19 May 2014

Justice Sotomayor in Berlin: Werk und Autor am US Supreme Court

Sein siebenjähriges Schweigen unterbrach Supreme Court Justice Clarence Thomas bisher nur einmal mit einem genuschelten Witz, den auch die Stenographen nicht verstanden. Oft starrt er stundenlang an die Decke, und niemand weiß, was dieser Mann eigentlich denkt, was seine Urteile treibt, warum er immer konservativer zu werden scheint.

Wie unterschiedlich die Temperamente der Richter am Supreme Court sind, konnte man kürzlich bei der Buchvorstellung von Justice Thomas’ Kollegin Sonia Sotomayor in Berlin erfahren. Justice Sotomayor redet viel und sitzt ungerne still. Im Gang durch den Hörsaal begeistert sie ihr Publikum. Munter erzählt sie Geschichten aus ihrem Leben und dem ihrer Großmutter. Sie präsentiert ihre Biographie als eine von Disziplin getriebene Aufstiegsgeschichte und sich selbst als „baby of affirmative action“. Auch wenn es ihre Kollegen verärgert, nimmt Sonia Sotomayor sich bei Gleichstellungsfragen das Recht heraus, in erster Linie als Aktivistin zu agieren. Seit ihrer Berufung durch Obama im Sommer 2009 bildet Sotomayor das Rückgrat des liberalen Flügels des Supreme Court.

Weder Sotomayor noch Thomas sind weiß. Beide besuchten die Yale Law School, beide stiegen in das höchste Richteramt auf. Am Supreme Court treffen sie jedoch als Antagonisten im amerikanischen Kulturkampf aufeinander, in dem Republikaner und Demokraten unter anderem um die richtige Auslegung der Verfassung ringen. Thomas wird als „originalist“ bezeichnet. Er würde die Auslegung der amerikanischen Verfassung bevorzugt auf den Stand von 1789 zurückversetzen. Sotomayor ist Vertreterin des „transformative constitutionalism“. Nach ihrer Ansicht ist die Geschichte der Verfassung als evolutionärer Prozess zu betrachten, in dem sich neue Ansätze durchsetzen, neue Rechte entstehen und manches Privileg (der old white men) abgeschafft wird – sie sieht die Verfassung als „living document“.

Wenn es um Diskriminierungs- und Minderheitenfragen geht, ist der jeweilige Interpretationsansatz der beiden Richter untrennbar mit ihren politischen Ansichten verbunden, die wiederum Resultat ihrer eigenen Lebenserzählung sind. Thomas hat nach eigenen Angaben unter affirmative action (positiver Diskriminierung) nur gelitten. In Yale fühlte er sich als unwillkommener Gast, und als Richter wurde seine Kompetenz wiederholt in Frage gestellt. Für Sonia Sotomayor war positive Diskriminierung eine Chance. „I don’t have to be ashamed for what I achieved after I got given an opportunity“, sagte sie anlässlich ihrer Buchvorstellung in Berlin.

Keiner von beiden ist dafür bekannt, die Welt schön zu reden oder den Rassismus im eigenen Land zu negieren. Ihre Vorstellungen davon, was das Recht erreichen kann und was es erreichen sollte, sind allerdings sehr unterschiedlich. Sonia Sotomayor wünscht sich ihre „geliebte Welt“ als eine der Chancengleichheit, die nur durch aktives Handeln geschaffen werden könne: „(…)race matters for reasons that really are only skin deep, that cannot be discussed any other way, and that cannot be wished away.” Für Clarence Thomas wird es diese Welt nie geben: “Racism is so profoundly inscribed in the white soul that you also have to dig deep in order to see its full extent. (…) The overt bigotry of the South is merely the surface; its true depths are to be found in the North […] in the genteel white smiles of liberal institutions like Yale Law School.”

Thomas betrachtet Rassismus demnach als eine statische ethische Frage. Rassistische Diskriminierung auch nur teilweise auf sozio-ökonomische Gründe zurückzuführen, wie es seine Kollegin Sotomayor tut, wäre für ihn eine progressive Haltung. Aber Thomas ist nicht progressiv, sondern gilt als konservativster Richter am Supreme Court. Auch hier verquickt sich seine juristische Methode mit seiner persönlichen Erfahrung. Sein düsterer Determinismus und seine tief verwurzelte Auffassung, dass Amerika immer ein Land der Ungleichheit und der (subtilen) Rassentrennung sein wird, deckt sich mit seiner Interpretation der Verfassung. Diese ist eben nicht als lebendiges Organ, als living document, zu betrachten, sondern wird von den orginalists als „dead“ – als tot – behandelt.

Muss man wissen, wo ein Richter politisch und biographisch herkommt, um seine Urteilsvoten interpretieren zu können? Wen kümmert’s, wer spricht, hat jemand gesagt, wen kümmert’s? – sagte einst Samuel Beckett[1] und sehnte sich nostalgisch und wie viele andere nach dem utopischen Traum von der absoluten Objektivität – der Trennung von Werk und Autor.

Diese Objektivität mag bei wissenschaftlichen oder abstrakten Fragen durchaus möglich sein. Bei moralischen und persönlichen Fragen ist dies deutlich schwieriger. So könnte Thomas logische Argumente und empirische Daten anführen, die den Schaden positiver Diskriminierung für die Betroffenen belegen. Sotomayor sagt, sie müsse diese „Ansicht“ respektieren und tolerieren. Andererseits widerstrebt sie ihr so sehr, dass sie ein tiefgehendes persönliches Sondervotum von 58 Seiten schreibt, in dem sie ihre Erfahrungen und politischen Ansichten zur Frage „affirmative action“ wiedergibt.

Richter, die ihrer Objektivität und dem unpersönlichen Diskurs zwischen den Richtern zu große Bedeutung zumessen, sind vielleicht nicht, wie Sotomayor meint, “out of touch with reality”aber ihre Realität ist eine andere, ebenfalls subjektive: Die des alten, weißen, privilegierten Mannes, der noch nie an seiner Zugehörigkeit zur amerikanischen Gesellschaft zweifeln musste. Wahre Objektivität kann es demnach nicht geben.

Am Ende ihrer Buchpräsentation in Berlin wirkt Sonia Sotomayor resigniert. Ein Zuschauer hat sie nach den brutalen Todesstrafen in Alabama gefragt. Die Todesstrafe ist ihrer Ansicht nach (noch) von der Verfassung gedeckt. Auf ihre amerikanische Art antwortet sie: „True change has to come from the people.“ (…) „You cannot expect judges to be the final arbiters of right and wrong.“

[1] Michel Foucault: Was ist ein Autor [1969], in: ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main 1988, S.7-31

Dieser Artikel ist im Rahmen des Seminars “Einführung in das rechtswissenschaftliche Bloggen” an der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden.


5 Comments

  1. Aufmerksamer Leser Mon 19 May 2014 at 12:20 - Reply

    Ein schöner Artikel! Aber bitte nicht alles für Wahrheit halten, was der gute alte Foucault so erzählt hat (der hat das selbst nicht geglaubt). Und “Rückgrat des liberalen Flügels”, das ist die ‘Metapher embedded Metapher’, richtig?

  2. Maximilian Steinbeis Mon 19 May 2014 at 22:09 - Reply

    @AL: Sie sind einfach super. Nächstes Mal laden wir Sie als Gastdozent in unser Seminar ein.

  3. Matthias Mon 19 May 2014 at 23:54 - Reply

    Darf man dann auch als Gasthörer kommen?

  4. Alexandra Kemmerer Tue 20 May 2014 at 21:56 - Reply

    Man sollte grundsätzlich an einer Berliner Universität studieren oder promovieren. Da wir aus diesem Kreis schon nicht alle Interessierten berücksichtigen können, ist es mit der Zulassung Externer schwierig. @Max: Vielleicht sollten wir mal ein Leserseminar anbieten?

  5. […] Experiment“, wie man in den Vereinigten Staaten oft annimmt? Einer von Sotomayors Kollegen hat affirmative action so erlebt – und nimmt für sich wahr, dass die so Geförderten ständige […]

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19 May 2014

Justice Sotomayor in Berlin: a case against true objectivity

This year, Supreme Court Justice Clarence Thomas finally broke his seven-year silence, but only by cracking a joke that even the stenographers were unable to comprehend. He spends most Court hearings lounging around in his leather chair, staring at the ceiling. Apparently he is listening, but for years observers of the Supreme Court have wondered what he is thinking, what motivates his judgments and why his opinions seem to get ever more conservative.

Last week we were able to witness a Justice of entirely different temperament, when his colleague Justice Sonia Sotomayor presented her memoire, My Beloved World, in Berlin.

Justice Sotomayor is an avid storyteller and doesn’t particularly like to sit still. She paces through the lecture theatre conveying valuable life lessons. She presents her biography as an aspirational and discipline-driven rise to top, albeit characterising herself humbly as a “baby of affirmative action”. Sotomayor is the driving force of the liberal wing in the Supreme Court. She is as much an activist as a judge, and even if this enrages her colleagues, she sees no reason to attempt a separation of the two.

Neither Sotomayor nor fellow Supreme Court Judge Clarence Thomas is white. Both of them studied at Yale Law School and both were appointed to the highest legal office. But in the chambers of the Supreme Courts they are antagonists in a political battle between Democrats and Republicans that concerns, amongst other things, the correct interpretation of the Constitution. Thomas is an “originalist”: he would like to see the Constitution restored to the meaning it had in 1789. Sotomayor on the other hand, believes in “transformativeconstitutionalism: the historical interpretation of the Constitution cannot be static and must consider the evolution of the meaning of the text and the rights inscribed in it. The Constitution is a seen as a “living document“ that has endured new interpretations, given birth to new rights and rid itself of some of the unequal privileges once afforded to the old white men who were its original authors.

When considering questions of race and equality, both of the Justices’ readings of the Constitution is inextricably linked to their politics, which is a direct result of each of their interpretations of the events of their life.

According to Thomas, he suffered immensely under the stigma of affirmative action. Throughout his time at Yale he felt like an outsider and a guest, and later his competence as a judge was often questioned for the same reason. For Sonia Sotomayor affirmative action was merely a chance, an opportunity like any other. “I don’t have to be ashamed for what I achieved after I got given an opportunity“, she explained.

Neither Sotomayor nor Thomas are known for viewing the world through rose tinted glasses; nor have they ever denied the on-going existence of racism in their own country. But their conceptions of what the law ought to be and what it ought to achieve are violently opposed. The ‘beloved world’ of Sonia Sotomayor needs to be actively transformed into one of equality and equal opportunity:  “(…)race matters for reasons that really are only skin deep, that cannot be discussed any other way, and that cannot be wished away.” Clarence Thomas firmly believes that this world will never exist: “Racism is so profoundly inscribed in the white soul that you also have to dig deep in order to see its full extent. (…) The overt bigotry of the South is merely the surface; its true depths are to be found in the North […] in the genteel white smiles of liberal institutions like Yale Law School.”

Thomas perceives racism as a purely ethical question. To relate questions of racism to issues of class and socioeconomic disparities would be a progressive position, but Thomas is not progressive and is said to be the most conservative judge on the bench of the Supreme Court. Here again, his method of interpretation is the result of personal experience. His grim determinism and ideas that America will always be a country of racial segregation is in line with his interpretation of the constitution, not as a living document, but one that is very much „dead“ and legally barred from resurrection.

Does one need to be familiar with the politics and biography of judges in order to understand their judgements and opinions? “What does it matter who is speaking, someone said, what does it matter who is speaking?” Samuel Beckett once said, alluding to the utopian dream of absolute objectivity – the possibility of separating of work and author.

Such objectivity may seem aspirational when faced with scientific or abstract questions, but impossible when it comes to issues of moral or personal concern. Thomas and his colleagues are capable of making entirely logical and coherent arguments to suggest or even to prove that affirmative action does more harm than good. Sotomayor says that it is her duty to respect and tolerate these views. But she could never entirely accept them. Her objection runs so deep that it inspired a 58-page dissent containing not only every possible political objection but all of her personal experiences with affirmative action as well.

Judges that claim to be objective and demand impersonal debates behind the bench, may not be, as Sotomayor says “out of touch with reality”, but their realty is wholly different and equally subjective. It is usually the perspective of a privileged old, white man that has never had to question his place in the great American society. True objectivity is impossible.

Towards the end of her book presentation, Sonia Sotomayor seems somewhat resigned. A member of the audience has asked her about the brutal and inhuman death sentences in Alabama. Sonia Sotomayor fakes the slightest smile and says: “True change has to come from the people.“ (…) „You cannot expect judges to be the final arbiters of right and wrong.“

 


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