Ist Deutschland zu nett zu Folterknechten?
Der Kindermörder Magnus Gäfgen wird von der deutschen Justiz unmenschlich behandelt. Er ist Opfer eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK, das Folter und unmenschliche Strafen verbietet. Die beiden Polizisten, die ihn bedroht hatten, um das Leben seines Opfers zu retten, seien nicht hart genug bestraft worden.
So die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heute.
Die Bildzeitungs-Schlagzeile morgen will ich mir mal lieber nicht vorstellen.
Folterverbot ohne Notstands-Vorbehalt
In wünschenswerter Klarheit hat der EGMR klargestellt, dass es keine Ausnahme vom Folterverbot gibt, keine Interessenabwägung, keine Berufung auf einen noch so drastischen Notstand. Weder die Rettung von Menschenleben noch Volk noch Vaterland noch die besondere Grässlichkeit der Tat, die dem Opfer vorgeworfen wird, noch die edlen Motive der Folterer könnten irgendeine Rolle spielen, wenn es darum geht, ob ein Mensch gefoltert werden darf:
Article 3, which has been framed in unambiguous terms, recognises that every human being has an absolute, inalienable right not to be subjected to torture or to inhuman or degrading treatment under any circumstances, even the most difficult. The philosophical basis underpinning the absolute nature of the right under Article 3 does not allow for any exceptions or justifying factors or balancing of interests, irrespective of the conduct of the person concerned and the nature of the offence at issue.
So hatte das auch schon die vorangegangene Kammerentscheidung gesehen. Die allerdings hatte darauf abgestellt, dass Gäfgen nicht länger Opfer dieser Menschenrechtsverletzung sei: Die beiden Polizisten seien immerhin strafrechtlich verurteilt worden.
“manifestly disproportionate”
Das sieht die Große Kammer jetzt entschieden anders: Zwar sei es nicht seine Aufgabe, die Angemessenheit der Strafzumessung zu beurteilen. Und der Fall Gäfgen sei auch nicht vergleichbar mit solchen, wo der Staat tatsächlich seine schützende Hand über Folterknechte hält.
Aber gegen die beiden Polizisten ein “almost token fine” – eine fast symbolische Geldbuße – zu verhängen und sie dann auch noch zur Bewährung auszusetzen – das sei
manifestly disproportionate to a breach of one of the core rights of the Convention (and) does not have the necessary deterrent effect in order to prevent further violations of the prohibition of ill-treatment in future difficult situations.
Dazu kommt, dass die beiden Polizisten ihre Karriere ungebremst fortsetzen konnten, und – noch gravierender – dass Magnus Gäfgen seit drei Jahren auf Prozesskostenhilfe wartet, um auf Schadensersatz klagen zu können, bislang, trotz Intervention des Bundesverfassungsgerichts, vergeblich. Das bringt der deutschen Justiz eine böse Rüge aus Strassburg ein:
(The Court) finds that the domestic courts’ failure to decide on the merits of the applicant’s compensation claim for more than three years raises serious doubts as to the effectiveness of the official liability proceedings in the circumstances of the present case. The authorities do not appear to be determined to decide on the appropriate redress to be awarded to the applicant and thus have not reacted adequately and efficiently to the breach of Article 3 at issue.
Sechs Richter sind allerdings anderer Ansicht, darunter die deutsche Richterin Renate Jaeger: Sie ziehen in Zweifel, ob der Opferstatus von Magnus Gäfgen davon abhängen kann, wie hart die beiden Polizisten bestraft wurden. Außerdem hätte berücksichtigt werden müssen, dass Polizeipräsident Daschner per Aktenvermerk selbst dafür gesorgt habe, dass die Justiz sich des Falles annimmt. Im Grunde sei Deutschland in diesem Fall überhaupt nichts vorzuwerfen.
Der Baum ist giftig, die Frucht nicht
Immerhin: Einen neuen Prozess bekommt Gäfgen nicht. Seiner Behauptung, er habe wegen des durch die Folterdrohung erpressten Geständnisses kein faires Verfahren bekommen (Art. 6 EMRK), schloss sich die Große Kammer nicht an. Gäfgen hatte später im Prozess aus freien Stücken erneut gestanden. Darauf habe man das Urteil stützen können.
Anders als beim Folterverbot gelte das Recht auf ein faires Verfahren nicht absolut, sondern sei Abwägungen zugänglich – soweit dadurch das Folterverbot nicht relativiert wird. Die Linie zieht die Große Kammer wie folgt:
The Court considers that both a criminal trial’s fairness and the effective protection of the absolute prohibition under Article 3 in that context are only at stake if it has been shown that the breach of Article 3 had a bearing on the outcome of the proceedings against the defendant, that is, had an impact on his or her conviction or sentence.
Das Gift des gebrochenen Folterverbots muss also tatsächlich in der Frucht, die zur Verurteilung führt, nachzuweisen sein; die bloße Abstammung der Frucht vom Stamm reicht nicht aus.
Update: Kritische Analyse des Urteils jetzt auf EJIL Talk: Das klare Statement zum Folterverbot sei gut, aber die Richter seien bei der Frage des Beweisverwertungsverbots vor ihrer eigenen Courage zurückgeschreckt.
Although the Court asserts that this case fell into an exception to an otherwise generally applicable rule, whether the exception will eat up the rule remains to be seen.
Dass die Folterdrohung gegen Art. 3 EMRK verstieß, steht (u.a.) bereits
– im Urteil des LG Frankfurt gegen Gäfgen
– in der Revisionsentscheidung des BGH zu Gäfgen
– in der Kammerentscheidung des BVerfG zu Gäfgen
– im Urteil des LG Frankfurt gegen Daschner
– in allen Schriftsätzen der BReg im EGMR-Verfahren.
Der von Ihnen begrüßten Klarstellung bedurfte es deshalb nicht. Und ob man die beteiligten Polizisten etwas härter hätte bestrafen und sich mit der PKH für Gäfgens Schadensersatzprozess etwas mehr hätte beeilen sollen – na ja.
weiß ich auch. Das Wort Klarstellen bezieht sich auf die Rettungsfolter-Debatte. Ist jetzt auch nicht neu in der EGMR-Rechtsprechung, aber verdient doch hervorgehoben zu werden, zumal der EGMR mit der Mahnung, Daschner und Kollegen härter zu bestrafen, unterstreicht, dass hier für jede Art von Relativierung oder Abwägung kein Raum gelassen werden soll.