Abgewählt
Kosovo feiert eine neue politische Ära
Heute, am 17. Februar, feiert die Republik Kosovo ihren 13. Geburtstag. Doch schon seit Sonntagabend feiern die Kosovaren – trotz Pandemie – auf den Straßen Prishtinas den historischen Sieg der Oppositionspartei Lëvizja Vetëvendosje („Selbstbestimmung“). Am Sonntag fanden die vorgezogenen Parlamentswahlen im Kosovo statt, aus denen die Partei Lëvizja Vetëvendosje (VV) mit Parteichef Albin Kurti als eindeutige Siegerin hervorging. Die alte Riege haben die Kosovaren damit klar abgewählt. Noch kann Kurti auf eine absolute Mehrheit im Parlament hoffen, um seine Wahlversprechen auch ohne Unterstützung des alten „Kriegsflügels“ einlösen zu können. Eine strafrechtliche Verurteilung und die nächsten Präsidentschaftswahlen könnten ihm jedoch noch im Weg stehen.
Der alte „Kriegsflügel“ in die Opposition
Laut zentraler Wahlkommission (KQZ) sind bislang 98.62 % der Wählerstimmen ausgezählt, mit dem Ergebnis, dass VV mit 47.85 %, und damit mit über 374.000 Stimmen, die meist gewählte Partei im Kosovo ist. Mit großem Abstand folgt auf dem zweiten Platz die „Demokratische Partei des Kosovo“ (PDK) mit 17.41 % sowie auf drittem Platz die „Demokratische Liga des Kosovo“ (LDK) mit 13.08 % der Wählerstimmen. Die „Allianz für die Zukunft des Kosovo“ (AAK) erreichte nur 7.43 %, wobei die „Sozialdemokratische Initiative“ NISMA sogar die Fünf-Prozent-Hürde verfehlte.
Seit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovos im Jahr 2008 regierten die sogenannten Kriegsflügel-Parteien in verschiedenen Koalitionen miteinander. Die Bevölkerung macht sie für Armut und Korruption verantwortlich. Für diese Parteien, die sich zum Teil aus den ehemaligen Offizieren der UÇK („paramilitärische kosovarische Befreiungsarmee“) zusammensetzten, stellen die Wahlergebnisse eine historische Niederlage dar. Pünktlich zum Unabhängigkeitstag des Kosovos wählte das kosovarische Volk mit höchster Wahlbeteiligung (47.08 %) seit 2004 offiziell seine alte Riege ab. Ein demokratischer Wandel, der jedoch mit Vorsicht zu genießen ist.
Seit der Unabhängigkeitserklärung der Republik Kosovo fanden insgesamt 6 Parlamentswahlen im jüngsten Staat Europas statt – keine Regierung konnte bislang die vier Jahre Amtszeit überstehen. Albin Kurti mit seiner Partei VV sowie seine Wähler hoffen dieses Jahr jedoch auf Sicherheit und Stabilität – eine wünschenswerte Vorstellung, die allerdings wieder auf Probe gestellt werden kann.
Wahlen als Referendum?
Siegessicher bezeichnete Kurti in den vergangenen Wochen die Parlamentswahlen des 14. Februar als Referendum des kosovarischen Volkes: Bereits Umfragen bezüglich der Regierungstätigkeit Kurtis im Jahr 2020 (Regierung Kurti I) hatten ergeben, dass sein Rückhalt in der Bevölkerung wächst, schließlich möchte Kurti in dem von Wirtschaftskrisen geplagten Land Arbeitsplätze schaffen, Korruption und Vetternwirtschaft bekämpfen und für Gerechtigkeit sorgen – z.B. mit einem Gesetzesvorhaben zur Beschlagnahme von illegal erworbenem Reichtum. Kurti zielte in den aktuellen Parlamentswahlen darauf ab, genügend Wählerstimmen zu bekommen, um keine Koalition mit anderen Parteien eingehen zu müssen. Nach den bisherigen Auszählungen zufolge könnte sich Kurtis Partei von den 120 Parlamentssitzen bislang bis zu 55 Sitze sichern. Art. 64 der kosovarischen Verfassung (KV) schreibt vor, dass 100 Abgeordnete vom Volk gewählt werden, während 20 Sitze für die ethnischen Minderheiten des Vielvölkerstaats Kosovos stets gesichert sind. Für eine absolute Mehrheit braucht Kurti somit 61 Sitze. Bislang sind noch ca. 43.447 Päckchen mit Wählerstimmen der in der Diaspora lebenden Kosovaren auszuzählen. Dabei können in den Päckchen jeweils bis zu drei Wählerstimmen enthalten sein. Die Partei VV gilt in der kosovarischen Diaspora als Favorit, sodass es für Kurtis Partei möglich wäre, noch mehr Wählerstimmen zu erhalten und sich die absolute Mehrheit zu sichern.
Vom Misstrauensvotum 2020 zur Regierung Kurti II
Der Wunsch Kurtis, mit seiner Partei alleine zu regieren, folgt nach dem Sturz der Regierung Kurti I im März 2020 durch das von seinem damaligen Koalitionspartner LDK initiierte Misstrauensvotum. Kurti wurde nach nur 51 Tagen Regierungszeit als Ministerpräsident mitten in der Anfangsphase der Pandemie gestürzt, was eine Verfassungskrise auslöste: Es war nicht klar, ob nach einem Misstrauensvotum Neuwahlen durchzuführen sind oder ob der Staatspräsident einen neuen Ministerpräsidenten vorschlagen und so eine neue Regierung gebildet werden kann. Für letztere Auslegungsalternative entschied sich das Verfassungsgericht mit seinem Urteil vom Mai 2020. Hashim Thaçi, damaliger Präsident des Kosovos, schlug Hoti (LDK) als neuen Ministerpräsidenten vor, welcher mit 61 zu 24 Stimmen vom Parlament gewählt wurde.
Nach Erhebung einer Klage im Juni 2020 von 17 Abgeordneten der Partei VV entschied das Verfassungsgericht jedoch im Dezember 2020, dass die Wahl der Regierung Hoti nicht verfassungsgemäß zustande gekommen sei. Mangels wirksamen Mandates eines mit einer Freiheitsstrafe letztinstanzlich verurteilten Abgeordneten, war die 61. Stimmabgabe für die Hoti-Regierung unwirksam und eine absolute Mehrheit wurde nicht erreicht – so das Verfassungsgericht.
Vjosa Osmani, die seit dem 5. November 2020 nach dem Rücktritt von Hashim Thaçi – der vor einem Sondertribunal der Kriegsverbrechen im Kosovokrieg angeklagt wurde – kommissarisch das Amt der Präsidentin übernommen hatte, löste die Regierung Hoti schließlich auf.
Ein Tränengasangriff und seine weitreichenden Folgen
Was Kurti und seiner Partei die Neuwahlen sicherte, könnte nun jedoch der Grund dafür sein, dass er nicht als Ministerpräsident antreten kann. Aufgrund eines Tränengasangriffs im Parlament im Jahr 2015 wurde Kurti selbst im September 2018 in letzter Instanz zu einer Freiheitsstrafe von 1,5 Jahren mit Aussetzung auf Bewährung von zwei Jahren verurteilt. Es stellt sich deshalb die Frage, ob Kurti sein passives Wahlrecht, also das Recht, als Ministerpräsident gewählt zu werden, verloren haben könnte. Seine Befürworter argumentieren, dass er mangels Haft als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten antreten kann.
Die kosovarische Verfassung enthält keine ausdrücklichen Vorschriften über den Verlust der Wählbarkeit zum Ministerpräsidenten. Art. 29.1 (q) des kosovarischen Wahlgesetzes konkretisiert Art. 71.1 der kosovarischen Verfassung (KV) und bestimmt für den Verlust des passiven Wahlrechts zur Abgeordnetenwahl jedoch:
„Jede Person, deren Name in der Wählerliste erscheint, ist als Kandidat zugelassen, außer wenn er oder sie die in den letzten drei Jahren durch ein rechtskräftiges Gerichtsurteil einer Straftat für schuldig befunden wurde.“
Zwar beziehen sich diese Regelungen auf das passive Wahlrecht zur Abgeordnetenwahl, sie gelten jedoch erst recht für die Wählbarkeit zum Ministerpräsidenten. Aus dem reinen Wortlaut der Norm ließe sich schlussfolgern, dass Kurti sein passives Wahlrecht allein aufgrund des rechtskräftigen Gerichtsurteils verloren hat. Allerdings stellte das Verfassungsgericht in seinem Urteil zum Mandatsverlust fest, dass der Verlust des passiven Wahlrechts im Zusammenhang mit dem Mandatsverlust zu sehen sei und daher eine letztinstanzlich bestätigte Freiheitsstrafe voraussetze:
„(…) Artikel 70.3 (6) der Verfassung (…), der sich auf die Verurteilung eines Abgeordneten bezieht (d.h. die Verurteilung, nachdem er das Mandat errungen hat), lässt annehmen, dass Artikel 29.1 (q) des Wahlgesetzes, der auf Artikel 71.1 der Verfassung beruht, einer Person, die in den letzten drei Jahren vor den Wahlen zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, nicht erlaubt, als Abgeordneter zu kandidieren und das Abgeordnetenmandat zu gewinnen.“
Art. 70.3 (6) kosovarische Verfassung iVm Art. 8.1.6 Gesetz über Rechte und Pflichten des Abgeordneten und Art. 112.1 (a) Wahlgesetz setzt fest:
„Das Mandat eines Abgeordneten der Versammlung endet oder wird ungültig, (…), wenn der Abgeordnete rechtskräftig zu einer ein- oder mehrjährigen Freiheitsstrafe durch ein Gerichtsurteil wegen Begehung einer Straftat verurteilt wird.“
Kurtis Freiheitsstrafe wurde jedoch auf Bewährung ausgesetzt. Inwieweit dies bedeutet, dass er aufgrund der Aussetzung der Strafe sein passives Wahlrecht nicht verloren hat, bleibt fraglich: Einerseits kann im Laufe der Bewährung die ausgesetzte Strafe jederzeit bei Verstoß gegen die Bewährungsauflagen in einer Haft münden und zum anderen ändert dies nichts an der strafrechtlichen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, die das Ansehen eines Volksrepräsentanten in Frage stellen kann. Nichtsdestotrotz sollte die Aberkennung des passiven Wahlrechts restriktiv gehandhabt werden, denn wie das aktive Wahlrecht ist auch dieses verfassungsrechtlich verankert und gehört zu den Grundpfeilern jeder Demokratie.
Inwieweit jedoch Kurtis Traum einer zweiten Ministerpräsidentschaft platzen könnte, bleibt abzuwarten. Würde nämlich die Opposition die Wahl Kurtis zum Ministerpräsidenten anfechten, könnte das die ohnehin kritische Bevölkerung nur noch mehr in die Arme der Partei „Selbstbestimmung“ treiben.
Nächste Hürde: die Präsidentschaftswahl
Doch der Wunsch Kurtis, (fast) alleine und ohne die alte Riege zu regieren, könnte auch durch die Präsidentschaftswahl problematisch werden. Haradinaj (AAK) meldete schon an, für diesen Posten kandidieren zu wollen und Vjosa Osmani will nun ihren Posten als kommissarisch amtierende Präsidentin durch eine Wahl zur Präsidentin der Republik legitimieren. Damit würde zum zweiten Mal in der jungen Geschichte der Republik eine Frau an der Staatsspitze stehen.
Für eine Wahl zum Präsidenten oder zur Präsidentin ist nach Art. 86.4 und Art. 86.5 KV der kosovarischen Verfassung ist eine qualifizierte Mehrheit von 2/3 der Mitglieder erforderlich. Wird diese Mehrheit nicht erreicht, ist in der dritten Runde eine absolute Mehrheit ausreichend, also mindestens 61 Abgeordnetenstimmen. Das Verfassungsgericht hat 2011 jedoch entschieden, dass, falls eine dritte Wahl notwendig wird, ein Quorum von mindestens 80 Abgeordneten für die Beschlussfähigkeit des Parlaments zwingend ist.
Befürchtet wird nun, dass ohne Zusammenarbeit mit den Abgeordneten der Oppositionsparteien die Beschlussfähigkeit des Parlaments nicht erreicht wird. Um das notwendige Quorum zu erreichen, könnte Kurti zwei extreme Schritte gehen: Entweder er schließt sich mit den Abgeordneten der Minderheitenparteien zusammen oder aber er „opfert“ Vjosa Osmani, die nach dem Misstrauensvotum gegen Kurti 2020 ihre Partei LDK für ein Bündnis mit ihm verließ, um mit Haradinaj (AAK) zu kooperieren – auch wenn das als sehr unwahrscheinlich gilt.
Denkbar wäre ebenfalls eine Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Koalitionspartner LDK, denn auch innerhalb dieser Partei lösten die Wahlen Veränderungen aus: Isa Mustafa, der seit 10 Jahren Parteichef der LDK ist, dankte nach Bekanntwerden der Wahlergebnisse ab und macht so Platz für Politiker aus den eigenen Reihen, die Kurti gegenüber positiver gestimmt sind.
Zu hoffen bleibt, dass die vor allem jungen Wähler diesmal nicht von ihren Politikern enttäuscht werden. Nur so wird die kosovarische Bevölkerung merken, welche Macht die Wählerstimme in einer Demokratie hat.
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