Straßburg verschafft sich mehr Durchschlagskraft
Es kommt nicht jeden Tag vor, dass ein Gerichtsurteil von der Richterbank aus in den Urteilsgründen als “wichtigster Beitrag zum Frieden in Europa in der Geschichte des Gerichts” und Beginn einer “neuen Ära in der Durchsetzung der Menschenrechte” gefeiert wird.
So geschehen heute in Straßburg anlässlich der Entscheidung der Großen Kammer des EGMR, die Türkei zu verurteilen, Zypern 90 Millionen Euro zu zahlen, um damit griechisch-zypriotische Opfer türkischer Repressalien bei der Besetzung von Nordzypern 1974 zu entschädigen.
Was ist passiert? Zypern hatte die Türkei wegen Menschenrechtsverletzungen gegenüber griechischstämmigen Zyprioten während der Besatzung und später zur Verantwortung zu ziehen. Am 10. Mai 2001, verurteilte die Große Kammer die Türkei dem Grunde nach: Weil sie das Schicksal von mehr als 1400 Menschen, die während der Besatzung verschwunden waren, nicht aufklären half, weil sie Vertriebene nicht zurückkehren ließ und ihnen ihr Eigentum vorenthielt, weil die nicht vertriebenen Bewohner griechisch-zypriotischer Dörfer auf der Halbinsel Karpas unter massiver Diskriminierung zu leiden hatten, und noch einige Punkte mehr.
Das war vor 13 Jahren. Und was passierte? Nicht viel. Die Verschwundenen blieben verschwunden, die Vertriebenen vertrieben, und der Ministerrat zerstritt sich über die Frage, wie ein bestimmtes Urteil des EGMR auszulegen war.
Der EGMR hatte damals einen Punkt offen gelassen: die Frage nach der Entschädigung. Die forderte Zypern erst 2010 ein und gab damit dem Gerichtshof Gelegenheit, ein paar Dinge klar zu stellen. Und die hat er wahrhaftig genutzt.
Die erste Neuigkeit ist: Auch bei Staatenbeschwerden kann es eine Entschädigung nach Art. 41 EMRK geben. Eine Entschädigung ist eigentlich, wie der Name schon sagt, dazu da, Geschädigte zu entschädigen, und das sind höchstens die verletzten Menschen, aber nicht ein Staat wie die Republik Zypern. Aber das, so die Große Kammer, dürfe man nicht so eng sehen: Das Völkerrechtsprinzip, dass es für eine Rechtsverletzung eine Wiedergutmachung geben müsse, gelte auch bei Staatenbeschwerden. Es komme auf die Art der Beschwerde an: Wenn es dem klagenden Staat dabei vor allem darum gehe, die Rechtsordnung zu verteidigen, sei für eine Entschädigung kein Platz. Wenn der Staat dagegen seinen Bürgern oder anderen Opfern Gerechtigkeit für erlittene Menschenrechtsverletzungen verschaffen wolle, dann schon.
Die zweite Neuigkeit ist, dass diese Entschädigung im Ergebnis einem Strafschadensersatz für hartnäckige Menschenrechtsverletzer sehr ähnlich sieht.
Die dritte Neuigkeit ist, dass die Republik Zypern – vorausgesetzt, die Türkei zahlt – jetzt einen Topf mit 90 Millionen Euro drin zu verteilen hat, ohne dass es wirklich Regeln gibt, wer genau wie viel in welchem Verfahren bekommt. Der Gerichtshof sagt dazu nur, dass es einen “effective mechanism” geben muss, das Geld zu verteilen, dass der Ministerrat das Ganze überwachen soll, und dass das Geld binnen 18 Monaten verteilt sein soll.
Die vierte Neuigkeit scheint mir zu sein, dass der Gerichtshof sich nicht mehr damit zufrieden gibt, Menschenrechtsverstöße festzustellen und die Herstellung rechtmäßiger Zustände den Mitgliedsstaaten und dem Ministerrat zu überlassen. Dass die Türkei den vertriebenen Griechisch-Zyprioten immer noch schuldig ist, das Urteil von 2001 umzusetzen und ihnen ihr Eigentum zurückzugeben, stellt der Gerichtshof in seinem Urteil ausdrücklich fest, obwohl es eigentlich Sache des Ministerrats ist, darüber zu wachen.
Es gibt zwar einen Haufen Concurring und Partly Dissenting Opinions, und vor allem mit dem letzten Punkt sind fünf teils sehr angesehene Kammermitglieder nicht einverstanden. Im Kern aber ist die Mehrheit doch sehr klar: Staaten sollen im Namen von Opfern von Menschenrechtsverletzungen einander auf die Zahlung von Geldsummen verklagen können. Nur der türkische Richter Işıl Karakaş will nicht mitmachen, aber alle anderen sind dafür.
Ich bin nicht Völkerrechtler genug, um beurteilen zu können, was man mit diesem Urteil jetzt über den Zypernkonflikt hinaus womöglich noch alles anfangen könnte. Dazu hoffentlich bald hier aus berufenerem Munde mehr.
Schönes Thema, aber ich denke, wir sollten jetzt erstmal diskutieren, weshalb der Erste Senat schon wieder vom EuGH vorgeführt wird. Stichwort: Suchmaschine/Recht auf Vergessen.
Und: Jajaja. Der Erste Senat ist ja gar nicht vorgeführt worden. Er ist nur wieder der zweite Sieger, wie schon bei der Vorratsdatenspeicherung….
Habe ich das Suchmaschinenurteil des Ersten Senats verpasst oder worauf spielen Sie sonst an?
@Gosman ich glaube er spielt auf das Fehlen eines eben solchen Urteils an …
Wo kein Kläger, da kein Richter. Oder wurde mal eine VB betreffend Google ohne Begründung abgeschmiert?
@Gerd G.: Gucken Sie sich mal an, wozu sich Herr Masing und der Herr Vizepräsident öffentlich äußern (z.B. http://bit.ly/QEkqxq ). Aber ich hatte ja extra für Sie schon geschrieben: Der Erste Senat ist auch in Sachen Google/Facebook et al. unser “Sieger der Herzen”.
[…] im Verfassungsblog schon zu lesen war, hat die Große Kammer des EGMR am 12. Mai 2014 ein Urteil zur Festlegung der […]
[…] Monday, the Court ordered Turkey to pay the Cypriot government a total of 90 million euros in respect of non-pecuniary damage suffered by Greek Cypriots in 1974 during the Turkish invasion of…. As has already been pointed out on this blog, the judgment must be seen in conjunction with a […]