11 December 2013

Dürfen Richter gleichgeschlechtlichen Sex legalisieren?

Indiens Strafgesetzbuch droht Männern und Frauen für “carnal intercourse against the order of nature with any man, woman or animal” schwere Haftstrafen an. Die Norm stammt noch aus britischer Kolonialzeit und ist offenbar weitgehend außer Gebrauch. Aber sie ist in Kraft und wird wohl auch angewandt, um Schwule und Lesben zu drangsalieren.

2009 hat der High Court von Delhi diese Norm, soweit sie einvernehmlichen Sex zwischen Erwachsenen kriminalisiert, in einem historischen Urteil für verfassungswidrig erklärt: Sie verletze Homosexuelle in ihrem Recht auf Privatsphäre und in ihrer Menschenwürde und verletze außerdem das Verbot, wegen des Geschlechts (“sex”) zu diskriminieren.

Heute hat der Supreme Court dieses Urteil kassiert, zum großen Entsetzen der indischen und internationalen LGBT-Community. Die Urteilsgründe sind noch nicht öffentlich, aber offenbar war dem Supreme Court nicht wohl bei dem Gedanken, dass Richter Homosexualität dekriminalisieren und nicht das Parlament.

Soweit ich weiß, ist der indische Supreme Court sonst berühmt dafür, in punkto judicial activism ganz vorne mitzumischen. Seit den 70er Jahren hat er sich mit beispielloser Energie der Aufgabe angenommen, soziale Missstände, Umweltprobleme und Dysfunktionalitäten im Regierungssystem zu beseitigen.

Dass der Politik das nicht gefällt, dass Richter ihren Job erledigen, liegt auf der Hand. Kürzlich hat der Finanzminister der Justiz vorgeworfen, mit ihrem Aktivismus die Wachstumschancen des Landes zu bremsen, und China, Brasilien und Mexiko als Länder mit starker exekutiver Autorität als Vorbild empfohlen.

Ob das heutige Urteil auf diese Kritik reagiert, kann ich nicht beurteilen. Aber wenn ja, würde es mich nicht überraschen. Dass Richter Fälle entscheiden und nicht politische Gestaltungsentscheidungen fällen sollen, ist ja auch anderenorts eine Position mit großer politischer Durchschlagskraft, nicht zuletzt in Großbritannien.

Aber hier? Hier geht es gerade nicht darum, dass irgendein Individuum mit Hilfe sympathisierender Richter seine politischen Vorstellungen, wie wir zusammenleben wollen, der gesamten Gesellschaft aufoktroyiert. Hier geht es im Gegenteil darum, dass die Gesellschaft mit Hilfe sympathisierender Polizisten und Staatsanwälte dem Individuum ihre Vorstellung, was unter dessen Bettdecke passieren bzw. nicht passieren soll, aufokroyiert. Wenn es irgendetwas gibt, was ich von einer Verfassung mit Grundrechtskatalog erwarte, dann, dass sie mich genau davor schützt.

Deshalb kam auch der US Supreme Court vor zehn Jahren in Lawrence v. Texas mehrheitlich zu dem Schluss, dass “Sodomy Laws” in einem freiheitlichen Verfassungsstaat keinen Bestand haben können:

Liberty protects the person from unwarranted government intrusions into a dwelling or other private places. In our tradition the State is not omnipresent in the home. And there are other spheres of our lives and existence, outside the home, where the State should not be a dominant presence. Freedom extends beyond spatial bounds. Liberty presumes an autonomy of self that includes freedom of thought, belief, expression, and certain intimate conduct,

schrieb Justice Kennedy damals.

Ich bin gespannt, was der indische Supreme Court dieser Position entgegenzusetzen hat.

Update: Wie sich herausstellt – nicht viel.


4 Comments

  1. Michèle Finck Wed 11 Dec 2013 at 15:47 - Reply

    Weltweit sind die meisten Fortschritte im Bezug auf Schwulen und Lesbenrechte von Gerichten durchgesetzt worden, von daher ist es sehr überraschend, dass vor allem der Indian Supreme Court das nicht machen will. Die Entscheidung keine Entscheidung zu treffen ist wohl vielmehr eine politische Entscheidung als ein Urteil gegen das Gesetz es gewesen wäre.

  2. Aufmerksamer Leser Wed 11 Dec 2013 at 20:38 - Reply

    Ich sage nur ein Wort: Geschwisterinzest.

  3. Maximilian Steinbeis Wed 11 Dec 2013 at 20:44 - Reply

    @AL Die anderen Wörter dazu kann man in Scalias Dissenting Opinion zu Lawrence v Texas nachlesen: “State laws against bigamy, same-sex marriage, adult incest, prostitution, masturbation, adultery, fornication, bestiality, and obscenity are likewise sustainable only in light of Bowers’ validation of laws based on moral choices.”
    Wo er Recht hat, hat er Recht.

  4. Aufmerksamer Leser Wed 11 Dec 2013 at 20:46 - Reply

    @Max: Ja! Ich sage das ja auch nur, weil unser geliebtes aktivistisches BVerfG ja nicht so komplett vom anderen Ufer ist (verglichen mit dem indischen Ufer).

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