17 January 2014

Mangold hat Grenzen: Zur Horizontalwirkung von EU-Grundrechten

In einer eher unauffällig daherkommenden Entscheidung vom 15. Januar 2014 hat der EuGH die Reichweite seiner Mangold-Rechtsprechung eingeschränkt. Gleichzeitig steht die Rechtsache AMS für eine potentiell weitreichende, aber komplexe Horizontalwirkung von EU-Grundrechten.

In der Mangold-Entscheidung hatte der EuGH das Verbot der Altersdiskriminierung genutzt, um in einem Privatrechtsstreit nationales Recht unangewendet zu lassen. Der allgemeine Rechtsgrundsatz hatte so zur Folge, dass ein privater Arbeitsvertrag teilweise unwirksam war. Lange Zeit konzentrierte sich die Kritik am Mangold-Urteil auf die fragwürdige Herleitung dieses Rechtsgrundsatzes. Dieser war zwar bereits von allen Mitgliedstaaten für Art. 21 der Grundrechtecharta und auch im Sekundärrecht vorgesehen. Da aber beides – die Grundrechtecharta und die entsprechende Richtlinie – noch nicht für den Einzelnen verbindlich waren, sahen viele Kritiker in der Bezugnahme auf den Diskriminierungsgrundsatz eine Umgehungsstrategie des EuGH. Dies war nicht ganz von der Hand zu weisen. Die Grundrechtssprechung des Gerichtshofs war mangels Kodifizierung allerdings auf die Kreativität der Richter angewiesen, und dies kommt auch in Art. 6 Abs. 2 EUV a.F. (Art. 6 Abs. 3 EUV n.F.) zum Ausdruck. Angesichts der Antidiskriminierungsrichtlinie und der Proklamation der Grundrechtecharta hätte man eigentlich zu dem Schluss kommen müssen, dass der EuGH schon einmal kreativer war. Problematischer war schon die Umgehung der mangelnden Richtlinienwirkung. Zum einen wurde bezugnehmend auf eine ältere Richtlinie der Anwendungsbereich der EU-Grundrechte eher konstruiert. Zum anderen verkürzte das Mangold-Urteil faktisch die noch laufende Umsetzungsfrist der Antidiskriminierungsrichtlinie.

Mit dem Lissabon-Vertrag wurde dann die Grundrechtecharta verbindlich. Die Folgerechtsprechung, wie im Urteil Kücükdeveci, war folglich von einem Problem befreit: Die Verbindlichkeit der Grundrechtecharta stand außer Frage. Inzwischen war auch die Richtlinienfrist der Antidiskriminierungsrichtlinie abgelaufen. Der EuGH konnte auf die wacklige Dreirad-Konstruktion im Mangold-Urteil verzichten, wo er sich auf zwei Richtlinien und ein Grundrecht stützen musste. Nun nutzte er das schlanke Tandem von Richtlinie und Grundrecht. Auf der einen Seite eröffnet die Richtlinie den Anwendungsbereich der EU-Grundrecht, und auch das richtlinienwidrige nationale Recht wird zu diesem Zweck als „Durchführung“ des Europarechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 GRC verstanden. Auf der anderen Seite überwindet das Grundrecht die fehlende Horizontalwirkung der fehlerhaft oder nicht umgesetzten Richtlinienbestimmungen.

In der aktuellen AMS-Entscheidung hat der Gerichtshof diesem Konstrukt Grenzen gezogen. Konkret ging es um die von der Richtlinie 2002/14 geregelte Mitarbeiterbeteiligung in größeren Unternehmen. Die Richtlinie sieht als Voraussetzung für ihre Anwendbarkeit einen Schwellenwert an Mitarbeitern vor. Da in Frankreich Auszubildende u.ä. bei der Zählung nicht berücksichtigt wurden, war im Unternehmen AMS der Schwellenwert nicht erreicht. Bei Einbeziehung aller Mitarbeiter wäre die Schwelle überschritten und die Pflicht zur Wahl eines Personalvertreters begründet. Wie der EuGH bereits in einem früheren Fall geurteilthatte, widersprach die Berechnung im französischen Recht aber der Richtlinie. Fraglich war deswegen, ob sich die Arbeitnehmer gegenüber ihrem Arbeitgeber auf die Richtlinie berufen und das nationale Recht für unanwendbar erklären lassen konnten.

Wieder stand eine Tandem-Durchsetzung wie im Urteil Kücükdeveci zur Disposition. Nach Art. 27 GRC wird schließlich auch das mit der Richtlinie umgesetzte Recht auf Anhörung und Unterrichtung von Arbeitnehmern grundrechtlich geschützt:

Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder ihre Vertreter muss auf den geeigneten Ebenen eine rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung in den Fällen und unter den Voraussetzungen gewährleistet sein, die nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen sind.

Der Generalanwalt Cruz Villalón sprach sich denn auch deutlich für das Tandem aus. Auf der einen Seite stehe die Richtlinie, die konkret ist und als Durchführung des Europarechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 GRC gilt. Und auf der anderen Seite haben wir eine Chartabestimmung, die auch in horizontalen Konstellationen der Arbeitnehmervertretung zum Durchbruch verhilft. Dagegen könne zwar sprechen, dass Art. 27 GRC nicht als Grundrecht, sondern als Grundsatz der Grundrechtecharta bezeichnet wird. Und Grundsätze sollen gemäß Art. 52 Abs. 5 GRC gerade nicht direkt einklagbar, sondern nur Kontrollmaßstab für sekundärrechtliche Umsetzungsakte seien. Die vage formulierten Grundsätze sollen die Judikative nicht zur eigenmächtigen Rechtsfortbildung ermächtigen. Da wir es hier aber ja gerade mit einer konkretisierenden Richtlinie zu tun haben, die nur in einer Tandembildung mit dem Grundsatz verwendet werden soll, sah der Generalanwalt keinen Konflikt mit Art. 52 Abs. 5 GRC.

Der Gerichtshof wählte jedoch einen anderen Weg. Der EuGH ging nicht explizit auf die vom Generalanwalt ausführlich thematisierte Frage der Unterscheidung von Grundrechten und Grundsätzen ein. Stattdessen verweigert er mit Bezug auf den individuellen Wortlaut von Art. 27 GRC eine Tandembildung mit der Richtlinie:

Aus dem Wortlaut von Art. 27 der Charta geht somit klar hervor, dass er, damit er seine volle Wirksamkeit entfaltet, durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss. (Rz. 45)

Der Gerichtshof zieht dann eine klare Grenze zu Mangold-Rechtsprechung:

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich die Umstände des Ausgangsverfahrens von denen unterscheiden, die zum Urteil Kücükdeveci geführt haben, da das in Art. 21 Abs. 1 der Charta niedergelegte Verbot der Diskriminierung wegen des Alters, um das es in jener Rechtssache ging, schon für sich allein dem Einzelnen ein subjektives Recht verleiht, das er als solches geltend machen kann. (Rz. 47)

Wir haben es also mit einem der wenigen Fälle zu tun, in denen der EuGH der Effektivität des Europarechts einen Riegel vorschiebt und sich dazu auch noch auf die Wortlautauslegung beruft. In unserem Tandem fällt Art. 27 GRC mangels hinreichender Bestimmtheit aus. Auch die konkrete Richtlinie kann diesen Mangel nicht kompensieren. Das Sekundärrecht kann demnach nur den Anwendungsbereich für die Charta eröffnen. Zur unmittelbaren Anwendbarkeit muss die Grundrechtsbestimmung selbst konkret und hinreichend bestimmt genug sein. Die Arbeitnehmer von AMS sind auf eine richtlinienkonforme Auslegung/Rechtsfortbildung oder Staatshaftungsansprüche verwiesen.

An dieser Stelle mag der Leser skeptisch werden. Wofür hat der EuGH die schier unbegrenzte Reichweite seines Tandems geopfert? Mir scheint, dass der EuGH in diesem Urteil paradoxerweise die Horizontalwirkung der EU-Grundrechtecharta gestärkt hat. Lange wurde nämlich übersehen, dass die Mangold-Rechtsprechung auch ein Fall der Drittwirkung von EU-Grundrechten darstellt. Die Generalanwältin Trstenjak hatte im Fall Dominguez die Drittwirkungsfrage erstmals im Jahr 2011 vor dem Gerichtshof ernsthaft aufgeworfen. Dies war aber von den Richtern schlicht ignoriert worden. Nun in AMS hat die Große Kammer mehr oder weniger explizit ausgesprochen, dass die Grundrechtecharta nicht nur „in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung findet“ (Rz. 42), sondern dass dafür auch nichts weiter nötig ist, als das dem Einzelnen Rechte verliehen werden (Rz. 47).

Kritisch gesehen haben wir es hier mit einem Zirkelschluss zu tun, nach dem nur die Grundrechte drittwirkend sind, die drittwirkend sind. Ich glaube aber, dass der EuGH hiermit auch für die Grundrechtecharta bestätigt, dass die Kernaussage in van Gend & Loos auch über 50 Jahre später noch uneingeschränkt gilt, wonach grundsätzlich jede europarechtliche Norm für den Einzelnen Rechten und Pflichten (sic!) begründen kann (S. 20). Wie auch sonst in der jüngeren Rechtsprechung zu beobachten, hält sich der EuGH mit allgemeinen Aussagen zum Verfassungsrecht zurück und sucht die Lösung im Einzelfall. So kann bis heute auch nicht von einer europäischen Drittwirkungslehre gesprochen werden. Im Europarecht ist die Situation deutlich komplexer. Auch wenn hier für Art. 27 GRC eine Horizontalwirkung verneint wurde, wird der EuGH in der Zukunft oft genug die Möglichkeit haben, anderen Grundrechten horizontale Wirkung zu verleihen. Die Voraussetzung dafür hat er in AMS geschaffen.


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17 January 2014

Mangold at its limits: Horizontal effect of EU fundamental rights

With a seemingly unspectacular decision, the Court of Justice of the European Union (ECJ) significantly limited the scope of the controversial Mangold jurisprudence. At the same time, the AMS judgment indicates a potentially far reaching and complex approach to the idea of horizontal effect of fundamental rights.

In the 2005 Mangold case, the ECJ found that German labour law was incompatible with certain general principles of EU law, specifically, the general principle of non-discrimination based on age, resulting in the partial annulment of a private contract of employment in a labour court lawsuit. The judgment was subject to sustained debate, with critics questioning the pedigree of the general principle. While age discrimination was recognized by Article 21 of the Charter of Fundamental Rights and by the Anti-Discrimination Directive 2000/78/EC, the court was deemed to have circumventing the lack of binding force of the provisions in the Charter (which had not, at that time, entered into force) and the directive. Directives are not supposed to give direct effect horizontally in any case.

There was something to this, but the criticism concentrated on the wrong issue. Considering the broad empowerment to enforce fundamental given in Article 6 TEU (now and then) it does not seem extraordinarily – or improperly –  creative for the Court to draw inspiration from the Charter and directive to derive a general principle prohibiting discrimination on grounds of age. More problematic, however, was the way the ECJ avoided the directive’s limitations: on the one hand, the ECJ adopted a tricky construction of the older directive (that was not really an issue here) in order to find that the facts of the case at hand was within the scope of EU law; On the other hand, the European judges essentially eliminated the transposition period of the Anti-Discrimination Directive, which controlled the substance of the case.

With entry into force of the Lisbon Treaty, the Charter of Fundamental Rights became binding. Thus, subsequent analogous cases – such as Kücükdeveci, avoided the contentious part of the Mangold judgment: the Charter could be relied upon, avoiding the need to rely on the unwritten general principles. In the meantime, the Anti-Discrimination Directive’s transposition period elapsed. The ECJ could get rid of the shaky “tricycle” construction relied on in Mangold, which required the combination of two directives and one fundamental right. Instead, the ECJ could use a slimmer “tandem” version: On the one side, the national law which (wrongly) implemented the directive triggered the application of EU law, allowing the Court to rely, in accordance with Article 51 of the Charter, on the Charter’s fundamental rights provisions; on the other, the fundamental rights provisions allowed the Court to avoid the contentious issue of the horizontal application of directives which had not yet been implemented.

In AMS, the court limited this tandem approach. The case dealt with the right to workers’ representation under Directive 2002/14/EC. The directive only applies to companies with a minimum threshold number of employees. Under French law, trainees were not counted as employees and as a result of which, AMS did not reach the threshold number. Conversely, had trainees been counted, the company would have exceeded the threshold and it would have been obliged to accept a workers’ representative. In fact, the ECJ had previously held, that French law on this point violated the directive. The question now was whether the French courts were allowed to declare the national law inapplicable without violating the prohibition of direct horizontal effect of directives. So, once again the ECJ was presented with a tandem situation, like that in Kücükdeveci. In Article 27 CFR states:

Workers or their representatives must, at the appropriate levels, be guaranteed information and consultation in good time in the cases and under the conditions provided for by Union law and national laws and practices.

This was sufficient for Advocate General Cruz Villalón to approve the tandem in his opinion. On the one hand, there was the detailed directive that opens the scope of application of fundamental rights to the French law (insufficiently) implementing the Directive. On the other hand, the Charter provision could be relied upon by the AMS employees to enforce their right for representation horizontally against the company.

The problem here was whether Article 27 of the Charter, was in fact a fundamental right – or whether it was, instead, a fundamental principle. The Charter distinguishes between principles and rights, stating that principles ought to be not directly enforceable by courts but only to inspire the interpretation and validity of national or European law implementing them (cf. Article 52 Section 5). But considering the purpose of this limitation,(i.e. to leave the development and content of the those principles to specific law) the AMS case does not seem problematic: The tandem constellation aims to enforce the directive’s content and only uses the Charter as support. Therefore, the Advocate General had no problem proposing the tandem notwithstanding Article 52 Section 5 CFR.

But the Luxembourg judges were not convinced. The ECJ did not even consider the details of differentiation between principles and rights, something the Advocate General devoted a significant section of his opinion to. Instead, the ECJ stated that the specific wording of Article 27 CFR precluded the use of the tandem:

It is therefore clear from the wording of Article 27 of the Charter that, for this article to be fully effective, it must be given more specific expression in European Union or national law. (para. 45)

The ECJ then distinguished the case emphatically from the Mangold-jurisprudence:

“In this connection, the facts of the case may be distinguished from those which gave rise to Kücükdeveci in so far as the principle of non‑discrimination on grounds of age at issue in that case, laid down in Article 21(1) of the Charter, is sufficient in itself to confer on individuals an individual right which they may invoke as such” (para. 47).

This looks like it one of the rare cases where the Court relied on the literal wording of the provision, at the cost of restricting the efficiency EU law. The tandem cannot be used since Article 27 CFR is not specific enough to create rights for individuals. And the directive cannot compensate for the Charter’s lack of detail. The role of secondary law in these cases seems to be limited to opening the scope of the Charter’s application. To be directly applicable, the fundamental right must be sufficiently detailed by itself. For the workers at AMS, this means they must try to construe national law in the light of the directive (which was declared impossible by the referring court) or possibly claim state liability (which is not sufficient substitute for this kind of procedural rights).

At this point readers might be confused. Why would the ECJ sacrifice the very effective and almost unlimited reach of the tandem? One answer could be that the decision strengthened the potential of horizontal effect of fundamental rights in the long run. It took quite some time before critics realized Mangold was a case also about horizontal effect of fundamental rights. Advocate General Trstenjak was the first to really discuss this issue before the ECJ in a case called Dominguez in 2011. But the Dominguez judgment did not mention it at all. Now in AMS the court finally spelled out that “fundamental rights guaranteed in the legal order of the European Union are applicable in all situations governed by European Union law” (para. 42) and that the only precondition is that the norm “is sufficient in itself to confer on individuals an individual right” (para. 47).

In a way, this reasoning is circular: Fundamental rights have to confer an individual right to confer an individual right. Nevertheless, we are dealing here with the position that has been well known for over 50 years. In van Gend & Loos the court decided that in principle, every norm of EU law might be able to confer rights and duties (!) on individuals (p. 20). Now, this tenet of EU law has been extended to EU fundamental rights as well. We have gotten used to watching the reticence of the ECJ when making general statements about constitutional issues, preferring instead to adopt case-by-case, individual solutions. It is of no surprise that we do not have any constitutional theory of horizontal effect in EU law. EU law is at once simple and complex. While the court may have refused to apply Article 27 CFR in a horizontal situation, it will – no doubt – have plenty of opportunities to decide on the horizontal effect of other fundamental rights in the future. In AMS the ECJ set the stage for exactly that.


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