18 July 2013

EuGH entkafkaisiert globales Terrorbekämpfungs-Regime

Jemand musste Herrn K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hatte, wurde ihm eines Tages seine komplette wirtschaftliche Bewegungsfreiheit genommen.

Ob Herr Kadi etwas Böses getan hat, weiß ich nicht; er selbst streitet es entschieden ab. Die US-Sicherheitsapparate und der Sanktionsausschuss des UN-Sicherheitsrates behaupten es zu wissen. Sie halten ihn für einen Al-Qaida-Verbündeten und haben ihn daher 2001 auf die Liste der Terrorverdächtigen gesetzt, deren Vermögen eingefroren wird. Aber was genau er getan haben soll, aus welchen Gründen sie ihn verdächtigen und wie sie ihre Überzeugung beweisen wollen, das sagen sie nicht. Das halten sie geheim.

Und schon deshalb taugt Herr Kadi, ob Al-Quaida-Helfer oder nicht, zum Protagonisten eines Kafka-Romans.

Heute hat der EuGH sein Urteil in der Sache Kadi verkündet. Es ist nicht das erste. 2008 hat der Gerichtshof in diesem Fall zum ersten Mal Rechtsgeschichte geschrieben mit seiner Entscheidung, dass Terrorverdächtige in Europa auch dann Grundrechtsschutz genießen und vor EU-Gerichten geltend machen können, wenn die EU-Behörden zum Einfrieren ihres Vermögens durch eine Entscheidung des UN-Sicherheitsrat völkerrechtlich verpflichtet sind.

Heute folgt der zweite Akt. Er ist vielleicht nicht so revolutionär wie der erste, aber als kraftvolle und selbstbewusste Bestätigung des europäischen Grundrechtsschutzes scheint er mir doch durchaus auch etwas für die Geschichtsbücher zu sein.

Im Urteil Kadi I hatte der EuGH die Aufnahme Kadis in die Terrorliste aufgehoben: Ihm waren nicht einmal die Gründe, wessen und weshalb man ihn verdächtigt, mitgeteilt worden, und das mache es ihm unmöglich, sich zu verteidigen, und verletze seine prozessualen Grundrechte. Damit war Kadi aber noch nicht vom Haken: Die EU-Kommission schickte ihm die Gründe, die sie selbst vom UN-Sanktionsausschuss erhalten hatte – nicht aber die Beweise und Informationen dazu – und nahm ihn auf dieser erneuerten Basis flugs wieder in die Liste auf. Kadi klagte wieder und bekam zuerst in erster und jetzt auch in letzter Instanz Recht.

Kadi I war bei vielen Völkerrechtlern mit einigem Entsetzen aufgenommen worden: Wie kommt der EuGH dazu, Maßnahmen auf Basis von UN-Recht kontrollieren zu wollen? Woher nimmt er das Recht, die Bindung der EU an ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen beiseite zu schieben und den europarechtlichen Grundrechten den Vorrang zu geben?

Unter Kompromissdruck

Der Rat und eine ganze Phalanx nationaler Regierungen bestürmten den EuGH, die Gelegenheit des Kadi II-Urteils zu einem Friedensangebot zu nützen und die umfassende Justiziabilität von Maßnahmen auf Basis des UN-Antiterrorregimes wieder zurückzuschneiden. Auch Generalanwalt Yves Bot schlug in seinen Schlussanträgen einen Kompromiss vor: Bei der Justiziabilität sollte es bleiben, aber die gerichtliche Kontrolle solle sich auf die prozedurale Seite beschränken. Hat der Betroffene erfahren, warum und wessen er verfolgt wird? Wenn ja, dann solle der EuGH Ruhe geben und darauf verzichten, noch nach Beweisen und materieller Begründetheit zu fragen. Das sei dann Sache der UN-Gremien, zumal sich dort seit der Einführung eines Ombudsmans in punkto Rechtsschutz doch auch allerhand verbessert habe.

Der Gerichtshof indessen scheint indessen nicht im Mindesten geneigt, Kompromisse einzugehen.

Eine solche gerichtliche Kontrolle ist unerlässlich, um einen gerechten Ausgleich zwischen der Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit und dem Schutz der Grundfreiheiten und ‑rechte der betroffenen Person, die gemeinsame Werte der UNO und der Union darstellen, zu gewährleisten (…).

Er betont, wie tief diese Maßnahmen in die Freiheitsrechte der Betroffenen eingreifen, in ihr Berufs- und Familienleben, und das mittlerweile seit fast zwölf Jahren, von der Stigmatisierungswirkung ganz zu schweigen.

Einen Ausweg sieht er nur darin, dass die UN selber für effektiven Rechtsschutz sorgt, und zwar nicht durch irgendwelche Ombudsleute, sondern richtig: Sie müsse

es der betroffenen Person (…) ermöglichen, durch ein Nichtigkeitsurteil, mit dem die angefochtene Handlung rückwirkend aus der Rechtsordnung entfernt und so behandelt wird, als ob sie niemals bestanden hätte, gerichtlich feststellen zu lassen, dass die Aufnahme ihres Namens in die fragliche Liste oder seine Belassung auf dieser Liste mit einem Rechtsverstoß behaftet ist, dessen Anerkennung geeignet ist, sie zu rehabilitieren oder für sie eine Form der Wiedergutmachung des erlittenen immateriellen Schadens darzustellen.

Damit scheint er mir noch einmal zu verdeutlichen, dass man die Kadi-Rechtsprechung als eine Art Pendant zu Solange I lesen kann: Solange es auf globaler Ebene keinen adäquaten gerichtlichen Grundrechtsschutz gibt, kümmert sich der EuGH auf europäischer Ebene selber darum. Anders als der Generalanwalt hält der Gerichtshof die Zeit für ein entsprechendes Solange II noch nicht für gekommen.

Beweislastfragen

Einstweilen zeichnet er detailliert einen Weg auf, wie in solchen Fällen künftig zu gewährleisten ist, dass Leute, die auf die Anti-Terror-Liste geraten, sich verteidigen und die Unionsgerichte ihnen effektiven Rechtsschutz gewähren können. Die Kommission müsse dem Betroffenen nicht nur die Begründung, die sie selbst vom UN-Sanktionsausschuss erhalten hat, zukommen lassen, sondern diesen auch

in die Lage versetzen, ihren Standpunkt zu den gegen sie herangezogenen Gründen in sachdienlicher Weise vorzutragen (…).

Dann muss sie prüfen, ob die Einwände des Betroffenen stichhaltig sind. Dazu muss sie notfalls den Sanktionsausschuss um weitere Informationen und Beweise bitten. Auf dieser Basis muss sie nun ihrerseits begründen, warum sie den Betroffenen auf die Liste setzt, und zwar einzelfallbezogen, spezifisch und konkret.

Die Unionsgerichte wiederum überprüfen nicht nur, ob diese Gründe die Maßnahme plausibel machen, sondern auch, ob sie erwiesen sind. Sind sie das nicht, dann gelten sie auch nicht. Wenn die Kommission keine Beweise bringen kann oder will, dann ist das ihr Problem. Eine Begründung, deren Stichhaltigkeit nicht überprüft werden kann, ist keine Begründung, und eine auf sie gestützte Antiterrormaßnahme ist dann halt gegebenenfalls nichtig.

Der Gerichtshof akzeptiert dabei durchaus, dass es Gründe geben kann, Beweise und Informationen nicht dem Betroffenen zu offenbaren. Aber das gelte nicht gegenüber den Unionsgerichten. Diese prüfen, ob die Gründe für die Geheimhaltung ihrerseits stichhaltig sind. Sind sie das nicht, dann fallen diese Informationen, soweit sie dem Betroffenen dann nicht noch mitgeteilt werden, als Begründung aus. Sind sie es doch, dann müsse der Unionsrichter

die Erfordernisse, die mit dem Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, insbesondere der Einhaltung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens, verbunden sind und diejenigen, die sich aus der Sicherheit oder der Gestaltung der internationalen Beziehungen der Union oder ihrer Mitgliedstaaten ergeben, in angemessener Weise zum Ausgleich zu bringen.

Die Kommission kann zB nur eine Zusammenfassung der Begründung an den Betroffenen schicken. Aber wenn dadurch dessen Möglichkeiten, sich zu verteidigen, leiden, dann geht das zu Lasten der Beweiskraft, das stellt der Gerichtshof ausdrücklich klar.

Wenn es auf dieser Basis der Kommission nicht zumindest gelingt, einen ihrer Gründe für die Maßnahme zu beweisen, dann erklärt das Unionsgericht diese für nichtig.

Solange, ja solange…

Ich halte das für richtig. Ich verstehe zwar die Bedenken der Völkerrechtler und sehe auch die Gefahr, dass eine solche Rechtsprechung parochiale Abwehrreflexe gegen globale Konstitutionalisierungstendenzen befördern kann. Aber unterm Strich scheinen mir die Chancen größer zu sein als die Gefahren.

Den gleichen Einwand konnte man ja auch mit guten Gründen gegen die Solange-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ins Feld führen, und das wurde ja auch gemacht von den damaligen Europarechtlern. Aber im Ergebnis war die Solange-Rechtsprechung doch ein Riesenerfolg. Sie hat die Fantasie des EuGH, sich energisch um den Ausbau des europäischen Grundrechtsschutzes zu kümmern, mehr beflügelt als alle grundrechtspolitischen Sonntagsreden.

Wenn der UN-Sanktionsausschuss wirklich weiß und belegen kann, dass Herr Kadi ein Schurke ist, dann wird er EuGH-feste Wege finden, ihn weiter auf der Anti-Terror-Liste zu behalten. Wenn es ihm bzw. seinen US-amerikanischen Büchsenspannern dagegen nur daran gelegen sein sollte, ihr Gesicht zu wahren und keinen Fehler eingestehen zu müssen, dann ist ihm um so mehr zu wünschen, dass er dabei erfolglos bleibt.


4 Comments

  1. Rebusch Thu 18 Jul 2013 at 17:19 - Reply

    Die UN nehmen auch gefälschte US-Unterlagen als bare Münze zur Kenntnis, wie bereits des öfteren geschehen. Solange die USA DEN HAAG nicht als internationales Gericht anerkennen, kann man den UN-Sanktionsausschuss nicht ernsthaft als unparteiisch betrachten und berücksichtigen. Zusätzlich stellt sich die Frage der Legitimation des EuGH. So lange es keine völkerrechtlich von allen Mitgliedsländern frei gewählte Zustimmung zur EU gibt, so lange haben solche Einrichtungen wie das EuGH keine Berechtigung für eine Rechtsprechung. Darüber hinaus fehlt es (schon auf nationaler Ebene in vielen EU-Mitgliedsländern) an frei bestimmten (in Volksabstimmungen gewählten) Verfassungen und damit eben an jeglicher Rechtsgrundlage. So lückenhaft eine Demokratie ist, so lückenhaft bleibt Recht. Das lässt sich ändern.

  2. […] gutes Beispiel hierfür ist der gestrige Artikel im Verfassungsblog zur »Entkafkaisierung des globalen Terrorbekämpfungsregimes«, dass auf ein wichtiges und  hoffentlich folgenreiches Urteil des EuGH aufmerksam […]

  3. O. Sauer Sat 20 Jul 2013 at 16:52 - Reply

    Sehr ansprechender Aufriss der Kadi-Saga.

  4. […] als der EuGH hatte der EGMR bislang die größte Mühe, diese Fragen halbwegs konsistent mit einem kräftigen Ja […]

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