08 December 2021

Der schmale Grat zwischen Mut und Murks

Die Reform des Berliner Hochschulgesetzes

Mitte September 2021 ist in Berlin das „Gesetz zur Stärkung der Berliner Wissenschaft“ in Kraft getreten, das unter anderem umfassende Änderungen des Hochschulgesetzes vorgenommen hat. Außerhalb des Landes ist diese Reform zunächst kaum zur Kenntnis genommen worden. Das änderte sich erst durch eine nachträglich eingefügte Regelung zur Entfristung von Postdoktoranden. Dass die gerade erst wiedergewählte Präsidentin der Humboldt-Universität, Sabine Kunst, Ende Oktober erklärt hat, wegen der Neuregelung zum Jahresende 2021 zurückzutreten, war dann ein leibhaftiger Paukenschlag, der das Thema bundesweit in die Schlagzeilen gebracht hat. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive sieht sich speziell die Entfristungsregelung erheblichen inhaltlichen und formellen Bedenken ausgesetzt.

I. Einer der Schwerpunkte der Kritik an der Reform war zunächst die Einschränkung der sogenannten Erprobungsklausel (§ 7a BerlHG). Die jetzt als „Innovationsklausel“ bezeichnete Vorschrift gibt den Berliner Hochschulen die Möglichkeit, von bestimmten Vorschriften des BerlHG abzuweichen. Diese Möglichkeit ist nun durch eine deutliche Verkleinerung der Zahl der Vorschriften, von denen abgewichen werden darf, sowie durch strengere Voraussetzungen für eine Abweichung erheblich eingeschränkt worden. Damit sind den Hochschulen bisher vorhandene und vielfach genutzte Gestaltungsspielräume gezielt entzogen worden: Die Entwurfsbegründung spricht von einer „deutlichen Revision und Kürzung der einer abweichenden Regelung … zugänglichen Paragraphen“. Ob das sinnvoll ist oder nicht, ist freilich primär eine politische und weniger eine rechtliche Frage. Die Hochschulen selbst jedenfalls führen ihre Erfolge etwa in der Exzellenzinitiative zum Teil auf die bisher vorhandenen Spielräume zurück.

II. Ebenfalls primär eine Frage politischer Dezision ist ein zweiter wesentlicher Teil der Reform: Die nunmehr wie in etlichen anderen Ländern als Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW) bezeichneten Fachhochschulen erhalten in forschungsstarken Feldern das Promotionsrecht. Damit schlägt Berlin nach Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt denselben Weg ein, der in einigen Jahren absehbar zu einem allgemeinen Promotionsrecht der HAWs führen wird. Darin mit Teilen der Berliner Wissenschaftspolitiker die Beendigung einer „strukturellen Diskriminierung“ der HAWs zu sehen, setzt ein eigentümliches Verständnis von Diskriminierung voraus, das jede Form von Differenzierung auch dann als Diskriminierung sieht, wenn sie auf sachlichen Gründen beruht. Der Forderung nach unterschiedlichen Profilen der einzelnen Hochschultypen wird dieser Schritt jedenfalls nicht gerecht. Und wer die Befürchtung hegt, dass die Qualität der knapp 30.000 Dissertationen, die in Deutschland jährlich entstehen, womöglich nicht durchgängig gewährleistet ist, müsste darlegen, wie eine Verschärfung dieses Problems bei weiter steigenden Promotionszahlen verhindert werden soll.

III. Beide Aspekte spielen in der Debatte über die Reform mittlerweile keine erkennbare Rolle mehr. Ihren Rücktritt begründet die HU-Präsidentin mit dem überraschend eingefügten § 110 VI 2 BerlHG n.F. Nach dieser Vorschrift – die im ursprünglichen Entwurf noch nicht enthalten, sondern auf Vorschlag des Wissenschaftsausschusses aufgenommenen worden war – muss promovierten Mitarbeitern für den Fall, dass sie ein vertraglich vereinbartes Qualifikationsziel wie namentlich die Habilitation erreichen, zwingend eine Anschlusszusage über den Abschluss eines unbefristeten Beschäftigungsverhältnisses gegeben werden.

1. Die Vorschrift trägt den vielfach erhobenen Forderungen nach verlässlicheren Perspektiven für Nachwuchswissenschaftler Rechnung, die durch die „#ichbinhanna“-Bewegung in jüngerer Vergangenheit intensiviert und einer breiteren Öffentlichkeit bewusst gemacht worden sind. Ihre Initiatoren beklagen neben der verbreiteten Praxis der „Kettenbefristung“, bei der wissenschaftliche Mitarbeiter teils für lange Zeiträume über Verträge mit sehr kurzen Befristungsdauern beschäftigt werden, primär die vom WissZeitVG festgelegte Befristungshöchstdauer von regelmäßig 12 Jahren. Sie hat zur Folge, dass Nachwuchswissenschaftler, denen es nicht gelungen ist, in dieser Zeit eine Dauerstelle zu erhalten – was häufig nur durch die Berufung auf eine Professur möglich ist –, gezwungen sind, außerhalb des Hochschulbereichs zu arbeiten. Das bliebe ihnen nach der Neuregelung erspart. Die Kehrseite der Medaille ist freilich, dass ein Teil der raren Stellen im Mittelbau langfristig besetzt wäre und zukünftigen Absolventen etwa zum Zweck der Promotion in dieser Zeit nicht mehr zur Verfügung stünde: Statt der relativ kurzen Zeit zwischen einer Habilitation und dem Befristungsende wären die Stellen vielfach mehr als zwanzig Jahre lang besetzt: Von der Habilitation, die durchschnittlich mit 41 Jahren erreicht wird, bis zum Ruhestand. Zwar mag dieses Phänomen je nach Fach unterschiedlich häufig auftreten: In Fächern wie z.B. den Ingenieur-, Natur- und Rechtswissenschaften dürfte die Perspektive einer Lebenszeit-Mittelbaustelle nur für wenige Hochqualifizierte attraktiv sein. In Fächern mit einem weniger aufnahmefähigen außeruniversitären Markt hingegen sähe das sicherlich anders aus. Im Laufe der Zeit hätten in diesen Bereichen nachrückende Absolventen immer geringere Chancen auf eine Beschäftigung, um beispielsweise promovieren zu können: Ein immer größerer Teil der (endlichen Zahl der) Stellen wäre dauerhaft besetzt. Das ist nicht nur ein tatsächliches Problem. Die Neuregelung begegnet auch rechtlich aus zwei Gründen Bedenken.

2. Diese sind zunächst inhaltlicher Natur. Das BVerfG hat 1996 in einer grundlegenden Entscheidung zur Befristung von Beschäftigungsverhältnissen im Hochschulbereich darauf hingewiesen, die Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 III GG verpflichte den Staat als objektive Wertentscheidung dazu, die Vermittlung der Wissenschaft an die nachfolgende Generation zu ermöglichen und zu fördern. Die generelle Befristung von Mitarbeiterstellen – die schon seinerzeit mit der Gefahr begründet worden war, dass die vorhandenen Stellen andernfalls dauerhaft blockiert seien und so die Nachwuchsförderung behindert würde – sei geeignet und in Ermangelung milderer Mittel auch erforderlich, die Leistungs- und Funktionsfähigkeit der Hochschulen zu erhalten. Kontinuierliche Nachwuchsförderung in Arbeitsverhältnissen könne nur betrieben werden, wenn die beschränkt vorhandenen Stellen immer wieder frei würden (BVerfGE 94, 268 [285 ff.]). Unmittelbar wird damit nur gesagt, dass der Gesetzgeber zur generellen Befristung berechtigt ist. Mittelbar führt der Befund dazu, dass die regelhafte Befristung eines substantiellen Teils der Stellen verfassungsrechtlich gefordert ist. Das schließt die Erhöhung der Zahl unbefristeter Stellen selbstverständlich nicht aus: Ob das im „Y-Modell“ des Deutschen Hochschulverbands, im „USB-Modell“ oder auf anderen Wegen realisiert wird, ist verfassungsrechtlich nicht von entscheidender Bedeutung. Auch darf der einfache Gesetzgeber die mögliche Dauer der Befristung erhöhen, wenn das unter Berücksichtigung typischer Qualifikations‑ und Bewerbungsphasen angemessen erscheint. Eine regelhafte Entfristung eines großen Teils der Stellen aber lässt schon die Wissenschaftsfreiheit nicht zu. Sie ist im Übrigen auch mit der von Art. 12 I GG garantierten Berufsfreiheit der nachfolgenden Absolventen nicht zu vereinbaren, die dann kaum noch Möglichkeiten besäßen, auf Mitarbeiterstellen zu promovieren. Das gilt erst recht, wenn man den Gedanken der „intertemporalen Freiheitssicherung“ aus dem Klimaschutzbeschluss des BVerfG nutzbar machen will: Die heute erfolgende dauerhafte Vergabe eines großen Teils der Mitarbeiterstellen entzieht nachfolgenden Generationen faktisch nicht beliebig vermehrbare Ressourcen, auf die sie ihrerseits angewiesen sind.

3. Ein weiteres Problem, auf das Matthias Ruffert bereits zutreffend hingewiesen hat, ergibt sich aus der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung. Der Berliner Landesgesetzgeber wäre für den Erlass von § 110 VI 2 BerlHG nur zuständig, wenn es sich dabei um eine Regelung auf dem Gebiet des Hochschulrechts handeln würde. Dieses fällt – vom hier nicht einschlägigen Ausnahmefall des Art. 74 I Nr. 33 GG (Hochschulzulassung und Hochschulabschlüsse) abgesehen – nach Art. 30, 70 I GG in die alleinige Zuständigkeit der Länder. Anders verhält es sich mit dem Arbeitsrecht, für das nach Art. 74 I Nr. 12 GG der Bund konkurrierend zuständig ist: Hier hängt die Zuständigkeit der Landesgesetzgeber davon ab, ob der Bund durch eine abschließende Regelung die Sperrwirkung des Art. 72 I GG ausgelöst hat.

Für die kompetenzielle Zuordnung einer Norm kommt es darauf an, welche Materie sie unmittelbar regelt. Führt das zu keinem eindeutigen Ergebnis, ist entscheidend, auf welchem der betroffenen Gebiete ihr Schwerpunkt liegt. Danach stellt § 110 VI 2 BerlHG eine arbeitsrechtliche Regelung dar. Arbeitsrecht i.S.v. Art. 74 I Nr. 12 GG ist das Sonderrecht der unselbständigen Arbeitnehmer einschließlich des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst. § 110 VI 2 BerlHG betrifft gerade die Konditionen des einzelnen Beschäftigungsverhältnisses. Dass sie dies nur für Arbeitsverhältnisse an Hochschulen tut, stellt ihren arbeitsrechtlichen Charakter nicht in Frage.

Zu einer solchen Regelung ist das Land Berlin nach Art. 72 I GG nur befugt, solange und soweit der Bund von seiner Kompetenz nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat. Eben dies aber ist der Fall: Dass WissZeitVG gibt den Hochschulen die Möglichkeit, Stellen im Interesse der Wissenschaft selbst, vor allem aber künftiger Absolventen mit dem Wunsch der weiteren Qualifikation nur temporär zu besetzen – und zwar auch in den Fällen, in denen in der Zeit der Beschäftigung eine weitere Qualifikation erreicht wird. Diese Option nimmt § 110 VI 2 BerlHG den Berliner Hochschulen für einen Teil der Stellen. Damit befasst sich die Regelung mit Fragen, die der Bund bereits abschließend und mit Sperrwirkung gegenüber den Ländern geregelt hat. Der Berliner Gesetzgeber droht folglich zum zweiten Mal vor dieselbe Wand zu laufen, an der er sich schon mit dem „Mietendeckel“ eine Beule geholt hat: Auch dieser war mangels Gesetzgebungskompetenz verfassungswidrig (BVerfG NJW 2021, 1377 ff.).


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