18 September 2014

Am Tag des Referendums: Notizen aus Edinburgh/Schottland

Donnerstagmorgen, 8:00 am. Über Schottlands Hauptstadt liegt ein grauer Nebelschleier, und die Stadt steht still, fast so, als ob nichts wäre. “Yes oder No, wie auch immer Schottland heute entscheidet, die Sonne wird sich in weiten Teilen des Landes zeigen!”, verspricht jedoch der Wettermann auf BBC. Naja, schau’n wir mal.

8.30 am. Ich mache mich auf den Weg zur Arbeit. Nachdem ich mir im Doppeldeckerbus Richtung Princes Street einen Platz und eine Tageszeitung erkämpft habe, schlage ich die erste Seite auf: Use don’t lose your right to vote! prangt es in fetten Lettern. Das ist wohl das neutralste Statement, das ich seit Tagen gelesen, gesehen oder gehört habe. Lief man durch die Straßen von Edinburgh, so glaubte man, fast schon seine eigene Stimmenauszählung machen zu können. War es der smarte Anzugträger auf dem Weg zur Arbeit, die Mutter mit ihrem rotgelockten Kind, das alte Ehepaar im traditionellen Kilt oder der junge Student, der dich mit einem fröhlichen ‘Heya!’ begrüßte: Jeder zweite unter ihnen präsentierte mit einem Yes– oder No-Button auf der Brust, wie er heute, am 18. September, wählen wird. Das Referendum hat die Menschen in Schottland polarisiert. Die Debatte ist emotional aufgeladen und jeder steht hinter seiner Meinung – und das mit großer Leidenschaft. Ich frage mich: Ist das denn etwas Schlechtes? Wieviel Leidenschaft verträgt eine politische  Meinung? Wie nationalistisch ist der schottische Nationalismus denn nun wirklich, und was ist dran an schottisch-englischer Rivalität?

9:00 am. Ich komme in der Kanzlei an, wo die meisten schon in ihre Arbeit vertieft sind. Ob sie schon wählen war, frage ich Heather, die mir gegenübersitzt. Nein, das mache sie später, antwortet die ganz nüchtern und mir kommt es so vor, als sei ich viel aufgeregter darüber, was heute passiert. Ganz anders reagiert ein schottischer Kollege, den ich später in der Küche treffe. “Klar, ich hab schon Yes gewählt!” strahlt er mir entgegen, während er sich einen Löffel Porridge in den Mund schiebt.

Ich hätte ja nicht gefragt, aber die Schotten haben’s hier nicht so mit dem Wahlgeheimnis. Das habe ich schon Freitag im Pub kapiert, als ich mit Arbeitskollegen das letzte Wochenende vor dem Referendum einläutete. Bei einem Ginger Beer warf ich die Gretchen-Frage in die Runde: “Sagt, wie habt ihr’s denn jetzt mit den Engländern?”.

Zu meiner Verwunderung waren sich alle einig. “Da ist kein Hass zwischen uns. Das sind die Medien, die ein Bild von uns kreieren, das so nicht stimmt, these eijits!”. Einer unter ihnen, der sich bereits als Yes-Wähler geoutet hatte, fügte hinzu: “Ich habe viele schottische Freunde, die anders wählen als ich, so what? Deshalb werfe ich ihnen doch nicht vor, ihr Vaterland zu betrügen.” Bei der Auseinandersetzung zwischen Yes und No gehe es sowieso nicht um ein Anti-England oder schottischen Nationalismus. Die, die raus aus der UK wollen, lehnen Westminter ab, nicht das englische Volk.

Dass alle Yes-Wähler Anti-Tories und alle No-Wähler Unterstützer der Conservative Party unter David Cameron sind, ist in der Runde jedoch umstritten. Ein schottischer Kollege und No-Wähler erklärte, er könne einfach die Vorstellung nicht ertragen, für die Unabhängigkeit zu stimmen und damit den Rest der UK einer “Tory dystopian future” zu überlassen. Andere schien meine Frage sogar zu amüsieren. Das sei doch wieder einmal typisch Englisch, die denken, es dreht sich alles um sie. “Sorry, aber wir haben euch doch schon längst vergessen.” Aha, also doch ein kleiner Seitenhieb.

Mein englischer Mitbewohner Scott, der von uns den Rufnamen “Scotland” bekommen hat – und dagegen übrigens nie protestiert – erzählt mir, dass schottische-englische Sticheleien schon fast eine Tradition sind, das habe nichts mit Nationalismus zu tun. Mit den Schotten kommt er bislang super klar und er glaubt nicht daran, dass das Referendum daran etwas ändern wird. Ob ich das denn nicht kennen würde, solche nachbarlichen Streitigkeiten? Ich muss schmunzeln und denke an all die schönen Beleidigungen, die ich als gebürtige Frankfurterin für einen Offenbacher parat habe.

Aber ist es nun wirklich so harmlos? Wie sieht es aus, wenn man sich direkt auf das politische Schlachtfeld begibt? Die Royal Mile, die wohl belebteste Straße in Edinburgh, war in den vergangenen Wochen Schauplatz für zahlreiche Aktionen der Yes– und No-Kampagne. Ich erinnere mich an eine junge Frau im blauen Yes-Shirt, die einen emotionalen Appell an die Schotten richtete, sich für Schottland und für die Unabhängigkeit zu entscheiden. Ihren Warnungen vor den dreisten Lügen der Westminster-Parties und deren medialen Erpressungstaktiken wurde mit begeistertem Beifall und euphorisiertem “Aye!” begegnet. Weniger emotional, aber ebenso bestimmt, appellierte die No-Kampagne an ihre Wähler. Es schien dem Sprecher jedoch schwer zu fallen, seinen Standpunkt zu verdeutlichen, während ein halbnackter Mann, nur im Kilt gekleidet und das Gesicht mit blauer Farbe bemalt, die Aufmerksamkeit der Menge gewann. Das sollte dann wohl William Wallace sein. Die No-Kampagne sah sich vielen solcher mehr und weniger lustigen Attacken von Verfechtern der schottischen Unabhängigkeit ausgesetzt. Ein Mann, der in einer Rikscha Westminster-Politiker verfolgt und währenddessen den berühmten “Star Wars Imperial March” von Darth Vader abspielt, ist fast schon eine Legende. “Say hello to your imperial masters” ruft er ihnen hinterher und erntet entweder Ignoranz oder verständnisloses Kopfschütteln.

Zurück zur Pub-Runde letzten Freitag: Was ist also dran an dem angeblich übermäßigem Nationalismus in Schottland, der für die ganze Aufregung sorgt? Man erklärte mir, das eigentliche Problem sei, dass der Begriff Nationalismus hier ganz anders verstanden wird als bei uns oder insbesondere in England. “Bei uns geht es da eher um Demokratie, um freie Willensäußerung. Das hat nichts mit dem zu tun, an was ihr Deutschen euch da erinnert, das ist kein Rassismus!” Und außerdem: “Das ist kein Nationalismus. Das ist Patriotismus!”. Natürlich gäbe es auch in Schottland Auswüchse mit stark nationalistischen bis rassistischen Tendenzen, etwa bei den Fans des Fußballvereins Celtic Glasgow, wobei auch deren Ressentiments weniger England als dem Stadtrivalen Glasgow Rangers gelte. Beide Vereine verbindet eine lange und bittere Rivalität, und während die Rangers-Fans stark Pro-Union eingestellt sind, unterstützen die Anhänger der Celtics überwiegend die Yes-Kampagne. Scott, mein englischer Mitbewohner, kann das bestätigen. Es sei hier eine vollkommen andere Geschichte, die Flagge zu hissen und sich zu seiner Nationalität zu bekennen. Er kenne das aus England auch ganz anders, wo man es nicht wagen würde die englische Flagge zu zeigen, wollte man nicht als konservativer Nationalist oder sogar Rassist beschimpft werden.

Später am Freitagabend durchforste ich hierzu das Internet, denn auch in Social-Media-Foren wird heftig diskutiert, kommentiert und getwittert. So kann ich in einem Gruppenchat auf Facebook noch beobachten, wie ein Freund aus der Pub-Runde innerhalb von zwei Stunden zweimal seine Meinung ändert, Yes – No – Yes, und vor allem, warum.

12.30 pm. Zum Lunch treffe ich mich mit Neda, meiner anderen Mitbewohnerin. “Ich hätte wirklich Briefwahl beantragen sollen. Ich glaube, jetzt verpass’ ich meinen Flug!”. Eilig verabschiedet sie sich. Neda muss es noch zu ihrer polling station schaffen, bevor sie sich in den Flieger Richtung Heimat setzt – Brighton. Sie ist gebürtige Perserin, hat aber in England studiert, wo auch der größte Teil ihrer Familie lebt. Neda wird No wählen, aus persönlichen und beruflichen Gründen. “Ich liebe das Leben in Schottland. Ich habe mir hier meine Existenz aufgebaut und meinen Traum erfüllt. Und ich will hier auch bleiben.”

Mal abgesehen davon, wie das Referendum ausgeht: Könnte es in Schottland unangenehm für Neda, Scott und alle anderen werden? Ist nach dem heutigen Tag eine friedliche Koexistenz von Yes- und No-Wählern, Schotten und Engländern noch möglich? Die Wähler in Edinburgh begegnen einander zwar bestimmt, jedoch nicht in extremer Abneigung oder Hass. Die Yes-Anhänger, die ich treffe, kennen – bei aller Leidenschaft, mit der sie für die Unabhängigkeit ihres Landes kämpfen – kein Ressentiment gegen England oder sein Volk. Und vor allem sie sind es, die im Sinne einer fruchtvollen Debatte von ihrem Recht auf das Wahlgeheimnis keinen Gebrauch machen wollen. Viele Häuser in Edinburgh sind mit Yes-Bannern behängt – No-Plakate sieht man nicht annähernd so viele. Auch auf den Straßen genießen die Menschen den politischen Dialog mit der Gegenseite, nur selten werde ich Zeuge von lautstarken Auseinandersetzungen.

5:00 pm. Feierabend, und die Sonne hat sich nur einmal kurz gezeigt. Auf dem Heimweg begegne ich einer kleinen Gruppe von Polizisten. Was die hier machen? Gestern hat es hier wohl eine Reiberei zwischen Yes- und No- Wahlkämpfern gegeben. “No worries, das ist nur zur Sicherheit. Das waren nur ein paar Verrückte, heute ist es doch ganz ruhig.”. Ich frage, wie das denn überhaupt so in den vergangenen Wochen war: Gab es vermehrt aggressive Auseinandersetzungen? Zeitungsberichten und Aussagen mancher Politiker zufolge, soll es in Schottland im Rahmen des Referendums zur social disintegration gekommen sein. Stimmt das? Wie haben Edinburghs Polizisten den Countdown bis zum 18. September erlebt? “Das war doch klar, dass die Emotionen ansteigen würden. Aber solche Berichte sind Übertreibungen – Nothing could be further from the truth!”. Das bestätigte auch der Vorsitzende der Scottish Police Federation in den Medien: Die Menschen in Schottland seien überaus rechtstreu und tolerant. Und es sei absurd zu glauben, der heutige Tag könnte daran etwas ändern.

Ihre Meinung ändern können die Wähler heute aber noch bis 10:00 pm. Dann schließen die polling stations, und Schottland hat entschieden. Jede Stimme zählt, solange es bei einem Kreuz bleibt. You won’t get your “freedom”! Wer beides ankreuzt, Yes und No, der macht seine Stimme ungültig.


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