Justice Sotomayor in Berlin: Werk und Autor am US Supreme Court
Sein siebenjähriges Schweigen unterbrach Supreme Court Justice Clarence Thomas bisher nur einmal mit einem genuschelten Witz, den auch die Stenographen nicht verstanden. Oft starrt er stundenlang an die Decke, und niemand weiß, was dieser Mann eigentlich denkt, was seine Urteile treibt, warum er immer konservativer zu werden scheint.
Wie unterschiedlich die Temperamente der Richter am Supreme Court sind, konnte man kürzlich bei der Buchvorstellung von Justice Thomas’ Kollegin Sonia Sotomayor in Berlin erfahren. Justice Sotomayor redet viel und sitzt ungerne still. Im Gang durch den Hörsaal begeistert sie ihr Publikum. Munter erzählt sie Geschichten aus ihrem Leben und dem ihrer Großmutter. Sie präsentiert ihre Biographie als eine von Disziplin getriebene Aufstiegsgeschichte und sich selbst als „baby of affirmative action“. Auch wenn es ihre Kollegen verärgert, nimmt Sonia Sotomayor sich bei Gleichstellungsfragen das Recht heraus, in erster Linie als Aktivistin zu agieren. Seit ihrer Berufung durch Obama im Sommer 2009 bildet Sotomayor das Rückgrat des liberalen Flügels des Supreme Court.
Weder Sotomayor noch Thomas sind weiß. Beide besuchten die Yale Law School, beide stiegen in das höchste Richteramt auf. Am Supreme Court treffen sie jedoch als Antagonisten im amerikanischen Kulturkampf aufeinander, in dem Republikaner und Demokraten unter anderem um die richtige Auslegung der Verfassung ringen. Thomas wird als „originalist“ bezeichnet. Er würde die Auslegung der amerikanischen Verfassung bevorzugt auf den Stand von 1789 zurückversetzen. Sotomayor ist Vertreterin des „transformative constitutionalism“. Nach ihrer Ansicht ist die Geschichte der Verfassung als evolutionärer Prozess zu betrachten, in dem sich neue Ansätze durchsetzen, neue Rechte entstehen und manches Privileg (der old white men) abgeschafft wird – sie sieht die Verfassung als „living document“.
Wenn es um Diskriminierungs- und Minderheitenfragen geht, ist der jeweilige Interpretationsansatz der beiden Richter untrennbar mit ihren politischen Ansichten verbunden, die wiederum Resultat ihrer eigenen Lebenserzählung sind. Thomas hat nach eigenen Angaben unter affirmative action (positiver Diskriminierung) nur gelitten. In Yale fühlte er sich als unwillkommener Gast, und als Richter wurde seine Kompetenz wiederholt in Frage gestellt. Für Sonia Sotomayor war positive Diskriminierung eine Chance. „I don’t have to be ashamed for what I achieved after I got given an opportunity“, sagte sie anlässlich ihrer Buchvorstellung in Berlin.
Keiner von beiden ist dafür bekannt, die Welt schön zu reden oder den Rassismus im eigenen Land zu negieren. Ihre Vorstellungen davon, was das Recht erreichen kann und was es erreichen sollte, sind allerdings sehr unterschiedlich. Sonia Sotomayor wünscht sich ihre „geliebte Welt“ als eine der Chancengleichheit, die nur durch aktives Handeln geschaffen werden könne: „(…)race matters for reasons that really are only skin deep, that cannot be discussed any other way, and that cannot be wished away.” Für Clarence Thomas wird es diese Welt nie geben: “Racism is so profoundly inscribed in the white soul that you also have to dig deep in order to see its full extent. (…) The overt bigotry of the South is merely the surface; its true depths are to be found in the North […] in the genteel white smiles of liberal institutions like Yale Law School.”
Thomas betrachtet Rassismus demnach als eine statische ethische Frage. Rassistische Diskriminierung auch nur teilweise auf sozio-ökonomische Gründe zurückzuführen, wie es seine Kollegin Sotomayor tut, wäre für ihn eine progressive Haltung. Aber Thomas ist nicht progressiv, sondern gilt als konservativster Richter am Supreme Court. Auch hier verquickt sich seine juristische Methode mit seiner persönlichen Erfahrung. Sein düsterer Determinismus und seine tief verwurzelte Auffassung, dass Amerika immer ein Land der Ungleichheit und der (subtilen) Rassentrennung sein wird, deckt sich mit seiner Interpretation der Verfassung. Diese ist eben nicht als lebendiges Organ, als living document, zu betrachten, sondern wird von den orginalists als „dead“ – als tot – behandelt.
Muss man wissen, wo ein Richter politisch und biographisch herkommt, um seine Urteilsvoten interpretieren zu können? Wen kümmert’s, wer spricht, hat jemand gesagt, wen kümmert’s? – sagte einst Samuel Beckett[1] und sehnte sich nostalgisch und wie viele andere nach dem utopischen Traum von der absoluten Objektivität – der Trennung von Werk und Autor.
Diese Objektivität mag bei wissenschaftlichen oder abstrakten Fragen durchaus möglich sein. Bei moralischen und persönlichen Fragen ist dies deutlich schwieriger. So könnte Thomas logische Argumente und empirische Daten anführen, die den Schaden positiver Diskriminierung für die Betroffenen belegen. Sotomayor sagt, sie müsse diese „Ansicht“ respektieren und tolerieren. Andererseits widerstrebt sie ihr so sehr, dass sie ein tiefgehendes persönliches Sondervotum von 58 Seiten schreibt, in dem sie ihre Erfahrungen und politischen Ansichten zur Frage „affirmative action“ wiedergibt.
Richter, die ihrer Objektivität und dem unpersönlichen Diskurs zwischen den Richtern zu große Bedeutung zumessen, sind vielleicht nicht, wie Sotomayor meint, “out of touch with reality”aber ihre Realität ist eine andere, ebenfalls subjektive: Die des alten, weißen, privilegierten Mannes, der noch nie an seiner Zugehörigkeit zur amerikanischen Gesellschaft zweifeln musste. Wahre Objektivität kann es demnach nicht geben.
Am Ende ihrer Buchpräsentation in Berlin wirkt Sonia Sotomayor resigniert. Ein Zuschauer hat sie nach den brutalen Todesstrafen in Alabama gefragt. Die Todesstrafe ist ihrer Ansicht nach (noch) von der Verfassung gedeckt. Auf ihre amerikanische Art antwortet sie: „True change has to come from the people.“ (…) „You cannot expect judges to be the final arbiters of right and wrong.“
[1] Michel Foucault: Was ist ein Autor [1969], in: ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main 1988, S.7-31
Dieser Artikel ist im Rahmen des Seminars “Einführung in das rechtswissenschaftliche Bloggen” an der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden.
Ein schöner Artikel! Aber bitte nicht alles für Wahrheit halten, was der gute alte Foucault so erzählt hat (der hat das selbst nicht geglaubt). Und “Rückgrat des liberalen Flügels”, das ist die ‘Metapher embedded Metapher’, richtig?
@AL: Sie sind einfach super. Nächstes Mal laden wir Sie als Gastdozent in unser Seminar ein.
Darf man dann auch als Gasthörer kommen?
Man sollte grundsätzlich an einer Berliner Universität studieren oder promovieren. Da wir aus diesem Kreis schon nicht alle Interessierten berücksichtigen können, ist es mit der Zulassung Externer schwierig. @Max: Vielleicht sollten wir mal ein Leserseminar anbieten?
[…] Experiment“, wie man in den Vereinigten Staaten oft annimmt? Einer von Sotomayors Kollegen hat affirmative action so erlebt – und nimmt für sich wahr, dass die so Geförderten ständige […]