Stasi-Spitzel: Wer trägt die Beweislast?
War Gregor Gysi ein Stasi-Spitzel? War Manfred Stolpe einer? Ich weiß es nicht und werde mich hüten, es zu behaupten, ich will ja schließlich nicht verklagt werden. Was ich weiß, ist dass es eine Fülle von Rechtsprechung zu der Frage gab, was genau man wissen und beweisen können muss, bevor man die Behauptung in die Welt setzen darf, jemand sei ein Stasi-Spitzel gewesen. Bottom Line: Man darf zwar keine überzogenen Ansprüche an den Wahrheitsbeweis stellen. Aber beweisen können muss ich es schon, wenn ich so etwas über jemanden sage. Wenn das Behauptete nicht lückenlos aufgeklärt und nachgewiesen ist, muss ich das zumindest dazusagen.
Heute kommt indessen aus Straßburg eine Kammerentscheidung des EGMR, die hier – je nach Lesart – einiges durcheinander bringen könnte.
Es geht um einen Fall aus Polen. Dort hatte ein Historiker und Filmemacher namens Grzegorz Michal Braun in einer Radiodiskussion einen bekannten Sprachwissenschaftler der Universität Breslau als Informanten der polnischen Geheimpolizei bezeichnet und damit einen Riesenwirbel ausgelöst. Es kam zu einer Untersuchung an der Universität, die aber zu keinem klaren Ergebnis kam. Unbestritten war, dass der Professor in den 70er und 80er Jahren fünf Mal von der Geheimpolizei befragt worden war, dass er formell als Mitarbeiter registriert war und dass es 1989 eine – mittlerweile verschwundene – zweibändige Akte zu ihm gab.
Kompliziert wird die Geschichte dadurch, dass der polnische Oberste Gerichtshof seit 2005 unterschiedliche Maßstäbe anlegt je nachdem, ob es ein Journalist war, der die Behauptung aufgestellt hat, oder ein Laie: Journalisten, die sich zu Vorgängen von öffentlichem Interesse äußern, müssen nur beweisen, dass sie ihre Recherchemöglichkeiten so sorgfältig wie möglich ausgeschöpft haben. Laien dagegen tragen die volle Beweislast.
Die polnische Justiz kam nun zu dem Schluss, dass Braun kein Journalist sei und daher seine Behauptung als unbewiesen und somit falsch zu werten sei. Braun musste sie öffentlich widerrufen und dem Professor die Prozesskosten ersetzen.
Braun zog nach Straßburg und gewann. Für den EGMR steht dabei die Differenzierung zwischen Journalisten und Nicht-Journalisten im Vordergrund. Brauns Behauptung als “private Äußerung” zu qualifizieren und somit strengeren Anforderungen zu unterstellen als solchen von Journalisten, leuchtet der Straßburger Kammer überhaupt nicht ein – zumal sie im Rahmen einer Radiodiskussion fiel, in der es just um die Entfernung kompromittierter ehemaliger Zuträger der Geheimpolizei aus dem öffentlichen Dienst ging (Lustration). Die Meinungsfreiheit schützt jeden, der an der öffentlichen Debatte teilnimmt, unter welcher Berufsbezeichnung auch immer.
Ob Braun seinen Sorgfaltspflichten genügt und die Tatsachenbasis ausreichend gewesen war, um seine Behauptung zu tragen, will die Kammer nicht entscheiden. Was jedenfalls nicht geht, ist ihn die volle Beweislast schultern zu lassen, nur weil er kein Journalist ist.
Was heißt das nun? Einerseits könnte man das eng verstehen und sagen, Brauns Diskriminierung als angeblicher Nicht-Journalist sei hier das maßgebliche Problem, und weil es die bei uns nicht gibt, endet hier auch die Relevanz dieser Entscheidung. Bei uns sind die Anforderungen an Nicht-Journalisten ja eher leichter statt strenger. Braun wurde der Mund verboten, und das lässt sich nicht auf einer Rechtsbasis rechtfertigen, die öffentliche Debattenteilnehmer je nach Berufsbezeichnung mit zweierlei Maß misst.
Die andere Lesart wäre: Braun wurde die volle Beweislast auferlegt, und das ist das maßgebliche Problem. Ihm wurde mehr abverlangt als nur sorgfältiger Umgang mit Quellen und Informationen, der Zweifel der Unaufklärbarkeit geht voll zu seinen Lasten, und dass er nicht als Journalist akzeptiert wurde, ist als Rechtfertigung dafür völlig untauglich.
Wenn ich der BGH wäre, würde ich die erste Lesart wählen, und das nicht nur, weil es mein Leben einfacher macht. Aber wer weiß?
Das witzige ist ja, dass es in Deutschland genau andersherum ist. Hier gilt das Laienprivileg: Der Laie hat nicht so intensive Recherchepflichten, wie der Journalist. So richtig einleuchtend erscheint mir die polnische Rechtsprechung da in der Tat nicht.
Der Gerichtshof dürfte an die Ungleichbehandlung angeknüpft haben:
“The Court reiterates that the protection of the right of journalists to impart information on issues of general interest requires that they should act in good faith and on an accurate factual basis and provide “reliable and precise” information in accordance with the ethics of journalism (see, for example, Fressoz and Roire, § 54; Bladet Tromsø and Stensaas, § 58, and Prager and Oberschlick, § 37, all cited above). The same principles must apply to others who engage in public debate (see Steel and Morris v. the United Kingdom, no. 68416/01, § 90, ECHR 2005‑II).”
Mit Blick auf die hiesige Rechtslage wirft das die Frage auf, ob umgekehrte Privilegien gerechtfertigt werden können.
@Rensen, ist Ihr Urlaub vom verfassungsblog vorbei? Wissen Sie wo Aufmerksamer Leser steckt?
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