Acht Thesen zur Juristerei als Wissenschaft
Im Moment tagt beim Wissenschaftsrat eine Kommission, die den Wissenschaftsstatus der Rechtswissenschaften diskutiert. Dieses Thema: Wie funktioniert die Juristerei als Wissenschaft an den Universitäten? ist wichtig und lange vernachlässigt, wiewohl es in den letzten Jahren eine kleine Konjunktur erlebt hat. Zu lange hat das Fach auf seine institutionelle Macht vertraut, seine Verbindungen zu Politik, Verwaltung und Justiz. Im Öffentlichen Recht waren die 1980er Jahre der Tiefpunkt einer politisierten wissenschaftsvergessenen Disziplin, die keine Fremdsprachen sprach. In diesem Vermachtungszusammenhang sind die Schwächen der Disziplin überdeckt worden, aber auch ihre spezifischen Stärken verloren an Kontur. Das Thema ist komplex, weil sich lange Traditionslinien, aktuelle Entwicklungen im wissenschaftlichen Feld und ein globaler Diskurs über Recht und Rechtswissenschaften überlappen. Einige Thesen seien formuliert:
- Um 1800 – einem entscheidenden Moment in der deutschen Wissenschaftsgeschichte – kulminiert in der anderen großen dogmatischen Disziplin, der Theologie, eine lange vorbereitete entscheidende Entwicklung, die man an Schleiermacher festmachen kann. Theologie wird nun auch als Religionskritik verstanden, Kritik aber ist spätestens seit Kant ein bedeutendes wissenschaftliches Paradigma. Savigny, der entscheidende juristische Epochengenosse Schleiermachers, geht diesen Schritt nicht mit. Jurisprudenz wird nicht zur Rechtskritik und ist es im dominanten rechtswissenschaftlichen Diskurs – trotz einiger Versuche in den 1970ern – bis heute nicht geworden. Man muss kein Anhänger der amerikanischen Critical Legal Studies sein, um anzuerkennen, dass Rechtskritik eine wesentliche Aufgabe der Rechtswissenschaften auch hierzulande sein müsste.
- Das Handwerk juristischer Argumentation auf Grundlage des positiven Rechts zu lehren, ist ein zentrales Element akademischer Rechtswissenschaft. Die Frage ist nur, wie die Wissenschaft mit diesem Handwerk umgeht. Ein großer amerikanischer Meister des internationalen Privatrechts, der die deutschen Rechtswissenschaften gut kennt, meinte einmal: „In Germany, they tend to be mastered by the doctrine, instead of mastering it.“ Mir scheint das sehr treffend. Man kann sich juristische Argumente als eine Sprache vorstellen. In einer Sprache kann man Fehler machen, und man muss lernen, diese zu vermeiden. Aber es wäre ein Irrtum zu glauben, dass man eine Sprache gut beherrscht, wenn man sich darauf beschränkt, Fehler zu vermeiden. Ein offener Umgang mit juristischen Argumenten, der sich bewusst ist, dass sich auch diese weiterentwickeln müssen, tritt in unserer Wissenschaft zu häufig gegenüber der Lehre von Fehlervermeidung zurück. Was tun? Eine gute juristische Lehre muss stets zwei Perspektiven einnehmen, diejenige der gerade herrschenden argumentativen Praxis und die der kritischen Reflexion und des Weiterentwicklungspotential ihrer Argumente. Eine solche Lehre kann es aber nur geben, wenn dem eine entsprechend kritische Forschung vorausgeht.
- Das Problem der Juristenausbildung ist auch ein Problem der Hochschullehrer und ihrer Forschung: Die deutschen Professoren sind nicht schlechter als die Kollegen anderer Fächer, aber ihrer eigenen Ausbildung nach sind sie nicht gut auf Wissenschaft vorbereitet. Sie haben vor der Promotion wenige Seminararbeiten geschrieben, aber sehr viele Fälle gelöst. Viele kompilatorische Qualifikationsarbeiten zeugen von dem Problem. Gerade die Habilitationen werden, dies ist der allgemeine Eindruck, sogar in der Rechtswissenschaft selbst kaum noch rezipiert. Wissenschaftlichkeit wurde in den Rechtswissenschaften sehr lange Zeit über den bürgerlichen Bildungsstand vermittelt, den die Professoren ohnehin hatten, in dem sie in ihren Studium breit lasen und Veranstaltungen anderer Disziplinen besuchten. Das klappt in der Bundesrepublik nicht mehr. Nicht wenige Kollegen ahnen das, klammern sich aber an praktische Inhalte und das Verfassen von Ausbildungsliteratur, anstatt sich dem Problem zu stellen und sich auch nach der Habilitation intellektuell weiterzuentwickeln. Sie drehen die Beweislast und beanspruchen, für sich „richtige“ Rechtswissenschaft zu betreiben. Sie behaupten (siehe 2.), man würde das Proprium der eigenen Disziplin aufgeben, wenn man sich mit anderem als dem positiven Recht in der von ihnen betriebenen Art und Weise beschäftigen würde. Das erscheint als Selbstschutz: Man ist kein guter Praktiker, nur weil man kein Theoretiker ist. Was tun? Schafft man die Habilitation ab, werden schon die Promotionen konventionell, die im Moment noch in deren Windschatten wissenschaftlich viel interessantere Ergebnisse bringen. Gute Wissenschaft lässt sich nicht regulieren, sie entsteht durch Vorbild und auch durch glückliche Fügung. Der Druck, den das Wissenschaftssystem auf die juristischen Fakultäten ausübt, sich auch mit anderen Fakultäten, auch in größeren Forschungszusammenhängen zu bewähren, kann in keinem Fall schaden.
- Die Ausbildung ist zu wenig theoretisch – sie ist aber zugleich zu wenig praktisch. Die einzige Prüfungstechnik, die wirklich Ähnlichkeit mit der juristischen Praxis hat, die Fall-Hausarbeit, tritt gegenüber Klausuren mehr und mehr zurück. Reden und Schreiben werden nicht gelehrt, sondern den „Schlüsselqualifikationen“ überwiesen, die kaum jemand ernst nimmt. Dieses Problem hat auch etwas mit den miserablen Lehrkapazitäten zusammen, für die die juristischen Fakultäten nichts können. Was tun? Neben einer Verknappung der Studienplätze wäre mehr Phantasie bei der Ausgestaltung der Lehrveranstaltungen gefragt: Moot Courts sind hier ein wichtiges Vorbild, die Einführung von Law Clinics, die Lehre von juristischen Schreiben jenseits des armseligen so genannten „Gutachtenstils“ – auch Gutachten können gut geschrieben sein – wären andere.
- Die Stärke der deutschen Rechtswissenschaften hängt umgekehrt auch mit ihrer Unzeitgemäßheit und Modernisierungsskepsis zusammen. Wissenschaftliche Moden wurden gemieden, und der Bezug auf das positive Recht hat dem Fach Identitätskrisen erspart, wie sie etwa die amerikanischen Law Schools im Moment erleben, wenn sie mit der Irrelevanz ihres Lehrstoffs konfrontiert wird. Das bedeutet, dass wir unsere Formen, nachdem wir sie geprüft haben, offensiv gegenüber einem angelsächsischen Modell verteidigen sollten, das auf quantitative Zitatmessung von Papers setzt. Gerechtfertigt würde dieser Widerstand nicht zuletzt durch die ungeheure Neugier auf die deutsche Rechtsordnung und die deutschen Rechtswissenschaften in allen Teilen der Welt – außerhalb der USA. Die deutsche Rechtswissenschaft ist einer der wenigen international relevanten nationalen Wissenschaftsdisziplinen. Allerdings müssen wir diese Neugier auch befriedigen. Dies ist auch in Genres wie Gesetzeskommentierungen und Lehrbüchern möglich – aber eben nicht mehr in deutscher Sprache. Was tun? Es wird darum gehen, ein Übersetzungsprojekt im wörtlichen wie im übertragenen Sinne zu beginnen, in dem wir unseren Zugang zu Recht zu erklären haben, dies aber nicht mehr mit einer rein belehrenden Attitüde tun, die lange Zeit im Umgang mit anderen Rechtsordnungen dominiert hat.
- Der politische Prozess hat gar keine andere Wahl, als auch das Jura-Studium nach Kosten und Nutzen zu befragen. Auf den ersten Blick könnte man hier eine durchaus vernichtende Bilanz ziehen: Zweifelhafte wissenschaftliche Erfolge, die sich etwa in der sehr mageren Beteiligung an Projektforschung zeigen, werden durch ein Versagen in der Lehre ergänzt, das im Repetitorenwesen und einer enorm hohen Mißerfolgsquote in der Abschlussprüfung zum Ausdruck kommt. Das juristische Staatsexamen sorgt für sehr viele verlorene Lebensjahre. Auf den zweiten Blick sieht das Bild anders aus: Die besten 15-20 % Absolventen sind nach internationalen Standards erstklassige Juristen, dies zeigt ihre Werdegang in amerikanischen Law Schools oder in Institutionen wie der Europäischen Kommission. Auch diese Studierenden wurden unter miserablen Bedingungen ausgebildet, für die die Fakultäten nichts können. Was tun? Auf Dauer wird eine gute Juristenausbildung nur durch eine dramatische Verknappung der Studienplätze bei Beibehaltung der bestehenden Lehrkapazitäten funktionieren. Nur mit deutlich weniger Studierenden können wir für die Erfolge und Misserfolge in der Lehre in die Verantwortung genommen werden.
- Das Staatsexamen verkoppelt das Rechtsystem mit der Rechtswissenschaft. Durch das Examen bekommt die deutsche Rechtswissenschaft eine besondere gesellschaftliche Relevanz und relativ großen gesellschaftlichen Einfluss. Zugleich ist die Examensfixierung ein großes Hindernis für die Verwissenschaftlichung der Disziplin. Es gehört zu den Ironien dieses Diskurses, dass in den Fakultäten fast niemand die Abschaffung des Staatsexamen will, obwohl es der Einheit von Forschung und Lehre im Wege steht – oder eben „Forschung“ auf das Verfassen von Ausbildungsliteratur reduziert; während in der Politik viele kritischen Stimmen laut werden, obwohl vieles dafür spricht, dass unser Prüfungswesen der beispiellosen Qualität des Rechtssystems sehr gut tut. Ich würde einem Land ohne Staatsexamen jedenfalls lieber forschen als vor Gericht stehen. In jedem wird der Druck, Drittmittel einzuwerben und interdisziplinär zu arbeiten, Teile der Professoren langsam aus dem Prüfungsbetrieb herausziehen. Was tun, wenn man das Examen nicht abschaffen will? Die Theorie ins Staatsexamen packen und das bedeutet: Wissenschaftsfähige Nebengebiete wie Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung, Rechtssoziologie und Rechtspolitik als Pflichtfächer zu definieren und zum Prüfungsstoff zu machen. „Recht im Kontext“ muss in die Prüfung. Die Rückwirkungen auch für die Forschung wären immens.
- Schließlich – so viel Diskursgläubigkeit sei gestattet – müssen wir als Disziplin über diese Fragen öffentlich debattieren. Nach der Veröffentlichung eines kritischen Artikels zum Stand unseres Faches fragten viele Kollegen Michael Heinig und mich, wie wir uns denn öffentlich derart über das eigene Fach äußern könnten. Die Antwort: Wir sind kein Unternehmen und kein Verband, sondern eine öffentlich finanzierte Wissenschaft. Wir haben eine Pflicht, uns über unsere Stärken und Schwächen öffentlich auszutauschen. Wenn wir davor Angst hätten, wäre diese Angst begründet.
Lieber Herr Professor Möllers,
vielen Dank für diesen wundervollen Beitrag, als Student kann ich Ihnen in allen Punkten nur zustimmen!
Auf der einen Seite brauchen wir auf jeden Fall mehr Theorie!
Theorie heißt für mich nicht das Lösen von Fällen nach dem Motto ” A hat den B einen Nagel in den Kopf gehauen, wer ist Eigentümer?”, sondern eben mehr “Recht im Kontext”!
Zudem: Viel mehr Methodenlehre, dazu kann ich einen sehr guten Artikel von Rüthers empfehlen: Wozu auch noch Methodenlehre?, JuS 2011, 865 ff. (spricht nur für die Rechtswissenschaft, dass so ein Beitrag von einem Prof.em. stammt..)
Mehr Hausarbeiten, Abschaffung des jur.Staatsexamens, dafür ein modularisiertes System mit umfangreichen Abschlussarbeiten.
Au der anderen Seite mehr praktisches Arbeiten: Viel mehr Fremdsprachen, Moot Courts, Praktika.
Law Clinics: Habe gerade auch mit Freunden, die erste unabhängige(100% RDG-konforme) studentische Rechtsberatungsgesellschaft “Student Litigators” gegründet, die auch von vielen namhaften Professoren unterstützt wird, weil sie wissen, dass Klausurenschreiben im beschiss***** Gutachtenstil noch keinen guten Juristen ausmacht.
Dazu gehört aber auch eine deutliche Reduzierung des Pflichstoffes! Hat sich noch nie jemand an den Kopf gefasst und gefragt, warum man Studenten mit hochspeziellen Gebieten wie Baurecht ärgert?
Wer braucht dann noch einmal ein 2.Staatsexamen?
Zwei recht blödsinnige Gedanken, die so wahrscheinlich nur von einem Juristen über Jura kommen können. Wer auf Deutsch nur mit belehrender Attitüde schreiben kann, der wird es auch in anderen Sprachen nicht besser können. Und das es sinnvoll wäre, ein Werk über das deutsche Recht erst gar nicht auf Deutsch zu schreiben, wird mir auch keiner einreden können.
Auch in anderen international anerkannten nationalen Wissenschaftsdisziplinen (doch, die gibt es) wird durchaus auch in anderen Sprachen veröffentlicht, aber eben auch und nicht ausschließlich. Und andersherum gibt es eine Menge Interessierter, die für den besseren Zugang zur deutschen Forschung und Lehre tatsächlich Deutsch lernen, weil muttersprachliche Texte oft eben doch einen Zacken besser sind.
(Gerade Juristen und Ingenieure brauchen doch die Genauigkeit der Worte. Deutsch hat da viele Vorteile gegenüber dem Englischen.)
Das wäre selbst für einen Politiker eine unglaublich eindimensionale Aussage. Für einen Wissenschaftler ist sie unerträglich.
Die Ingenieursfächer an den dafür bedeutenden deustchen Hochschulen haben ganz andere Betreuungsverhältnisse und Durchfallquoten und trotzdem wird man soche Sätze nicht hören.
Mit dem Vorschlag, die deutsche Juristerei zu einer modernen Wissenschaft umzubauen, wird man vor allem und besonders bei den Nichtgeisteswisssenschaftern, die häufig Jura am Rande streifen, auf viel Gegenliebe stoßen. Dafür muss man sich aber erst einmal aus den herbeigeredeten Zwängen lösen.
Gähn.
Das ist doch nun wirklich der Einheitsbrei der rechtswissenschaftlichen Pseudorebellen insbesondere aus dem öffentlichen Recht, alles schon 100mal gelesen.
Tatsächlich würde diese Thesen im Grundsatz fast jeder unterschreiben. Mich stört jedoch der durchaus weitergehende Subtext. In der Rechtswissenschaft ist derzeit und sollte weiterhin Raum sein für theoretischere wie praxisnähere Ansätze. Dem steht es trotz aller Lippenbekenntnisse entgegen, wenn praxisorientiertes Arbeiten von vornherein als “Normklempnerei” verunglimpft oder zumindest implizit als Wissenschaft zweiter Klasse abgewertet wird – wie es etwa geschieht, wenn explizit nur die Grundlagenfächer als “wissenschaftsfähig” gekennzeichnet werden. Im Ãœbrigen ist man auch kein guter Theoretiker, nur weil man kein (guter) Praktiker ist.
Vielleicht sollte man lieber einmal folgende Fragen stellen, die auch der Artikel von Möllers/Heinig, der seinen Gegenstand (Guttenberg) weitgehend verfehlt hat, nicht ansatzweise gestreift hat:
– Wie kann es sein, dass ein im Wesentlichen aus dem Feuilleton abgeschriebener Text von zwei der renommiertesten Vertreter der Zunft – und durchaus keinen (bloßen) Falllösern – mit der Bestnote bewertet wurde?
– Wäre das in den oben gescholtenen 1980er Jahren auch schon möglich gewesen? Hätte das im heutzutage deutlich “dogmatischer” arbeitenden Zivilrecht auch passieren können?
– Haben wir inzwischen vielleicht zumindest in einer Teildisziplin der Rechtswissenschaft inzwischen entgegen aller Jammerei die Situation erreicht, dass wir vor lauter Grundlagen-, Theorie- und Forschungsverbundsseligkeit unser eigenes Handwerkszeug nicht mehr ernst genug nehmen?
Ich kaufe jedenfalls den Befund von der Untertheoretisierung der Rechtswissenschaft zumindest im öffentlichen Recht heute nicht mehr ein. Das Pendel schlägt bei den derzeit tonangebenden Vertretern des Fachs in das entgegengesetzte Extrem aus, das ebensowenig heilsam ist.
Diesen in der eigenen Fachwelt nicht um Beifall heischenden Thesen kann ich weitgehend zustimmen.
Eine ergänzende Frage: Hat die Qualität von Rechtswissenschaft nicht auch mit der Qualität des positiven Rechts zu tun?
Am Beispiel des Sozialrechts: Die Voraussetzungen etwa einer Rechtsdogmatik, die über bereichsspezifische Hilfen bei der Rechtsanwendung hinausgehen und das Sozialrecht in ein den Anforderungen der Wissenschaftstheorie genügendes stimmiges und Rationalität verbürgendes System bringen will, sind Textverlässlichkeit, Konzeptionstreue der Normgeber und eine realistische gesellschaftliche Übereinkunft darüber, was der Sozialstaat mit seinem Sozialrecht leisten kann und soll.
An allem fehlt es. Ohne Textverlässlichkeit kann begrifflich-klassifikatorische Durcharbeitung des Rechtsstoffes nicht gelingen. Gewiss werden Rechtstexte immer Änderungen unterliegen, ohne dass dies schon Dogmatik ausschließt. Sich häufig ändernde Rechtstexte sind auch kein Spezifikum des Sozialrechts. Sind die Änderungen aber so häufig und betreffen diese – teils mehrfach – zentrale Begriffe, vermag die Operationalisierung des Rechtstexts durch Dogmatik kaum mehr zu gelingen. Sozialrechtsregelungen liegen nur selten Regelungskonzepte von einiger Dauer zugrunde und ändern sich diese oft. Erreichen die häufigen Änderungen diese Wirkungstiefe, ändern sich also die Texte der Rechtsquellen fortwährend und die den Texten zugrunde liegenden Regelungskonzepte ebenso, bleibt für Dogmatik nicht viel an Material übrig, mit dem sie ein System mit Anspruch auf gewisse Dauer aufrichten und wachsen lassen kann. Für eine rechtswissenschaftliche, dogmatische Bearbeitung des Sozialrechts fehlt so die Grundlage.
Und es fehlen Textverlässlichkeit und Konzeptionstreue im Sozialrecht nicht nur, sie sind schon nicht möglich. Denn ein in seinen grundlegenden Strukturen verlässliches Sozialrecht setzt eine gesellschaftlich konsentierte Vorstellung davon, was der Sozialstaat leisten kann und soll, voraus – und diese Vorstellung muss auch einen tragfähigen Realitätsbezug haben. Auch daran aber fehlt es. Dem Sozialrecht und seinen häufigen Änderungen liegen letztlich ein Versprechen durch den Sozialstaat und eine gesellschaftliche Erwartung an den Sozialstaat zugrunde, das und die dieser nicht erfüllen kann. Der Sozialstaat hat als Wohlfahrtsstaat mit seinem Programm der beständigen Hebung des Lebensstandards aller hinsichtlich der erfassten Lebenslagen wie der Leistungen immer weiter ausgegriffen, und er muss hierfür Mittel aufwenden, die nicht mehr erwirtschaftet werden können und deshalb durch Schulden gedeckt werden. Dies hat ihn in eine Lage gebracht, in der laufend durch – textlich wie konzeptionell – sich häufig ändernde modifizierende, korrigierende und kompensierende Regelungen zur Rettung („Reform“) des Sozialstaats interveniert wird, ohne dass dies zur Rettung führt. Zugleich hat die Sozialstaatsentwicklung zu Anspruchshaltungen und -erwartungen in der Gesellschaft geführt, die auch durch immer mehr Verteilung von immer mehr Geld an ihre Mitglieder nicht zu befriedigen sind. Deshalb schwankt mit dem Sozialstaat das Sozialrecht zwischen staatlicher Gewährleistung und individueller Verantwortung, Leistungsausweitung und Leistungsbegrenzung, Förderprogrammen und Missbrauchsbekämpfung, Versorgungsausbau und Ausgabenbegrenzung, getrieben von den durch das Bundesverfassungsgericht formulierten Anforderungen des Verfassungsrechts, begrenzt von den Möglichkeiten des Haushalts und begleitet vom Misstrauen aller, die meinen, bei der Zuteilung sozialer Leistungen zu kurz zu kommen oder für deren Finanzierung zu viel beitragen zu müssen.
Dieses Schwanken, das sich in den häufigen und auch konzeptionell wechselnden Änderungen des Sozialrechts ausdrückt, ist durch rechtswissenschaftliche Dogmatik nicht einzufangen und in seinen Resultaten durch Dogmatik nicht mehr verlässlich zu begleiten. Dass für eine rechtswissenschaftliche, dogmatische Bearbeitung des Sozialrechts die Voraussetzungen fehlen, ist daher in der Entwicklung unseres Sozialstaats angelegt.
Hier mag zwar durch mehr Einfachheit, Verständlichkeit und Verlässlichkeit mehr systematische Stimmigkeit herstellbar sein und so auch die Aufrichtung eines dogmatischen Systems ermöglicht werden. Doch müssten hierfür weite Teile des Sozialrechts auf Null gesetzt und neu geschrieben werden. Doch nicht nur kann und wird das nicht passieren. Vielmehr ist die Komplexität des Sozialrechts kein behebbarer Betriebsunfall, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung, nämlich der Durchdringung unserer Gesellschaft von der normativen Mentalität, von der Logik der Verrechtlichung und Vergerechtlichung, und diese Entwicklung hat ihren Preis (Schlink, Der Preis der Gerechtigkeit, in: ders., Vergewisserungen. Über Politik, Recht, Schreiben und Glauben, 2005, S. 137).
Und besonders eindrucksvoll ist die Verrechtlichung und Vergerechtlichung des Sozialen, und wurzelt sie in gesellschaftlichen Entwicklungen, denen mit einer systematische Stimmigkeit einfordernden, rechtswissenschaftlich-dogmatischen Argumentation nicht beizukommen ist. Die politischen Bedingungen für Rechtsetzung im Bereich des Sozialen – Wahlen, Lobbyismus, Verfassungsbezug, Haushaltsorientierung – und auch ihre gesellschaftlichen Bedingungen – Gerechtigkeitserwartungen, Prosperitätsversprechen und Wohlstandsfixierung – werden absehbar bleiben und auch das normative Material wird deshalb absehbar nicht anders und besser werden.
http://de-lege-lata.blogspot.com/2012/01/jura-und-wissenschaft.html
“Auf Dauer wird eine gute Juristenausbildung nur durch eine dramatische Verknappung der Studienplätze bei Beibehaltung der bestehenden Lehrkapazitäten funktionieren. Nur mit deutlich weniger Studierenden können wir für die Erfolge und Misserfolge in der Lehre in die Verantwortung genommen werden.”
Die Vergrößerung der Lehrkapazitäten kommt als Option nicht in den Sinn?
Gibt es denn überhaupt Juristenmangel? Wenn nein, warum braucht es dann so viele neue Juristen?
[…] are tortured with highly specialized fields such as building law?)”, student litigator Arwin Fathi recently asked in a comment on this blog. Well, we are convinced that building law is, beyond its practical relevance, an intellectually […]
[…] US. In a pointed posting, Christoph Möllers has outlined the scientific core of legal scholarship here, and the interrelations between law, politics, economy and society have been discussed […]
[…] beschäftigt, der kommt um die alte und doch immer neue und unerschöpfliche Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft nicht herum. Um innovative Forschung, reflektierte Praxis, intradisziplinären Diskurs und […]