke.
Beschneidungsgegner weisen in der Regel weit von sich, antisemitisch zu sein. Das hat etwas von: wasch mich, aber mach mich nicht nass. Bei der Beschneidung handelt es sich um ein zentrales Element jüdischer Religion: fromme Juden können nach ihren Glaubensüberzeugungen gar nicht anders, als sie an ihren Jungen durchführen zu lassen, denn sonst können sie nicht dazugehören. Wer also fromme Juden zwingen möchte, das Beschneiden einzustellen, nimmt ihnen dadurch aus ihrer Sicht die Möglichkeit, ihre Jungen zu Juden zu “machen”. Aus “Hört mit dem Beschneiden auf!” wird so: “Hört auf, Juden zu sein!” Da kann man sich auf den Kopf stellen: ein solches Ansinnen ist objektiv antisemitisch. Wer Beschneider und Eltern, die beschneiden lassen, bestrafen will, will damit gleichzeitig Juden bestrafen. Vor Gericht wird man auch nicht mit dem Einwand gehört, dass man zwar gewusst habe, was zwingende Folge des eigenen Handelns sein würde, nichtsdestotrotz habe man diese Folge nicht gewollt. Wer eine Folge wissentlich herbeiführt, handelt vorsätzlich. Mir ist schleierhaft, wie Beschneidungsgegner dies nicht erkennen können wollen.
@HD: Ist zwar blöd, dass man nach dem das Thema jetzt durch den Gesetzgeber beendet ist, die Debatte weiterläuft, aber der Autor hat es sich in diesem Fall ja selbst zuzuschreiben :P
Also, nein, wirklich nicht. Niemand sagt “hört mit der Beschneidung auf”, es geht lediglich darum, diese nicht an einem Kind durchzuführen, dass von der Einwilligungsfähigkeit weiter entfernt ist als die Erde von Alpha Centauri. Ergo wäre es angemessen, zu warten bis das Kind 12/14 ist und selbst entscheiden kann OB es überhaupt der Religion angehören möchte. Die Eltern haben nämlich nicht das Recht dauerhaft das Kind zu einem Juden/Christen/Muslimen zu machen. Die Entscheidung darüber trifft jedes Individuum selbst. Die Minderheit im Bundestag und auch viele Beschneidungsgegner wollten also das ganze lediglich zeitlich verschieben. Und es nicht ganz unmöglich machen. Nun ist das Problem bei den Regeln des Judentums freilich, dass die Beschneidung hier innerhalb kurzer Zeit nach der Geburt erfolgen muss. Das allein ist der Punkt der hätte “aufgegeben” werden müssen. Und zu der Materie ist inzwischen alles gesagt. Es macht das Leben der jüdischen Mitbürger nicht unmöglich, nur weil sie ihre Kinder erst später “zu Juden machen” (wie sie sagen). Es ist mithin kein Antisemitismus (was sowieso lächerlich ist, weil es die Muslime ja auch betrifft). Aber wir drehen uns im Kreis. Aus der Sicht der Befürworter sind die Gegner anscheinend alle Antisemiten und der Gesetzgeber hat den Fall erledigt.
Ich teile ihre Meinung nicht und finde diese Diskussionsweise ziemlich abstoßend. Aber das ist offensichtlich auch eine Spaltung zwischen zwei Gruppen, wie der Autor ja sehr gut darlegt. Ob es um die Regierung Netanjahu, Grass, Augstein oder Beschneidung geht. Die eine Seite liegt immer richtig und ist gegen jede Kritik immun und die andere sind stets Antisemiten. Gibt es Antisemiten unter den Beschneidungsgegnern oder Kritikern der Regierung Israel? Ja. Genauso gibt es Antiamerikanisten unter den Kritikern der Regierung Bush und Gegnern von McDonalds. Das heißt nicht, dass die Gruppen vollidentisch sind und das zu unterstellen, macht jede konstruktive Debatte kaputt.
@Max Steinbeis
»Ob eine Äußerung antisemitisch ist oder nicht, liegt nicht im Ohr des Adressaten, sondern in der Motivation des Äußerenden.
Das macht die Sache schwierig […] «
In der Tat. Vor allem, wenn die Äußerung selbst nichts Eindeutiges hergibt. Aber:
»Aber gerade unbewusste Motive haben so eine Art, sich auf geradezu geisterhafte Weise Sichtbarkeit zu verschaffen in der Wortwahl dessen, der sich äußert.«
Oh ja! Offenbar verfügen wir da über so etwas wie eine Bibliothek, eine Art „Wörterbuch des Antisemiten“, aus dem sich Antisemiten unbewusst oder versehentlich bedienen, etwas, was dem Nicht-Antisemiten schlicht nicht passiert.
»Da brauche ich nichts weiter zu sagen, oder?«
Nein, die Sache ist klar. Mindestens zwei Wörter in der zitierten Passage dürften, auch wegen des textlichen Zusammenhangs, diesem imaginierten Wörterbuch entstammen. Damit hat sich der Verfasser des Textes als Antisemit unfreiwillig geoutet.
»Aber ich will hier keine Selbstzufriedenheit verbreiten. Dass dazu kein Anlass besteht, zeigt ein Blick in die Kommentarspalte unter jedem einzelnen der Artikel auf diesem Blog, die das Beschneidungsthema behandeln…«
Die Blog-Artikel selbst nicht zu vergessen.
Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der ethisch-moralischen Dimension der rituellen Beschneidungspraxis hat ja nur vereinzelt stattgefunden. Aber gut, dies hier ist ein juristischer Blog.
Was mich aber besonders verwundert hat, gerade auch mit Blick auf die Verteidiger der rituellen Knabenbeschneidung, ist folgendes: Anstatt das Judentum und den Islam als zwei von vielen hierzulande vorkommenden Religionen zu betrachten, oder eben Menschen jüdischen oder muslimischen Glaubens schlicht als Staatsbürger, spielen auf einmal wieder Abstammung, Herkunft und Ethnie die zentrale Rolle. Wie kommt’s?
»Aber gerade unbewusste Motive haben so eine Art, sich auf geradezu geisterhafte Weise Sichtbarkeit zu verschaffen[…]«
Wie wahr, wie wahr.
(Viel Spaß beim Aufspüren meiner unbewussten Motive… ;-) )
Die Tatsache, dass sich die meisten Kommentatoren auf das in diesem Kontext nebensächliche Beschneidungsthema stürzen, ist der beste Beweis für die Richtigkeit des Textes. Kaum zu glauben, wer hier plötzlich alles sein Herz für Knabenvorhäute entdeckt.
Wer sich die Sache mal vor Augen führen will, zähle einfach mal in zwei, drei beliebigen nachrichtenbezogenen deutschen Internetforen die durchschnittliche Zahl der Userkommentare durch: Jeder Thread, der sich dafür anbietet, Juden/Israel/die israelische Regierung zu kritisieren, selbstverständlich aus edlen Motiven (Frieden/Palästinenser/Vorhäute), hat, gemessen am Durchschnitt, astronomische Kommentarzahlen, in deren Nähe kein anderes außen- bzw. gesellschaftspolitisches Thema kommt. Hat jemand dafür eine andere Erklärung hat als New-School-Antisemitismus?
PS, JFTR: Ich bin ein männlicher nichtjüdischer deutscher Mensch, der im Kleinkindalter aus medizinischen Gründen beschnitten wurde. Ich kann nicht behaupten, dass mir das geschadet hätte.
IANAL: Korrekt.
Zitat aus “Jetzt endlich haben wir sie!” von Rudolf Taschner, erschienen am 27.07.2012: http://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/1271362/Jetzt-endlich-haben-wir-sie
Und wie steht es mit den derzeit 70 Prozent der Deutschen, die laut einer von einem Antibeschneidungsverein bestellten Umfrage nicht-therapeutische Beschneidungen ablehnen — sind auch sie Antisemiten?
Nein. Die 70 Prozent sind eine Momentaufnahme auf dem Höhepunkt der internetgeschürten Hetzkampagne und Hysterie. Das wird im Lauf der nächsten Monate nach und nach abflauen. Schon heute wäre das passende Bild für die Tiefe des Engagements der 70 Prozent ein Foto des Plattensees in Ungarn — riesengroß ausgedehnt aber fast überall flach, man könnte mit den Füßen den Grund berühren und den Kopf über Wasser haben.
Zwar schade, dass sich so wenige Deutsche gegen die Hetze als immun erweisen, andererseits ist die Infektion meistens nicht gravierend und verschwindet auch irgendwann.
Und der Herr J.A.? Einfach mal auf der Achse des Guten die auf diverse Artikel verstreuten Zitate aus dessen Schriften durchblättern.
Die Schlussfolgerung daraus muss jeder für sich selbst ziehen.
@S.: Gut getroffen.
Im Übrigen bin ich aus einer allgemein religionskritischen Grundhaltung heraus alles andere als ein Freund von frühkindlichen Initiationsritualen. Ich bin aber auch der Ansicht, dass der deutsche Gesetzgeber der schlechteste denkbare Akteur und die Juden das denkbar schlechteste Objekt sind, um daran etwas zu ändern.
Anders gesagt (die Formulierung ist nicht von mir, habe nur gerade die Quelle vergessen): Die Deutschen dürften für die nächsten 1000 Jahre das Recht verwirkt haben, den Juden Vorschriften bei der Religionsausübung zu machen.
Sorry aber damit kann ich mich nicht anfreunden. Wie steht es denn umgekehrt, haben die jüdischen Deutschen das Recht, allen übrigen Deutschen Vorschriften bei der Religionsausübung zu machen?
Eine absurde Frage? Aber warum?
Das durch das Grundgesetz vorgegebene System bezeichnet man oft als säkulares Staatswesen, mit Garantien, die Religionsangehörigen Schutz gewähren. (Die jüdische Beschneidung z.B. war in Deutschland schon immer erlaubt, das ist mit dem neuen Gesetz lediglich explizit gemacht worden, nebst einigen neu hinzukommenden Einschränkungen, u.a. Beschränkung auf das Kindesalter von sechs Monaten.)
Unser Staatswesen ist kein Gottesstaat, Und es ist auch kein radikal-laizistischer Staat, und wenn die Eiferer von der Giordano-Bruno-Stiftung noch so oft das Gegenteil behaupten. Das GG kann aber geändert werden, wenn die erforderlichen Mehrheiten zustande kommen. Bis es soweit ist, haben wir uns alle daran zu halten.
Von einseitigen Bevorzugungen oder ausgewiesenen Schutzzonen nur für Juden halte ich gar nichts, erst recht nicht unter Berufung auf die Zeit des sogenannten 3. Reichs.
@ S.
»Die jüdische Beschneidung z.B. war in Deutschland schon immer erlaubt,… «
Richtig ist meines Wissens, dass sie schon immer praktiziert und nie strafverfolgt wurde. Ob sie dem Geist und Wortlaut des Grundgesetzes nach auch *erlaubt* war, ist eben strittig, da gehen die Meinungen auseinander.
Die politischen und juristischen Reaktionen auf das Kölner Urteil stärken m. E. den Verdacht, dass rituelle Beschneidungen eben nicht implizit oder explizit erlaubt waren.
Danke übrigens für den Hinweis auf den Artikel von Rudolf Taschner. Da sieht man wieder mal, wie sich selbst hochangesehene Menschen in ihrem Eifer verrennen können.
Dieser Aufsatz könnte wohl gut als eine Art Lackmus-Test auf antisemitische Denkmuster dienen: Wenn man ihn gut findet und ihm in fast allen Punkten zustimmt, ist man definitiv kein Antisemit, wenn man ihn in vielen Punkten für falsch und völlig überzogen hält, ist man einer. Oder steht zumindest in Verdacht, einer zu sein. Was ja auch nicht gerade schön ist.
Taschner schreibt: „In jedem liberalen und zivilisierten Kulturkreis wäre das Urteil des Gerichts als Kuriosum eingestuft worden: […]“.
Meine Güte, wenn ich so Revue passieren lasse, wer alles sich neutral bis zustimmend zum Kölner Urteil geäußert hat, und die ich nun alle, laut Taschner, einem illiberalen und unzivilisierten Kulturkreis zurechnen müsste… einfach nur schrecklich.
Da kommt einem Bernsteins Spruch in den Sinn: Die schärfsten Kritiker der Elche…
Hm.
Eigentlich wollte ich hier einen Kommentar dazu hinterlassen, dass ich durchaus den Eindruck habe, dass es inzwischen eine ganze Menge Menschen gibt, die sich über einen unhöflichen fahrradfahrenden, belgischen, blonden, jüdischen Linkshänder ärgern können, ohne dass gleich “alle Dämme brechen” und ohne dass sie dabei irgendeiner der genannten Eigenschaften (außer der Unhöflichkeit) ein besonderes Gewicht zumessen würden. Die Catch-22-Alkoholikermetapher überzeugt mich jedenfalls nicht besonders; und eine besondere Notwendigkeit, mir “durch Umkehrung des Täter-Opfer-Schemas Erleichterung zu verschaffen”, verspüre ich auch nicht. Erleichterung wovon denn? Ist die Feststellung, dass der Antisemitismus eine menschenverachtende Einstellung ist und der Nationalsozialismus die grausamste Epoche der deutschen Geschichte war, denn etwas so Beschwerliches? Vielleicht habe ich zu viele Jahre Geschichte studiert, um meine Großeltern rechtfertigen zu wollen, aber mir scheint, dass ich durchaus zwischen ihrer und meiner eigenen Verantwortung unterscheiden kann.
Außerdem wollte ich noch anmerken, dass auch “Israel-Kritik” zwar immer wieder einen mehr oder weniger bewusst antisemitischen Hintergrund hat. Sehr häufig aber scheint sie mir auch schlicht deshalb schärfer auszufallen als die Kritik an (zum Beispiel) Pakistan, weil wir Israel als Teil des demokratischen Westens verstehen – und deshalb das Handeln der israelischen Regierung stärker an liberaldemokratischen Werten messen, als wir das bei Ländern täten, deren politische Kultur uns ohnehin fremder erscheint. Ein ähnliches Phänomen ließ sich etwa bei der Amerika-Kritik vor zehn Jahren beobachten: Gerade weil wir uns mit den Demokratien Israel und USA stärker identifizieren als mit den semi-autoritären oder rundheraus diktatorischen Regimes anderer Länder (und auch stärker als mit der Hamas, beispielsweise), erwarten wir von ihren Regierungen, dass sie sich beispielsweise an bestimmte Regeln des Völkerrechts halten, über die wir bei anderen hinwegsehen. Das mag bisweilen unfair sein, aber es erscheint mir kein rundheraus verwerflicher Ansatz: Diplomatische Samthandschuhe sind vor allem dann angebracht, wenn wir einen Partner nicht gut verstehen; je vertrauter er uns hingegen ist, desto offener kann und soll auch die Auseinandersetzung sein. An der EU können wir sehen, dass die besten Debatten ohnehin jene sind, bei denen die Grenzen nicht entlang nationaler, sondern entlang parteipolitisch-weltanschaulicher Identitäten verlaufen. Ich persönlich jedenfalls finde einen guten Teil der Netanjahu-Politik rundheraus falsch, aber dafür gibt es in Israel auch einflussreiche Oppositionsgruppen, für die ich eine hohe politische Sympathie habe – was man vom Gazastreifen nicht behaupten kann.
Das alles wollte ich eigentlich schreiben. Aber dann habe ich die ganze Anti-Beschneidungs-Soße in einem Großteil der anderen Kommentare hier gelesen. Und da dachte ich mir, ich lass es lieber. Offenbar stellt der New-School-Antisemitismus doch ein größeres Problem dar, als ich vermutet hatte, und auf dieser Ebene macht das Diskutieren einfach keinen Spaß.
@ S.
Die 70 Prozent sind eine Momentaufnahme auf dem Höhepunkt der internetgeschürten Hetzkampagne und Hysterie.
Hetzkampagne?
Das Gesetz zur Legalisierung der Zwangsbeschneidung wurde in fast allen Medien unterstützt. Gehetzt wurde allenfalls gegen diejenigen, die die Verharmlosung der Vorhautamputation nicht mitmachten – siehe die FR-Kommentare von Christian Bommarius.
Langfristig wird das Gesetz keinen Bestand haben. Die Debatte wird längst international geführt, und in den nächsten Jahren wird es in Ländern, die weniger historischem Ballast wie Deutschland mit sich herumschleppen, zu Verboten kommen.
Dort wird man sich nämlich nicht von Schwachsinn wie diesem beeindrucken lassen:
Zwar schade, dass sich so wenige Deutsche gegen die Hetze als immun erweisen, andererseits ist die Infektion meistens nicht gravierend und verschwindet auch irgendwann.
@ IANAL
Die Tatsache, dass sich die meisten Kommentatoren auf das in diesem Kontext nebensächliche Beschneidungsthema stürzen, ist der beste Beweis für die Richtigkeit des Textes.
Blödsinn!
Herr Steinbeis hat ja zum Fall Augstein selbst herzlich wenig zu sagen. Die hirnrissige Vermengung der Fälle Hohmann und Grass mit der Debatte um die Zwangsbeschneidung ist tatsächlich der einzige Punkt in dem recht nebulösen Aufsatz, der sich als Ansatzpunkt für eine Diskussion eignet – vor allem auch deshalb, weil der Verfassungsblog (mit der rühmlichen Ausnahme von Prof. Gotzmann) sich in der Beschneidungsdebatte höchst einseitig positioniert hat, was für viele (sonst passive) Leser wie mich ein Anlaß war und ist, sich zu Wort zu melden.
Wer sich die Sache mal vor Augen führen will, zähle einfach mal in zwei, drei beliebigen nachrichtenbezogenen deutschen Internetforen die durchschnittliche Zahl der Userkommentare durch: Jeder Thread, der sich dafür anbietet, Juden/Israel/die israelische Regierung zu kritisieren, selbstverständlich aus edlen Motiven (Frieden/Palästinenser/Vorhäute), hat, gemessen am Durchschnitt, astronomische Kommentarzahlen, in deren Nähe kein anderes außen- bzw. gesellschaftspolitisches Thema kommt. Hat jemand dafür eine andere Erklärung hat als New-School-Antisemitismus?
Das würde erst dann einen Sinn ergeben, wenn Sie nachweisen könnten, daß es auch jeweils dieselben Kommentaren sind. Ein simpler Blick in englischsprachige Foren zeigt, daß der Kampf gegen die Zwangsbeschneidung in den USA nichts mit dem Thema Isael oder einem Kampf gegen Religionen zu tun hat (nur ein minimaler Anteil der dortigen Knaben werden aus religiösen Gründen beschnitten) – unter den Intaktivisten scheinen sogar die Juden überproportional vertreten zu sein.
Ich bin ein männlicher nichtjüdischer deutscher Mensch, der im Kleinkindalter aus medizinischen Gründen beschnitten wurde. Ich kann nicht behaupten, dass mir das geschadet hätte.
Diese Leier “mir hat es nicht geschadet, also kann es auch keinem anderen geschadet haben” ist mir noch gut in Erinnerung aus der Zeit, als die Prügelstrafe für Kinder rechtfertigt wurde.
@Max: Full Ack. Sehr schöner Text.
Der Text ist voller Selbstgerechtigkeit des Besserwissenden und ohne eine greifbare Aussage über die Unterscheidung berechtigter Kritik an menschenrechtlich bedenklichen religiösen Ritualen oder dem handelnden Staat Israel und tatsächlichen “neo”-antisemitischen Äußerungen. Netter als Broder, aber ebensowenig mit Substanz.
@ Manuel Müller: Ich stimme Ihnen vollständig und umfassend zu.