19 November 2021

Tatbestandslose Maskendeals?

1. Gleich drei Strafsenate des OLG München haben in der sogenannten Maskenaffäre die Rechtsauffassung vertreten, dass das Verhalten der Beschuldigten nicht den Straftatbestand der Bestechung bzw. Bestechlichkeit von Mandatsträgern (§ 108e StGB) erfüllt. Der Gesetzgeber habe den Straftatbestand der „Abgeordnetenbestechung“ (sic!) ausschließlich zum Schutz der Arbeit von Parlaments- und Fraktionsgremien geschaffen. Daher seien nur Bestechungshandlungen erfasst, „durch die die Tätigkeit im Rahmen der parlamentarischen Arbeit im Plenum, den Ausschüssen sowie den Arbeitskreisen und -gruppen der Parteifraktionen“ (sic!) beeinflusst werden solle. Diesem „eindeutigen Willen des Gesetzgebers“ hätten sich die Senate fügen müssen.

Ein näheres Hinsehen offenbart jedoch, dass der Wille des Gesetzgebers weit weniger eindeutig ist, als die gerade referierten Sätze glauben machen. Indem die Senate den weiten Wortlaut des Tatbestandes auf Grundlage ambivalenter Gesetzesmotive einschränkend interpretieren, nehmen sie eine eigene politische Wertung vor. Sie unterwerfen sich also nicht dem in § 108e StGB zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers, sondern bringen diesen erst hervor, um ihn – in einem zweiten Schritt – mit dem deutlich weiter gefassten Wortlaut des Gesetzes gleichzusetzen und damit für verbindlich zu erklären. Die Entscheidungen sind mithin alles andere als zwingend (2.); ebenso wenig ist es die rechtspolitische Konsequenz, die die Senate andeuten: eine Änderung des – ohnehin schon weiten – Gesetzeswortlauts. Von einer Umgestaltung des Tatbestandes ist im Gegenteil abzuraten, da diese der parlamentarischen Demokratie mehr schaden als nutzen würde (3.).

2. Abgeordnete sind „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG). Als Träger eines öffentlichen Amtes (Art. 48 Abs. 2 GG) sind sie aber bei der Wahrnehmung der ihnen übertragenen Aufgaben dem Wohle jener verpflichtet, die sie „als Vertreter des ganzen Volkes“ repräsentieren. Der Verfolgung persönlicher oder anderer Partikularinteressen sind damit verfassungsimmanente Grenzen gesetzt.((H.H. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb. des StaatsR, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 51 Rn. 1; P. Müller, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 38 Rn. 45.)) Das Abgeordnetengesetz konturiert diese Grenzen; § 108e StGB härtet die wichtigsten von ihnen. Nach dieser Vorschrift macht sich strafbar, wer als Mitglied einer Volksvertretung bei der Wahrnehmung seines Mandats im Auftrag oder auf Weisung einer anderen Person handelt, die dem Volksvertreter bzw. der -vertreterin dafür einen unzulässigen Vorteil versprochen oder gewährt hat. In der Anfangsphase der Corona-Pandemie haben es sich Dutzende von Abgeordneten zur Aufgabe gemacht, Staat und Gesellschaft – unentgeltlich – bei der Beschaffung von Masken und Materialen zu unterstützen. Sie haben damit eindrücklich gezeigt, dass zur Wahrnehmung des Mandats nicht nur parlamentarische Aufgaben und der Einsatz für die Bürger*innen, Vereine und Unternehmen des eigenen Wahlkreises zählen, sondern auch die Unterstützung staatlicher Organisationen durch die Vermittlung von Kontakten. Reiz und Bürde des politischen Mandats ist seine thematisch-sachliche Offenheit. Wer aber in Wahrnehmung seines Mandats handelt, übt nicht nur seine mandatsspezifische Freiheit aus, er (und sie) unterliegt auch den damit korrespondierenden Pflichten.

Die Verteidiger der (ehemaligen) Abgeordneten Nüsslein und Sauter pochen hingegen darauf, die Vermittlung von Maskengeschäften gegen die Zusage einer zwanzigprozentigen Provision sei nicht „bei Wahrnehmung des Mandats“ erfolgt, sondern eine Nebentätigkeit gewesen. Dem haben sich die drei angerufenen Strafsenate angeschlossen. Unter die Wendung „Wahrnehmung des Mandats“ fallen nach ihrer Ansicht allein parlamentarische Tätigkeiten, nicht jedoch darüber hinaus gehende Aktivitäten, selbst wenn diese einen Bezug zum Mandat haben. Diese Auslegung hat weitreichende Konsequenzen. Von vornherein unbeachtlich wäre es dann sogar, dass Mandatsträger*innen durch einen Hinweis auf ihren Abgeordnetenstatus, ihre Fraktionszuständigkeiten oder die Nutzung dienstlicher E-Mail-Adressen bzw. Signets selbst einen Bezug zu ihrem Mandat herstellten oder sogar ihre finanziellen Eigeninteressen bzw. Beratertätigkeit verschwiegen. Damit könnten Abgeordnete still für sich, aber mit Rechtswirkung entscheiden, wer sie gerade sein wollen und wen sie repräsentieren: Während sie willentlich nach außen als Mandatsträger auftreten und sich berühmen, zum Wohle des Volkes zu handeln, können sie als Berater agieren und damit (eigene) finanzielle Interessen verfolgen. Solange sie diesen manifesten Interessen-, ja Identitätskonflikt nicht in die Parlamente tragen, bleiben sie straflos. Einer korruptiven Kommerzialisierung des Mandats wäre Tür und Tor geöffnet.

Begründet wird diese demokratie- und personentheoretisch problematische Auslegung mit dem Willen des Gesetzgebers. Schaut man ins Gesetz, findet sich dort aber nicht die Wendung „bei Wahrnehmung parlamentarischer Aufgaben und Funktionen“, sondern eine deutlich weiter gefasste Formulierung: „bei Wahrnehmung seines Mandats“. Dieses Tatbestandsmerkmal, meinen die OLG-Senate, sei nach dem „eindeutigen Willen des Gesetzgebers“ eng zu interpretieren und mit parlamentarischen Tätigkeiten gleichzusetzen. Tatsächlich aber heißt es in der Gesetzesbegründung aus dem Jahr 2014, geschützt seien das „öffentliche Interesse an der Integrität parlamentarischer Prozesse und der Unabhängigkeit der Mandatsausübung sowie der Sachbezogenheit parlamentarischer Entscheidungen“ (BT-Drs. 18/476, S. 6). An zentraler Stelle der Gesetzesbegründung steht mithin die Integrität der Mandatsausübung ausdrücklich neben dem Schutz der Parlamentsarbeit, was klar gegen eine teleologische Engführung spricht. Zwar liest man später, die freie Willensbildung und -betätigung in den Parlamenten solle vor unzulässiger Einflussnahme geschützt werden. Einige Seiten weiter heißt es aber: „Mit dem Straftatbestand soll die freie Ausübung des Mandats des Abgeordneten geschützt werden“ (BT-Drs. 18/476, S. 8). An zentralen Stellen sind die Gesetzesmotive also bestenfalls ambivalent; keinesfalls erzwingen sie eine enge Auslegung des weiter gefassten Wortlauts. Im Gegenteil: Auch die Anknüpfung des Tatbestands an die in Artikel 38 Abs. 1 S. 2 GG verwendeten Begriffe „Aufträge und Weisungen“ spricht systematisch für jene weiter gefasste Schutzrichtung, die bereits das Tatbestandsmerkmal „bei Wahrnehmung des Mandates“ vorgibt.

Gräbt man sich tiefer in die Gesetzesmaterialien ein, stößt man jedoch auf eine Passage in den Beschlussempfehlungen des Rechtsausschusses. Dort „stellt“ der Ausschuss „fest“, dass „eine Handlung oder Unterlassung ‚bei der Wahrnehmung des Mandats‘ ausschließlich bei parlamentarischen Verhandlungsgegenständen vorliegt. Nicht erfasst dagegen sind Tätigkeiten außerhalb der durch das Mandat begründeten Zuständigkeiten, etwa wenn lediglich die Autorität des Mandats oder die Kontakte des Mandatsträgers genutzt werden, um einen in der Zuständigkeit einer anderen Stelle liegenden Vorgang zu beeinflussen“ (BT-Drs. 18/607, S. 8). Mit dieser Feststellung bringt der Rechtsausschuss jedoch nur zum Ausdruck, worauf sich der Tatbestand seiner Meinung nach erstrecken soll. Seinem politischen Willen hat der Ausschuss jedoch keine Taten folgen lassen: Obgleich es in den Ausschussberatungen ohne weiteres möglich gewesen wäre, den Wortlaut zu ändern (etwa in: „bei Wahrnehmung parlamentarischer Aufgaben und Funktionen“), hat er an der weiten Formulierung festgehalten. Unterlässt aber ein Ausschuss in den parlamentarischen Beratungen eines Gesetzes eine ohne weiteres mögliche Änderung und hält er auch im Übrigen an der Gesamtkonstruktion des Tatbestandes und der ihn tragenden Gesetzesbegründung fest, kann er sich davon nicht mit der „Feststellung“ distanzieren, man möge künftig das Tatbestandsmerkmal in einem – nur hier geäußerten – engen Sinne verstehen. Der politische Wille hat dann nicht die Form gefunden, aus der sich rechtliche Verbindlichkeit speist.

Tatsächlich geht der Gesetzgeber nicht von einer engen Auslegung aus. In einer Beschlussempfehlung zu einem Gesetz aus dem Jahr 2021, das die Strafrahmenuntergrenze des tatbestandlich unveränderten § 108e StGB erhöht hat, heißt es – wiederum – in großer Klarheit: „Durch § 108e StGB wird somit die Integrität und Funktionsfähigkeit des repräsentativen Systems insgesamt geschützt, indem Handlungen verboten werden, die tatsächlich oder auch nur dem Anschein nach daran zweifeln lassen, dass Mandatsträgerinnen und Mandatsträger ihr Mandat unabhängig ausüben.“ (BT-Drs. 19/30492, S. 23). Im Übrigen stellen die Gesetzesmotive lediglich phänotypische Gegenpole der Auslegung gegenüber: Zum einen sollen sämtliche Tätigkeiten in den Parlaments- und Fraktionsgremien erfasst sein, zum anderen Nebentätigkeit aus dem Anwendungsbereich fallen. Grenzfälle, in denen Beschuldigte bewusst Mandats- und Nebentätigkeit in arkaner Weise vermengen, thematisieren die Gesetzesmotive nicht. Diese sind nach Maßgabe jenes Zwecks zu beurteilen, den der Gesetzgeber dem § 108e StGB gleichsam „eingeschrieben“ hat.

3. Folgt man dieser wortlaut- und zweckorientierten Auslegung besteht für eine Änderung des § 108e StGB kein Anlass. Legt man hingegen die Rechtsauffassung des OLG München zugrunde, fragt sich, wie man sich eine Erweiterung eines ohnehin schon weit gefassten (wenn auch eng interpretierten) Tatbestandes vorstellen soll: Noch weiter, nur um dann wiederum eng ausgelegt zu werden, falls sich in den Gesetzesmaterialien Spuren eines politischen Willens für eine restriktive Anwendung der Vorschrift finden?

Ungeachtet dessen ist vor einer Erweiterung zu warnen. Bislang haben auch die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis90/Die Grünen an dieser Tatbestandfassung festgehalten. Mit gutem Grund: Löst man nämlich die Anwendung des Tatbestandes von mandatsbezogenen Handlungen und begnügt sich mit einem „Zusammenhang mit der Ausübung des Mandats“, wie es Die Linke vorgeschlagen hat (BT-Drs. 16/8979), entstünde eine dem Verbot der Vorteilsannahme ähnelnde, sehr weite Strafvorschrift. Damit liefen Mandatsträger Gefahr, dass jeder Verstoß gegen Parteispendenrecht und andere (formelle) Regeln zum Korruptionsvorwurf hochgestuft wird. Eine Vielzahl von Anzeigen und Ermittlungsverfahren wäre die Folge, die dem Vertrauen in die Integrität des parlamentarischen Systems unnötigen Schaden zufügten. Ein solcher Kollateralschaden wäre nicht nur schädlich, sondern auch unnötig: Um die wenigen schwarzen Schafe zu erfassen, ist eine wortlautgetreue und zweckorientierte Anwendung des § 108e StGB vollkommen ausreichend.


One Comment

  1. Stiller Leser Fri 19 Nov 2021 at 20:07 - Reply

    Zum Abschnitt 2.:

    Überzeugt auf ganzer Linie.
    Legt man die Wahrnehmung des Mandats so wie das OLG München aus, kommt es im Hinblick auf Art. 48 II GG zu eher kuriosen Ergebnissen. Denn die Ausübung des Amtes in Art. 48 II GG dürfte tatsächlich sehr weit zu verstehen sein und den Abgeordneten vor (fast) jeder Behinderung seines Mandates schützen. Es wäre wohl ziemlich abwegig, aus dem Schutzbereich des Art. 48 II GG die Herstellung von Kontakt zwischen Bürgern (in diesem Zusammenhang auch Unternehmen) und der Exekutive auszuklammern. Vielmehr ist das Gegenteil richtig: Der Abgeordnete soll gerade die Bindung zwischen der Exekutive und dem Bürger sein. Wenn es bei § 108e StGB nun so ist, wie das OLG meint, dann gäbe es aber einen Bereich, in dem der Abgeordnete sich zwar schon auf den Schutz des Art. 48 II GG berufen könnte, aber noch nicht § 108e StGB unterfallen würde. Das mag der einfache Gesetzgeber zwar unter Umständen sogar so bestimmen können. Damit man aber annehmen könnte, dass er das tatsächlich getan hat, müsste es exakt so im Wortlaut deutlich gemacht werden müssen. Das ist nicht geschehen. Eine reine Wortlautauslegung des § 108e StGB führt nur dazu, dass jede nichtprivate Tätigkeit des Abgeordneten unter Strafe steht.

    Es bleibt insoweit die Hoffnung, dass die Generalstaatsanwaltschaft die Beschlüsse so nicht hinnimmt und der BGH sie zügig aufhebt.

    Zu Abschnitt 3 (also den Fall, dass der BGH der Auffassung des OLG München folgt):

    Der Auffassung, dass die Norm durch eine Angleichung an die Vorteilsannahme eine (unbegrenzte) Erweiterung erfahren würde, kann ich so hingegen nicht zustimmen. Das gilt gerade im Hinblick auf bloß formelle Verstöße im Bereich der Spenden.
    Denn in § 108e V 2 Nr. 2 StGB findet sich ein Ausschluss für Parteispenden. Das ist ein negativ formuliertes Tatbestandsmerkmal, das positiven Feststellung auf der äußeren und inneren Tatseite bedarf. Die Gefahr, dass es damit zur Hochstufung von Verstößen gegen Formalia zur Straftat kommen könnte, ist daher keine reale Gefahr. Soweit diese Norm im Gesetz bleibt, ist mir kein Fall vorstellbar, wie ein Gericht Feststellungen treffen soll, die eine solche Aburteilung ermöglichen. Denn dazu wäre es nötig, dass das Gericht zu einem bloß formalen Verstoßes die (positive!) Feststellung zur inneren Tatseite trifft, dass der Angeklagte nicht davon ausging, dass es sich um eine legale Spende handelt. Solche Feststellungen wird kein Gericht in Deutschland treffen, wenn es nur um formale Fehler im Spendenverfahren geht.

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