A Tale of two Courts
1. Wenige Jahre vor seinem Selbstmord auf der Flucht vor den Nazis schrieb Walter Benjamin einen berühmt gewordenen Satz: “Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barberei zu sein.” Die Richtigkeit dieser Feststellung wird selten klarer als bei der Berufung auf “christliche und abendländische Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen”, wie es in der unbeholfenen Formulierung des nordrhein-westfälischen Gesetzgebers heißt. Wer sich auf solche beruft, meint auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Das ist nicht nur ein eigentümlicher Anspruch, zumal für einen deutschen Gesetzgeber nach 1945, es übersieht auch, dass die ungeheuerlichsten Totalitarismen des 20. Jahrhundert eben nicht im Orient, sondern im Okzident erdacht und verwirklicht wurden. Doch bringt § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NRW nicht nur ein mißglücktes Geschichtsverständnis zum Ausdruck. Die Norm transportiert auch die Behauptung, dass Muslime, Hindus und Juden, die keinen Wert darauf legen, “jüdisch-christlich” vereinnahmt zu werden, nicht zur Kernkultur der grundgesetzlichen Ordnung gehören. Dass der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts zugunsten einer solchen diskriminierenden Feststellung keine verfassungskonforme Deutung entwickeln wollte, sondern ihre Aufhebung ausführlich unter einem eigenen Gliederungspunkt begründet, erscheint überzeugend. Alles andere hätte ihren fatalen, juristisch keineswegs harmlosen Symbolgehalt verkannt. Befreit werden durch die Aufhebung der Norm aber nicht nur die diskriminierten Religionsgemeinschaften, sondern auch die vermeintlich durch sie privilegierten Christen. Warum sollte sich eine Christin aufgrund ihres Glaubens für eine politische Gemeinschaft vereinnahmen lassen? Und warum sollten die Symbole ihres Bekenntnisses nicht als Religion, sondern nur als “Kultur” zählen? Der Nonnenhabit ist nicht die Volkstracht der grundgesetzlichen Wertegemeinschaft.
2. Bei der Feststellung einer verbotenen Diskriminierung hätte der Senat es bewenden lassen können. Doch die Option, alle religiös gebotene Kleidung aus der öffentlichen Schule zu verbannen, erschien ihm grundrechtsdogmatisch ausgeschlossen, der Eingriff in die Rechte der Beschwerdeführerinnen zu tief. Vorbehaltlich einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden gibt der Senat ihnen das Recht, mit Kopftuch zu unterrichten. Dass das Grundgesetz weder Eltern noch Schülern den Anspruch einräumt, in öffentlichen Schulen von der Konfrontation mit jeweils anderen Religionen oder Religion überhaupt verschont zu bleiben, legt der Senat überzeugend dar. Sein Leitbild einer pluralen, aber nicht konfliktfreien Schule, die eben auch Schule für das gesellschaftliche Leben sein soll, wird man gerne teilen. Ob aber Eingriffsintensität und Tolerierungspflicht dazu hinreichen, dem Gesetzgeber ein anderes nämlich religionsfreies Ideal der Schulpolitik zu verwehren, erscheint weniger zwingend. Tatsächlich fehlen für die dogmatisch überzeugende Beantwortung dieser Frage beiden Seiten klare Argumente. Unbestritten ist, dass öffentliche Schule und öffentliches Dienstverhältnis keine grundrechtsfreie Sphäre stiften. Ebenso unbestritten ist, dass die Grundrechte in diesem Zusammenhang weniger weit reichen als außerhalb. Aber woher kommen die Kriterien für die Grenze zwischen beiden Polen? Die Lösung des Senats, sie beim Vorliegen einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden zu ziehen, passt weder recht zur Organisation der Schulen noch in deren gesetzliches Regime. Das sieht auch der Senat, wenn er auf der staatlichen Seite die Möglichkeit von gesetzlichen oder gesetzlich ermächtigten Ausnahmen zulässt und damit die Religionsfreiheit der Beschwerdeführerinnen unter einen Vorbehalt stellt, der es zumutbar machen soll, im Fall einer konkreten Gefahr “von der Befolgung eines nachvollziehbar als verpflichtend empfundenen religiösen Bedeckungsgebots Abstand zu nehmen, um eine geordnete, insbesondere die Grundrechte der Schüler und Eltern sowie das staatliche Neutralitätsgebot wahrende Erfüllung des staatlichen Erziehungsauftrags sicherzustellen.”
Doch können die Beschwerdeführerinnen ebenso wenig von ihren religiösen Überzeugungen Abstand nehmen wie sich die Schulorganisation auf die Abwehr konkreter Gefahren einzurichten vermag. Der Senat hat überzeugend begründet, dass der Ausschluss der Beschwerdeführerinnen vom Schuldienst einer anspruchsvollen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf, die jedenfalls durch ein diskriminierendes Gesetz nicht geliefert werden kann. Aber den dissentierenden Richtern ist darin zuzustimmen, dass diese Begründung nicht bruchlos zum Erfordernis einer konkreten Gefahr des Schulfriedens führt, einem bisher nur diffus konturiertem Rechtsgut. So könnte das Ideal einer weltanschaulich vielfältigen Schule zu einer dramatischen Verrechtlichung der innerschulischen Verhältnisse führen, die die Problemlösung den direkt Beteiligten aus der Hand nimmt.
3. Andere Gerichte würden sich freuen, wenn sie mit solcher Leichtigkeit von einer Senatsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts abweichen könnten wie der jeweils andere Senat des Gerichts selbst. So nachvollziehbar es ist, die Risiken einer Plenarentscheidung vermeiden zu wollen, so irritierend ist angesichts der Entscheidung des Zweiten Senats aus dem Jahr 2003 aber auch der Eindruck, es hier nicht mit zwei Senaten, sondern mit zwei Gerichten zu tun zu haben, die den institutionellen Rahmen, aber nicht die juristische Argumentation teilen. Soweit § 16 Abs 1 BVerfGG dem Gericht eine Pflicht zur Plenarvorlage auferlegt, mag man bezweifeln, ob der Erste Senat in dieser Entscheidung noch als gesetzlicher Richter agiert hat. Aber sei es: Zu den Ironien dieses Verfahrens gehört es, dass die Gesetzgeber den Spielraum, der ihnen vom Zweiten Senat 2003 eingeräumt wurde, wohl nicht verloren hätten, hätten sie ihn diskriminierungsfrei genutzt. Statt das Abendland schützen zu wollen, hätten sie die Bibel lesen sollen. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um (Sir 3, 27).
Also die “ungeheuerlichsten Totalitarismen des 20. Jahrhunderts” sind nach Ansicht des Verf. “Bestandteil der abendländischen Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen”?? Da lob ich mir doch die meinethalben “unbeholfenen” Formulierungen des NRW-Gesetzgebers.
Lieber Gast,
Sie haben den Beitrag offensichtlich nicht aufmerksam gelesen (vielleicht lag es an der nächtlichen Uhrzeit?). Der Absatz liest sich wie folgt:
“Die Richtigkeit dieser Feststellung wird selten klarer als bei der Berufung auf ‘christliche und abendländische Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen’, wie es in der unbeholfenen Formulierung des nordrhein-westfälischen Gesetzgebers heißt. Wer sich auf solche beruft, meint auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Das ist nicht nur ein eigentümlicher Anspruch, zumal für einen deutschen Gesetzgeber nach 1945, es übersieht auch, dass die ungeheuerlichsten Totalitarismen des 20. Jahrhundert eben nicht im Orient, sondern im Okzident erdacht und verwirklicht wurden.”
Eine Deutung wie Sie sie dem Autor in den Mund legen kann ich hier nicht entnehmen. An der Geschichte des 20. Jahrhunderts lässt sich schwer rütteln, oder?
[…] andere landesrechtliche Bestimmungen – durch die Karlsruher Entscheidung (zum Beschluss schon hier, hier und hier) nun hinfällig geworden? Nicht, wenn es nach der Bayerischen Staatsregierung geht. […]
[…] bin ich auch – à propos Tale of Two Courts – , ob der Zweite Senat das genauso sieht. Der hatte 2009 die Möglichkeiten des BGH, […]
[…] Frage, ob angesichts der Abweichung das Plenum des BVerfG anzurufen war, behandeln etwa Heinig, Möllers und […]
[…] Mit dem Titel seines Beitrags „A Tale of Two Courts“ spielt Christoph Möllers auf die inhaltliche Spannung an, die zweifellos zwischen den beiden […]