26 July 2014

Die Rettung des Schweizer Käses durch die Härteklausel

In der FAZ vom Donnerstag findet sich ein erwiderungsbedürftiger Kommentar von Kay Hailbronner: Nur weil der EuGH entschieden hat, dass Sprachtests für nachzugswillige türkische Ehegatten unverhältnismäßig sind, müssen wir in Deutschland doch noch lange nichts ändern. Alles prima, wie es ist – eine Position, die der Prozessvertreter des BMI den Richterinnen und Richtern in Karlsruhe seinerzeit schon in Sachen des menschenwürdewidrigen AsylbLG zu verkaufen versuchte, glücklicherweise ohne Erfolg. Die Überschrift von Hailbronners Einlassung lautet: „Der Sprachtest darf bleiben“. Der EuGH, schreibt Hailbronner, habe das Spracherfordernis für den Ehegattennachzug bei türkischen Staatsangehörigen nicht „gekippt“; eventuellen Härtefällen könne „durch verfassungs- und völkerrechtskonforme Auslegung Rechnung getragen werden.“ Für den Nachzug zu deutschen Ehegatten habe das BVerwG das ja auch schon vorgemacht, als es erklärte, dass eine Verzögerung von über einem Jahr aufgrund von Schwierigkeiten beim Sprachtest nicht hinnehmbar sei. Davon habe aber der EuGH „offenbar keine Notiz genommen.“

Rechtsklarheit – wer braucht sowas schon? Die Leute können sich doch einfach bis zu den obersten Bundesgerichte durchklagen, dann bekommen sie am Ende ihr Verfassungs-Recht, auch wenn das vielleicht ein paar Jahre dauert. Immerhin macht Hailbronner dann doch drei gesetzgeberische Optionen aus, die sich nicht in bloßer Auslegung erschöpfen: (1.) eine Einzelfall-Unzumutbarkeitsklausel für Türken, oder (2.) eine für alle Ausländer, oder (3.) eine erweiterte Härtefallklausel für alle, was er als die einfachste Lösung ansieht. „Von der weiter gehenden Forderung, den Deutschtest völlig abzuschaffen“ aber, so Hailbronner, „sollte sich der Gesetzgeber nicht beeindrucken lassen: Es besteht kein Grund, eine als integrationspolitisch sinnvoll erkannte Maßnahme in vermutetem vorauseilendem Gehorsam aufzugeben.“

Was bisher geschah

Naime Doğan ist inzwischen 44 Jahre alt und türkische Staatsangehörige. Ihr langjähriger Ehemann, ebenfalls Türke, lebt seit 1998 in Deutschland, wo er als Geschäftsführer der GmbH arbeitet, deren Mehrheitsgesellschafter er ist. 2011 entschied sich Frau Doğan, mit zwei ihrer vier gemeinsamen Kinder, die zwischen 1988 und 1993 geboren wurden, zu ihrem Mann nach Deutschland zu ziehen. So weit, so einfach – wenn da nicht der Sprachtest wäre. Denn Ehegatten von Ausländern haben einen Anspruch auf ein Familiennachzugsvisum nur, wenn sie „sich zumindest auf einfache Weise in deutscher Sprache verständigen“ können, § 30 I Nr. 2 AufenthG.

Eingeführt wurde das Spracherfordernis, eine nach Art. 7 der Familiennachzugs-RL erlaubte Integrationsmaßnahme, 2008 aus Sicht des Gesetzgebers zum Schutz vor Zwangsehen, zusammen mit dem Mindestalter 18 für den Familiennachzug. Seien die jungen Frauen – es ging vor allem um Frauen – erst einmal in den Schwiegerfamilien angekommen, so das Argument, verschwänden sie dort für immer. Wenn sie wenigstens volljährig wären und deutsch sprächen, könnten sie sich besser gegen Zwangsehen wehren. Im Grunde eine gute Idee – wenn es in vielen Teilen der Welt nicht so schwierig und so teuer wäre, einen Sprachkurs Deutsch zu machen, z.B. in Afghanistan.

Gefordert ist nach § 2 IX AufenthG das „Niveau A 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen“. Der Test umfasst fünf Kompetenzen: Hörverständnis, Gesprächsteilnahme, zusammenhängendes Sprechen, Leseverständnis und Schreiben. Zum Leseverständnis heißt es: „Ich kann einzelne vertraute Namen, Wörter und ganz einfache Sätze verstehen, z. B. auf Schildern, Plakaten oder in Katalogen.“ Zum Schreiben: „Ich kann eine kurze einfache Postkarte schreiben, z. B. Feriengrüße. Ich kann auf Formularen, z. B. in Hotels, Namen, Adresse, Nationalität usw. eintragen.“ Frau Doğans Problem bestand allerdings darin, dass sie Analphabetin ist. Ausnahmen vom Spracherfordernis gibt es freilich nur bei Krankheit oder Behinderung, nicht bei unzureichender Beschulung.

Auf den Kopf gefallen ist Frau Doğan allerdings nicht: 2010 kreuzte sie im Multiple-Choice-Test des Goethe-Instituts die Fragen nach dem Zufallsprinzip an und lernte die geforderten Sätze auswendig. Sie bestand den Test mit „ausreichend“ (62 von 100 Punkten, im schriftlichen Teil mit 14,11 von 25 Punkten). Die Deutsche Botschaft aber machte das nicht mit: Zweimal lehnte sie den Visumsantrag von Frau Doğan ab; sie verfüge trotz der Testergebnisse nicht über die erforderlichen Sprachkenntnisse, weil sie Analphabetin sei.

Für den Ehegattennachzug zu Deutschen, denen eine Eheführung im Ausland nicht zugemutet werden kann, hat das BVerwG bereits 2012 in verfassungskonformer Reduktion mit Blick auf Art. 6 I GG eine Härteklausel eingeführt:

Sind zumutbare Bemühungen zum Erwerb der Sprachkenntnisse ein Jahr lang erfolglos geblieben, darf dem Visumbegehren des Ehegatten eines Deutschen das Spracherfordernis nicht mehr entgegen gehalten werden. Entsprechendes gilt, wenn dem ausländischen Ehepartner Bemühungen zum Spracherwerb von vornherein nicht zumutbar sind, etwa weil Sprachkurse in dem betreffenden Land nicht angeboten werden oder deren Besuch mit einem hohen Sicherheitsrisiko verbunden ist und auch sonstige erfolgversprechende Alternativen zum Spracherwerb nicht bestehen; in diesem Fall braucht die Jahresfrist nicht abgewartet zu werden. Bei der Zumutbarkeitsprüfung sind insbesondere die Verfügbarkeit von Lernangeboten, deren Kosten, ihre Erreichbarkeit sowie persönliche Umstände zu berücksichtigen, die der Wahrnehmung von Lernangeboten entgegenstehen können, etwa Krankheit oder Unabkömmlichkeit. Das erforderliche Bemühen zum Spracherwerb kann auch darin zum Ausdruck kommen, dass der Ausländer zwar die schriftlichen Anforderungen nicht erfüllt, wohl aber die mündlichen.

Frau Doğan, die zu einem Ausländer nachziehen wollte, konnte hiervon nicht profitieren. Inzwischen anwaltlich vertreten, erhob sie Klage beim VG Berlin, welches das Verfahren aussetzte und den EuGH anrief. Denn es hatte große Zweifel, ob die Einführung des Spracherfordernisses für türkische Staatsangehörige gegen das assoziationsrechtliche Verschlechterungsverbot verstößt.

Stillhalteklausel: Vorwärts immer, rückwärts nimmer!

Das Assoziierungsabkommen der EU (damals EWG) mit der Türkei geht zurück ins Jahr 1963. Darin vereinbarten die Vertragsparteien, sich von den heutigen Art. 45-47 und den heutigen Art. 49-52 und 54 AEUV „leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen“ und „untereinander die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit aufzuheben.“ 1970 fügte Art. 41 I des Zusatzprotokolls (ZP) eine Stillhalteklausel hinzu: „Die Vertragsparteien werden untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen.“

Gegen diese Stillhalteklausel verstoße das Spracherfordernis, so nun der EuGH in seiner Antwort auf die Vorlagefrage des VG Berlin. Dabei greift er auf zwei Rechtsprechungslinien zurück:

Die eine basiert auf der Grundentscheidung des EuGH von 2010 in der Rs. Toprak und Oğuz: Zeitlicher Bezugspunkt einer assoziationsrechtlichen Stillhalteklausel – in diesem Fall Art. 13 ARB 1/80 – ist nicht die Rechtslage bei Inkrafttreten, sondern die jeweils günstigste erreichte Rechtslage. Die assoziationsrechtliche Stillhalteklausel bedeutet also, dass es nur vorwärts gehen kann, aber nicht rückwärts. Anuscheh Farahat hat dies als „zeitliche Meistbegünstigungsklausel“ bezeichnet.

Die andere Rechtsprechungslinie betrifft den Daseinsgrund des europäischen Familiennachzugsrechts und der Familiennachzugsrichtlinie: Wenn man die Familie nämlich nicht mitnehmen kann, ist die Freizügigkeit nicht viel wert. Sie zurücklassen zu müssen, kann zur Folge haben, dass die Grundfreiheit gar nicht ausgeübt wird. Diese Erwägung gilt dem EuGH zufolge auch für das türkische Assoziationsrecht – das sich allerdings an den Grundfreiheiten orientiert, nicht an der Unionsbürgerschaft.

Nun zählt der EuGH in Doğan eins und eins zusammen: Die Einführung des Spracherfordernisses beschränkt die Niederlassungsfreiheit von Herrn Doğan, dessen Frau nur unter erschwerten Bedingungen nachziehen kann. Der Sprachtest stellt eine „neue Beschränkung“ i.S.d. Art. 41 ZP dar, weil er erst 2008 eingeführt wurde. Diese ist verboten, wenn sie nicht – wie bei den anderen Grundfreiheiten – durch einen „zwingenden Grund des Allgemeininteresses“ gerechtfertigt und geeignet ist, das angestrebte Ziel zu erreichen, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht.

„Kein Grund für vorauseilenden Gehorsam“?

Bei der Verhältnismäßigkeit aber hakt der EuGH ein. Natürlich seien erleichterte Integration und die Verhinderung von Zwangsehen legitime Ziele – aber eine automatische Ablehnung wegen mangelnder Sprachkenntnisse ohne Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls gehe über das Erforderliche hinaus.

Damit lässt der EuGH offen, ob er Sprachkurse vor Einreise zur Verhinderung von Zwangsehen überhaupt für geeignet und erforderlich hält. Er hat sich – man mag dies judicial restraint nennen – darauf zurückgezogen, dass jedenfalls Härtefallklauseln mit Einzelfallprüfung Grundbedingung einer zulässigen Regelung sind. Die Kommission hatte bereits 2011 deutlich weitergehende Zweifel geäußert, die Niederländer entsprechende Konsequenzen gezogen. Trotzdem „kein Grund für vorauseilenden Gehorsam“?

Tatsächlich bereitet die deutsche Regelung in Sachen Verhältnismäßigkeit auch im Hinblick auf Geeignetheit und Erforderlichkeit Bauchschmerzen. Denn sie ist löcherig wie ein Schweizer Käse. Ausnahmen gibt es nicht nur für Kranke und Behinderte, sondern auch für alle möglichen anderen Gruppen. Zum Beispiel gilt das Spracherfordernis nicht beim Nachzug zu Hochqualifizierten, Forschern und Selbständigen, für deren Tätigkeit ein wirtschaftliches Interesse oder ein regionales Bedürfnis besteht und die positive Auswirkungen auf die Wirtschaft erwarten lassen, § 30 I 2 AufenthG. Es gilt auch dann nicht, wenn die nachziehende Person aufgrund ihres Bildungsgrades als nicht integrationsbedürftig gilt, § 30 I 3 Nr. 3 AufenthG. Und schließlich kann jedermann ohne Sprachtest zu einem Ehegatten nachziehen, dessen Herkunftsstaat aus wirtschaftlichen Gründen auf einer Positivliste steht – Australien, Israel, Japan, Kanada, Korea, Neuseeland, die USA. Hier ordnet der Gesetzgeber den Schutz vor Zwangsehen entweder wirtschaftlichem Kalkül unter, oder er geht davon aus dass so etwas unter „Gentlemen“ nicht vorkommt – selbstredend frei von jeder Empirie.

Demgegenüber werden Krethi und Plethi und insbesondere Türken unter Generalverdacht gestellt und mit Maßnahmen belegt, die erhebliche Kosten erzeugen können. Goethe-Institute befinden sich in der Regel nicht in abgelegenen Regionen, und der beliebte Verweis auf Internet-Sprachkurse wird bei vielen Menschen auf der Welt sicher auch nur ein müdes Lächeln hervorrufen (zumal bei Analphabeten). Und was macht man als Mutter von vier Kindern in einer Fernbeziehung während des Unterrichts eigentlich mit den Kindern, vor allem, wenn der Kurs nicht vor Ort stattfindet? Und woher nimmt man das Geld, den Kurs zu belegen, zum Goethe-Institut zu fahren, gegebenenfalls mehrfach, und den Test zu bezahlen? Wie schnell lernt man eigentlich eine Fremdsprache, wenn man vielleicht noch nicht einmal mit dem Lernen überhaupt vertraut ist und die Sprache dann auch noch mit der eigenen nicht das Geringste zu tun hat?

Rechtfertigen diese zum Teil erheblichen Schwierigkeiten wirklich die empirisch nicht belegte Behauptung, Sprachkenntnisse schützten vor Zwangsehen – können sie wirklich als erforderlich angesehen werden? Wäre es nicht eine bessere Idee, die Leute kämen erst einmal her und lernten dann vor Ort, in einer deutschsprachigen Umgebung, in der sie auch auf Schutzmöglichkeiten und Rechte aufmerksam gemacht werden können? Die Studien des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge legen nahe, dass das bei Integrationskursen gut zu funktionieren scheint.

Vielleicht sollte der deutsche Gesetzgeber doch lieber vorauseilend ganz genau überlegen, ob das Ganze so eigentlich Sinn macht.


10 Comments

  1. Þórsmörk Sat 26 Jul 2014 at 15:19 - Reply

    Danke für diesen guten Beitrag! Ein paar kleinere, weiterführende Fragen hätte ich noch, aber da schreibe ich in den kommenden Tagen noch einen kurzen Text.

  2. Cengiz Barskanmaz Sun 27 Jul 2014 at 13:42 - Reply

    Vielen Dank für diesen sehr gelungenen und kritischen Beitrag. Neben der informativen juristischen Darstellung gefällt mir insbesondere das Ende des Beitrags, wo die beide Autorinnen noch ein mal die stigmatisierende Migrationspolitik Deutschlands in Frage stellen. Trotzdem eine weitergehende Bemerkung: An dieser Stelle wäre es auch angebracht gewesen, das Konzept der Zwangsehe, so wie es zumindest in der Migrationsolitik verhandelt wird, auch anzuzweifeln. Wie viel fundierte Empirie zum Umfang und zur Wirkung von sogenannten “Zwangsehen” steht uns denn überhaupt zur Verfügung?

    Cengiz Barskanmaz

  3. Nora Markard Sun 27 Jul 2014 at 15:14 - Reply

    @Cengiz Barskanmaz: Mir sind als große Studien insbesondere zwei bekannt:
    Fachkommission Zwangsheirat der Landesregierung Baden-Württemberg (2006): Zwangsverheiratung ächten, Opferrechte stärken, Opferschutz gewährleisten, Prävention & Dialog ausbauen! Problembeschreibung, Statistik und Handlungsempfehlungen, Stuttgart
    BMFSFJ (2011): Zwangsverheiratung in Deutschland – Anzahl und Analyse von Beratungsfällen, Berlin.
    Beide Studien beruhen auf Fragebögen, die von Beratungsstellen über von ihnen betreute Fälle ausgefüllt wurden, woraus sich eine beschränkte Aussagekraft der Daten ergibt. Die Studien geben schon deswegen keine einfachen Antworten; insbesondere im Hinblick auf die zweite Studie verwehrten sich die beteiligten Wissenschaftler_innen gegen Vereindeutigungen der damaligen Ministerin Kristina Schröder ohne belastbare empirische Basis; dieser Widerspruch ist dokumentiert unter: http://www.migazin.de/2011/11/28/wissenschaftler-werfen-schroder-das-schuren-antimuslimischer-ressentiments-vor/.
    Die Bedeutung von Sprachkenntnissen ist aber soweit ich sehe in diesen Studien nicht systematisch berücksichtigt worden.

  4. Aufmerksamer Leser Sun 27 Jul 2014 at 16:26 - Reply

    @nora&anna: Treffer, versenkt. Gut gemacht ;-)

  5. Daniel Thym Mon 28 Jul 2014 at 17:16 - Reply

    Sprachlich wurde Kay Hailbronner gewiss versenkt, aber auch argumentativ? Meines Erachtens macht sich der Blogpost die Kritik an meinem Lehrstuhlvorgänger inhaltlich viel zu einfach – aus mindestens vier Gründen:

    1. Nach Ansicht der Autorinnen handelt es sich bei dem DOPPELTEN Regelungsziel der gesellschaftlichen Integration und der Verhinderung von Zwangsehen „natürlich“ um legitime Ziele. Zuvor und danach wird freilich das Regelungsziel „gesellschaftliche Integration“ systematisch ausgeblendet. Die Rede ist nur von Zwangsehen und dies wiederum dürfte kein Zufall sein. Bei der gesellschaftlichen Integration wird speziell die Erforderlichkeit etwas diffiziler zu beurteilen sind, weil die empirischen Wirkungszusammenhänge weniger klar sind, was dogmatisch auf einen gesetzgeberischen Beurteilungsspielraum hinaus laufen dürfte. Das Fazit im letzten Absatz passt in dieser Rigidität nur, wenn man einen zuvor als legitim anerkannten Regelungszweck unter den Tisch fallen lässt.

    2. Ausdrücklich zitiert der Blogpost das BVerwG-Urteil, das grundrechtlich indizierte Ausnahmen vom Sprachtest einfordert – strukturell vergleichbar mit der Forderung des EuGH, die „besonderen Umstände des Einzelfalls“ zu berücksichtigen. Beide Urteile könnte man durch eine ggfls. erweiternde Auslegung i.L.d. Dogan-Urteils sehr gut zusammenführen. Eben dies meint Kay Hailbronner wohl mit der Option einer Konformauslegung. Den vom EuGH unterstellten Automatismus gibt es nicht und es ist schade, dass Luxemburg sich nicht die Mühe macht, die höchstrichterliche Rechtsprechung recherchieren zu lassen (einen zustimmenden BVerfG-Beschluss zum BVerwG-Urteil gibt es auch noch). Warum sich die Autorinnen so prinzipiell an der Konformauslegung stoßen, zumal Kay Hailbronner sich für eine klarstellenden Neuregelung ausspricht, bleibt offen. Auch der Zusatz, dass man sich „ein paar Jahre“ … „bis zu den obersten Bundesgerichte durchklagen (müsse),“ stimmt höchstens für die ersten Fälle. Stabilisierte Konformauslegungen werden durch Behörden und Gerichte angewandt. Das ist juristischer Alltag – und das wissen natürlich auch die Autorinnen, die aber lieber sprachlich zuspitzen anstelle das Argument inhaltlich zu entkräften.

    3. Hinsichtlich der Standstill-Klauseln ist das Urteil kein „Weiter-so“, das einfach frühere Urteile aufgreift. Stattdessen baut der EuGH die Standstill-Klauseln zu Beschränkungsverboten um, indem er – ebenso wie bei den Grundfreiheiten – eine ungeschriebene Rechtfertigungsoption hineinließt. Hiernach sind die Klauseln gerade keine zeitliche Meistbegünstigungen mehr. Verboten sind nur noch Verschlechterungen, die nicht gerechtfertigt werden können (diese Rechtfertigung gab es noch nicht, als Anuscheh Farahat den zitierten Artikel schrieb). Das ist ein dogmatisches Detail, aber dennoch neu.

    4. Nichts des Vorstehenden bedeutet, dass die Behörde vorliegend richtig entschied. Analphabetismus ist gewiss ein Grund, der bei einer Zumutbarkeitsprüfung eine zentrale Bedeutung zukäme (etwa indem man die Prüfung auf mündliche Deutschkenntnisse auf einem Niveau beschränkt, die Analphabeten erreichen können).

  6. Aufmerksamer Leser Mon 28 Jul 2014 at 17:34 - Reply

    @Daniel Thym: Chapeau, manchmal ist die Verteidigung eben besser als das Verteidigte! Aber des einen löchriger Käse bleibt dennoch des anderen Beurteilungsspielraum. Wir könnten jetzt lange philosophieren über den Unterschied zwischen normtexterhaltender Teilverfassungswidrigkeit und verfassungskonformer Auslegung; aber dass die geltende Regelung zu den Sprachtests einer ungeschickten Eselei nicht gänzlich unähnlich ist, denken Sie ja, wenn ich Sie richtig verstehe, auch.

  7. Peter Müller Mon 28 Jul 2014 at 21:33 - Reply

    In Zeiten da tausende unserere türkischen Neumitbürger auf die Straße gehen und “Hamas, Hamas, Juden ins Gas” skandieren einen solchen Artikel zu schreiben ist eine Absurdität sonder gleichen. Aber Sie haben natürlich recht, wir brauchen unbedingt noch mehr türkische Antisemitten hier, damit die Vertreibung der Juden aus Deutschland schneller geht.
    Und es ist natürlich besser, statt Zwangsverheiratungen zu verhindern, die zwangsverheirateten Frauen hier mit Sprachkursen zu versorgen, damit es dann beim Einkaufen für den Ehemann reibungslos läuft.

  8. Matthias Tue 29 Jul 2014 at 08:56 - Reply

    Wenn das mal nicht den einen oder anderen Befangenheitsantrag rechtfertigt :-))

  9. Ibrahim Kanalan Thu 31 Jul 2014 at 12:03 - Reply

    Danke für diesen schönen und kritischen Beitrag.
    Was dem Beitrag insbesondere gelungen ist, ist die Tatsache, dass die Ausnahmen nun zum Regel geworden sind. Aufgrund der bereits bestehenden gesetzlichen und die durch den BVerwG und nunmehr EuGH eingeführten Ausnahmen stellt sich in der Tat die Frage, inwieweit rechtspolitisch und –dogmatisch an den Spracherfordernissen festgehalten werden kann und sollte. Das gilt unabhängig davon, ob die Spracherfordernisse nur die Verhinderung von sogenannten Schein- und Zwangsehen oder auch noch „gesellschaftliche Integration“ als Regelungsziel haben, was Daniel Thym hervorhebt.

    Zunächst einmal, auch wenn selten öffentlich artikuliert wurde, stand schon immer der Verdacht im Raum, dass die Verschärfungen im Jahre 2007 darauf zielten, Ehegattennachzüge vor allem aus dem Nahenosten und der Türkei und mithin Ländern mit einem hohen moslemischen Bevölkerungsanteil (dies gilt im Übrigen auch für Länder wie Kosovo und Bosnien) zu verhindern. Dieser Verdacht wird bestätigt, wenn insbesondere die Gesetzesbegründung und die AZR-Zahlen etwas genau gelesen werden. In der Gesetzesbegründung wird pauschal behauptet, insbesondere in Deutschland lebende Migranten würden sich Mädchen und junge Frauen aus dem Heimatland holen. Wer die AZR-Statistiken studiert und die Ausnahmen für Staatsangehörige bestimmter Staaten, Hochqualifizierte, Forscher etc. berücksichtigt, wird schon ahnen, wer wirklich damit gemeint ist.

    Die Regelung war von Anfang an zumindest aus zwei Gründen hochproblematisch. Zum einen wurde eine bestimmte soziale Gruppe diskriminiert, das sind alle Migrant_innen, die einen Integrationsbedarf haben sollen (Klassenfaktor). Zum anderen wurden Staatsangehörige bestimmter Staaten diskriminiert. Und zwar alle Migrant_innen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines privilegierten Staates wie USA, Kanada, Japan, Südkorea etc. haben. Die Entscheidungen des BVerwG und des EuGH machen die Lage nunmehr noch problematischer und desavouiert im Ergebnis die Intention des Gesetzgebers die Zuwanderung anhand der Faktoren wie soziale Gruppe (Klasse) und Staatsangehörigkeit zu steuern und begrenzen. Laut BAMF (http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Studien/2012-ehegattennachzug.pdf?__blob=publicationFile) waren für das Jahr 2011 ca. 43 % der Ehegattennachzüge zu deutschen, ungefähr 19 % zu türkischen, mehr ca. 6 % zu us-amerikanischen sowie etwa 3,5 % zu japanischen Staatsangehörigen bzw. aus diesen Ländern (= ca. 71 %). Hinzu kommen mehr als 7 % der Familiennachzüge aus Indien. Nimmt man die gesetzlichen Ausnahmen hinzu, ist wohl nicht unwahrscheinlich auf 80 % zu kommen. Das heißt für ca. 80 % der Nachzüge gilt kein Spracherfordernis und damit, das von Daniel Thym betonte Regelungsziel „gesellschaftliche Integration“ im Grunde unbrauchbar – unabhängig davon, ob mit dem Erfordernis einfacher Sprachkenntnisse im Ausland diesem Ziel tatsächlich Rechnung getragen werden kann.

    Dass Kay Hailbronner an der Regelung festhalten will, ist nichts Neues. Denn schon im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens hielt er alles für verfassungs- und rechtskonform. Die wesentliche Frage ist, wird auch der Gesetzgeber an seiner abschreckenden – vor allem an sozialer und ethnischer Herkunft und Staatsangehörigkeit orientierten – Migrationspolitik in einer offenen und multikulturalisierten Gesellschaft und globalisierten Welt festhalten oder nicht! Mit anderen Worten wird der Gesetzgeber weiterhin an einer populistische Symbolpolitik festhalten oder nicht.

  10. FM Thu 14 Aug 2014 at 08:19 - Reply

    Man kann wohl davon ausgehen, dass die Förderung der gesellschaftlichen (Vor-)Integration das maßgebliche Regelungsziel des Gesetzgebers war und ist. Stand die Debatte anfänglich noch deutlich unter dem Eindruck der beabsichtigten Bekämpfung von Zwangsehen, das ist ja so auch öffentlichkeitswirksamer, hat sich m. E. der Fokus längst auf die Förderung der Integration verschoben. Erhellend ist in diesem Zusammenhang auch die im Frühjahr 2014 veröffentlichte Studie des BAMF (http://www.bamf.de/SharedDocs/Meldungen/DE/2014/20140507-heiratsmigrationsstudie.html). Danach halten 88 Prozent derjenigen, die vor der Einreise deutsche Sprachkenntnisse nachweisen mussten, diese Regelung für sinnvoll. Ich sehe nicht, warum diese Regelung – verbunden mit einer ausdrücklichen (nicht auf Türken beschränkten) Härtefallklausel – aufgegeben werden sollte.

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