19 November 2021

Mehrheit

Manchmal ist es ein Freiheitsgewinn, sich überstimmen lassen zu können. Ich muss mich der Mehrheit fügen, aber ich muss ihr nicht beitreten. Ich muss nicht mit ihr einverstanden sein, muss ihr nicht zustimmen und applaudieren und einig werden mit ihr, muss sie nicht von meinem Standpunkt überzeugen und mich nicht von ihrem überzeugen lassen. Ich kann das weiter alles doof finden, muss nicht bereuen, muss mich nicht ändern, kann bleiben, der ich bin. Minderheiten zu majorisieren ist nichts Autoritäres, sondern im Gegenteil ein Dienst an der Meinungsvielfalt, eine Grundbedingung, dass sich das Meinungsspektrum von links nach rechts in seiner ganzen pluralistischen Schönheit auffächern kann, denn es steht ein Verfahren bereit, das aus den vielen Meinungen eine Entscheidung macht: Stimmen wir halt ab!

Kaum je ist die Notwendigkeit, aus vielen Meinungen eine Entscheidung zu machen, so unabweisbar wie in einer Pandemie. Ob Lockdown, Kontaktbeschränkung oder Ausgangssperre, das müssen alle machen, oder zumindest fast alle, ob sie das gut finden oder nicht, denn sonst hilft es nicht und man kann es gerade so gut lassen. Das gilt bis zu einem gewissen Grad auch für die Impfung. Die Impfquote muss ein bestimmtes Niveau überschreiten, damit das Virus sich nicht mehr verbreiten kann und diese Pandemie endlich ein Ende findet.

Die Impfgegner sind eine Minderheit. Und diese Minderheit fühlt sich unterdrückt: Wir werden drangsaliert und marginalisiert und bedrängt und unter Druck gesetzt! Die geimpfte Mehrheit will uns ihren Willen aufzwingen!

Oh, wenn es nur so wäre.

Die Impfgegner haben ihre Meinung über das Virus, über die Pandemie, über die Impfstoffe und ihre jeweilige Gefährlichkeit. Die tragen sie vor, lautstark und ausführlich, unter anderem in der Kommentarsektion des Verfassungsblogs, und das ist alles schön und gut, aber interessiert mich nicht besonders. Meine und ihre Hoffnung, einander im Austausch unserer jeweiligen mehr oder minder informierten Meinungen zu überzeugen, konvergiert eh gegen Null. Was mich und die geimpfte Mehrheit an dieser Minderheit interessiert, sind nicht ihre Meinungen, nicht ihre Werte und Präferenzen, nicht ihr Lebensentwurf, sondern die Gefahr, in die sie mich und uns alle bringen. Deren Existenz und Ausmaß schätzen wir unterschiedlich ein, richtig. Aber wir sind in der Mehrheit. Wir können sie überstimmen. Hätten wir schon längst machen können. Stattdessen balgen wir uns seit Monaten in end- und fruchtlosen Diskussionen mit ihnen herum, deren einziges Resultat ist, dass zunehmend tatsächlich ihre Meinungen, ihre Werte und Präferenzen, ihre Lebensentwürfe in den Mittelpunkt dessen rücken, was wir ihnen streitig machen. Und das ist fatal. Ich will gefälligst auch mit Impfgegnern befreundet bleiben können. Ich will nur, dass sie sich impfen lassen!

In eineinhalb Jahrzehnten faktischer oder formeller Großer Koalition haben wir uns das Überstimmen genauso abgewöhnt wie das Überstimmtwerden. Unser Oppositionsmuskel ist entsetzlich untrainiert. Das ziept und schmerzt jetzt etwas. Aber das wird schon. Bald haben wir eine neue Regierung, und an die richte ich die Erwartung, dass sie regiert. Dass sie Opposition riskiert und Widerstand und Widerspruch, Massenproteste von mir aus, hunderttausend wütende Gegner, denen sie dann unter sorgfältiger Vermeidung jeglicher Rautengeste sagt: Tut mir leid, aber wir entscheiden das. Wir verantworten das. Uns trägt die Mehrheit.

Natürlich darf die Mehrheit nicht alles. Die Überstimmten haben Rechte. Nicht diskriminiert zu werden, dass man ihre Privatsphäre und die Integrität ihres Körpers achtet. An diese Rechte ist die Mehrheit gebunden, auch in ihrem eigenen Interesse, weil dadurch überhaupt erst vernünftigerweise erwartbar wird, dass sich überhaupt irgendwer überstimmen zu lassen traut. Wäre es so, dass die Impfung die eigentliche Gefahr ist und nicht der Virus, dann wäre es natürlich ein Grundrechtsverstoß, die Minderheit zur Impfung zu drängen oder gar zu zwingen. Nur ist es halt nicht so. Findet jedenfalls die Mehrheit, und um die Beschwerden der Minderheit dagegen zu prozessieren, gibt es unabhängige, unparteiische und auf Gesetz beruhende Gerichte.

Und was die Integrität des Körpers betrifft: Solange den Ungeimpften nicht unter physischem Zwang die Injektionsnadel in die Schulter gerammt wird, sehe ich auch keine unüberwindbaren Probleme beim Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das Grundgesetz verbietet nicht, die Körper der Grundrechtsträger einer trotz großer Angst kleinen Gefahr auszusetzen, um eine trotz kleiner Angst große Gefahr abzuwehren.

Anders wäre es aber, wenn sich die Mehrheit vor lauter Wut über die Minderheit dazu hinreißen ließe, sich irgendwelchen Rachephantasien hinzugeben. (Tun Sie das? Nein? Wirklich nicht? Dann ist ja gut.) So kann ich mir etwa kaum vorstellen, wie man etwa Ungeimpften das Intensivbett verweigern will, wie das jetzt gelegentlich überlegt wird, ohne in Probleme mit der Pflicht zur Achtung ihrer Menschenwürde zu kommen. Medizinische Versorgung ist nichts, was man sich verdient haben muss, und damit auch nichts, worauf man durch noch so große eigene Torheit den Anspruch verlieren kann. Mit so etwas fangen wir besser gar nicht an.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

Wir sind fast fertig mit unserem Podcast zu Polen v. EU. Mit der ersten Folge zumindest. Es wird wieder ein regelrechtes Opus, aber es ist ja auch eine Geschichte, deren Komplexität und Tragweite nicht so leicht ihresgleichen hat. Ich habe das seit 2015 alles ja eng mitverfolgt und über viele der einzelnen Ereignisse und Entwicklungen habe ich oft und ausführlich geschrieben. Aber das alles in der zeitlichen Abfolge, im Wechselspiel von Aktion und Reaktion und in seinen verschiedenen, miteinander verwobenen rechtlichen und politischen Strängen auf die Kette zu fädeln und zu erzählen, war und ist ein ebenso anstrengendes und aufwändiges wie interessantes und lehrreiches Unterfangen. Jetzt fügen wir das alles zusammen, und wenn alles glatt geht, wird in den nächsten Tagen die erste Folge an den Start gehen können.

Ein Projekt, auf das ich mich sehr freue und das mir seit langem am Herzen liegt, haben ANDREW ARATO und ANDRÁS SAJÓ in dieser Woche anstoßen geholfen: Restoring Constitutionalism. In Ungarn wird ja im nächsten Frühjahr ein neues Parlament gewählt, und es besteht die reale Aussicht, dass die geeinte Opposition Viktor Orbán entthront – nur wird sie in dem Verfassungsumfeld, das Orbán in den letzten 10 Jahren planmäßig geschaffen hat, nicht vernünftig regieren können. Sie müsste sozusagen zwischen Verfassungs- und Demokratietreue wählen. Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus? Arato und Sajó, zwei Titanen des transnationalen Verfassungsdiskurses, rufen die constitutionalist community dazu auf, Ideen zu entwickeln, und haben dazu eine Reihe von Fragen formuliert. Alle, die hierzu etwas beizutragen haben, sind auf das Herzlichste eingeladen, sich zu beteiligen und bis 8. Dezember einen Text (maximal 2000 Wörter) an info@verfassungsblog.de zu schicken. Die Beiträge werden dann in einem Blog-Symposium auf dem Verfassungsblog veröffentlicht. Selten konnte man sich als vergleichende Verfassungsjurist_in und/oder -theoretiker_in so konkret und effektiv nützlich machen.

Zurück zu Polen: Vor über einem Jahr hat das vormalige “Verfassungsgericht” das Quasi-Totalverbot von Schwangerschaftsabbrüchen als angebliches Gebot der Verfassung postuliert. Seither hat sich die Lage für Frauen in Polen noch verschlimmert, wie KAROLINA KOCEMBA berichtet. Im Sejm wird gerade ein Gesetzentwurf beraten, der Abtreibung wie Mord verfolgt.

In der polnisch-belarusischen Grenze sterben unter dem eskalierenden Kriegsgerassel beider Seiten die dazwischen durch den Winterwald irrenden Migranten. Wie egal dies der polnischen Regierung zu sein scheint und wie sehr sie ihre rechtlichen Pflichten missachtet, notiert WITOLD KLAUS.

Nicht nur in Polen, sondern auch in Rumänien will das Verfassungsgericht dem EuGH die Gefolgschaft verweigern und hat zuletzt in einem Schreiben an den Justizminister ausformuliert, wie es sich in punkto Vorrang des EU-Rechts die Rechtslage vorstellt. BIANCA SELEJAN GUTAN stellt die Formulierungen beider Gerichte effektvoll einander gegenüber.

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In Deutschland türmt sich die aktuelle vierte Welle der Pandemie in furchterregender Höhe auf. In der Vorwoche hatten Johannes Gallon, Katharina Mangold und Franz Mayer die Ampel zu härterem Eingreifen aufgefordert. In dieser Woche warnt  UWE VOLKMANN davor, erneut das ganze Land in den Lockdown zu schicken, ohne zuerst zu prüfen, wie man die Ungeimpften stärker in die Pflicht nehmen kann. THORSTEN KINGREEN widerspricht der Analyse von Franz Mayer und argumentiert, dass es auch in der aktuellen Situation gute Gründe dafür gibt, die unselige “epidemische Lage von nationaler Tragweite” nicht weiter zu verlängern.

In Österreich schlägt die Welle gerade über Land und Gesundheitssystem zusammen. Der Lockdown steht bevor. CHRISTOPH BEZEMEK zitiert, wie es sich für einen schönen Text zu und aus Österreich gehört, Grillparzer und wirft der Regierung vor, “auf halbem Weg und zu halber Tat mit halben Mitteln zauderhaft zu streben”.

In der Maskenaffäre um die lukrative Vermittlungstätigkeit allerhand Unionsabgeordneter hat das Oberlandesgericht München entschieden, dass der Tatbestand der Abgeordnetenbestechung nicht erfüllt sei. MICHAEL KUBICIEL hält die Entscheidungen aus München strafrechtlich und rechtspolitisch für alles andere als zwingend und wirft dem Gericht vor, seine eigene politische Wertung an die Stelle derer des Gesetzgebers zu setzen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat die verbreitete Praxis von Städten, Mieter_innen in sogenannten “Milieuschutzgebieten” mittels Vorkaufsrecht vor den Folgen der Gentrifizierung und der Immobilienspekulation zu schützen, für rechtswidrig erklärt. Wenn man das Gesetz beim Wort nimmt, ist das schon richtig, sagt JULIAN AUGUSTIN, aber die Folgen sind dramatisch: Damit seien auch die in der Vergangenheit in großer Zahl abgeschlossenen “Abwendungsvereinbarungen” nichtig, mit denen Städte die Käufer von Immobilien zur Abwendung des Vorkaufsrechts bewogen hatten, auf Mieterhöhungen zu verzichten.

Im Europaparlament wird über den Digital Services Act debattiert, und FELIX REDA und JOSCHKA SELINGER sind entsetzt über einen Vorschlag der Berichterstatterin: Plattformen sollen mittels Netzsperren komplett gesperrt werden können – für die Autor_innen ein wenig durchdachter Vorschlag, der die Systematik der Sanktionen im DSA sprengt und mit Grundrechten unvereinbar ist.

In Singapur sind die Behörden in sehr weitem Umfang ermächtigt, gegen Fake News vorzugehen. Dies hat kürzlich das höchste Gericht des Stadtstaats für verfassungsgemäß erklärt und einen Test entwickelt, um das Verhalten der Behörden zu beurteilen. LASSE SCHULDT beobachtet, dass der Fokus auf die Frage nach der Wahrheitsgemäß das Gericht zu sehr kleinteiligen Prüfungen zwingt, aber viel wichtigere Fragen außer Acht bleiben.

Damit genug für diese Woche. Was für Zeiten!

Und zuletzt noch eine Bitte an all diejenigen unter Ihnen, die den Verfassungsblog und dieses Editorial oft und gerne lesen, aber sich noch nicht entschlossen haben, uns auf Steady zu unterstützen. Wir müssen die Zahl unserer Steady-Mitglieder nach oben bringen. Wir sind immer noch unterbesetzt und unterfinanziert. Bitte überlegen Sie sich doch, ob Ihnen der Verfassungsblog nicht doch einen Fünfer im Monat (für Studierende und andere knapp bei Kasse Befindliche die Hälfte) wert ist. Na?

Bis nächste Woche, alles Gute, bleiben Sie gesund und stecken Sie niemanden an!

Ihr

Max Steinbeis

 

 


4 Comments

  1. Martin Borowsky Sat 20 Nov 2021 at 17:20 - Reply

    Danke, Herr Steinbeis. Auf den Podcast Polen v. EU darf man gespannt sein. Die aktuellen Konflikte sollten Grund und Anlass genug sein, auch die deutsche Justiz einem “Stresstest” zu unterziehen und ihre constitutional resilience auf den Prüfstand zu stellen. Nächsten Dienstag steht die Verkündung eines – von Koen Lenaerts bei FIDE als äußerst wichtig zur Unabhängigkeitsfrage angekündigten – Urteils zur ungarischen Justiz an, C-564/19, zudem die Verhandlung zur rumänischen Justiz, C-430/21. Auch hier darf man gespannt sein.

  2. Mathias Mon 22 Nov 2021 at 01:40 - Reply

    Es ist spät, daher möchte ich hier zunächst nur den Epidemiologen Prof. Dr. Alexander Kekulé zitieren:

    „Ja, es gibt immer die Möglichkeit, dass eine völlig neue Technologie, die gerade jetzt mal ein halbes Jahr lang im Einsatz ist – so muss man das sagen – dass die sich nach fünf Jahren als mit einer Nebenwirkung behaftet herausstellt, die man eben vorher nicht gesehen hat. Oder nach zehn Jahren. Diese Entscheidung muss jeder für sich selber treffen.“

    (Corona-Podcast des MDR, Folge 185)

    Und: jeder von uns steht zunehmend unter Druck und wünscht sich ein Ende der Pandemie. Das sollte uns aber nicht zu – scheinbar – einfachen Lösungen verleiten, für die wir dann später einen hohen Preis zahlen müssen.

  3. Lia Mon 22 Nov 2021 at 21:53 - Reply

    Let’s hope that our government will indeed govern…

  4. Prof. Dr. G. Roth Thu 25 Nov 2021 at 17:31 - Reply

    Im Ernst? Für mich ist es kaum vorstellbar, dass ich ggf. zwangsweise geimpft werden soll, d.h. möglicherweise inhaftiert, gefesselt oder betäubt, und ich habe noch eine gewisse Hoffnung, dass sich angesichts der deutschen Geschichte doch noch Einsicht und Vernunft im Sinne des Nürnberger Kodex durchsetzen. Es ist ein med. Eingriff, es ist mein Körper.
    Und (eigentlich sollte man sich auf diese Diskussion gar nicht einlassen): Dass auch Geimpfte vielfach erkranken und das Virus weitergeben (in UK inzwischen deutlich die Mehrheit auf den Intensivstationen), dass die ‘Impfung’ (besser: Medikation) schon nach wenigen Monaten nachlässt (s. z.B. https://papers.ssrn.com/abstract=3949410, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1473309921006484 usw.). Was sagen Sie dazu? Aktuell kritisierte auch Peter Doshi, immerhin Mitherausgeber des Britisch Medical Journal, die verbreitete Haltung im Stile von „everybody knows“ in Bezug auf die Wirksamkeit und Verträglichkeit der Anti-Covid-Impfstoffe, so dass er zum Fazit kommt: „without data, it isn’t science“ (vgl. https://faculty.rx.umaryland.edu/pdoshi/, Roundtable talk, “Four reasons to reject covid-19 vaccine mandates,” Maryland State Medical Society, Nov 6, 2021 (slides; script); Testimony at expert panel on federal vaccine mandates and vaccine injuries. Nov 2, 2021 (video begins at 1:18:40 and 2:26:38; slides on request; script).

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