05 April 2021

Achtung vor der „Vereinfachungsfalle“

Die Einladung für den Workshop zeichnet ein passives Bild der Rechtswissenschaft. Im ersten Satz heißt es, dass im politischen Raum verfassungsrechtliche Expertise „angefragt“ wird. Der politische Raum „nutzt“ diese; bisweilen wird sie „entstellt“ und falsch wiedergegeben. Die arme Rechtswissenschaft wird gleichsam gegen ihren Willen aus dem Elfenbeinturm gezerrt.

So einfach ist es natürlich nicht. Speziell der Verfassungsblog verfolgt den umgekehrten Ansatz: Hier drängt die Wissenschaft in die Öffentlichkeit und will ganz bewusst nicht nur von Peers gelesen werden, die sich über Fußnoten freuen und Fachausdrücke verstehen. Ich halte dies für richtig und bin selbst Autor der ersten Stunde, allein damit geht ein Rollenwandel einher.

Die frühere Trennung zwischen den etablierten Standards von Wissenschaft und Rechtspraxis verschwimmt mit dem politischen und öffentlichen Diskurs in einem Maße, wie das früher undenkbar war. Eine Bundestagsanhörung zum Beispiel ist ein vergleichsweise konventionelles Format, wo die Zuhörenden auch dann, wenn sie keine Juraausbildung haben, gewohnt sind, mit juristischen Fachargumenten umzugehen. Ähnliches gilt für bezahlte Fachgutachten. Die Relativität deren Aussagen sind den Adressaten durchaus bewusst.

Ganz anders im öffentlichen Diskurs. Öffentliche Rezipienten wollen und müssen keine Fachdebatten verstehen. Wer sich dorthin begibt, überschreitet den Raum der Wissenschaft und der institutionalisierten Politikberatung – und läuft damit zwangsläufig Gefahr, dass argumentative Nuancen verloren gehen. Caspar Hirschi zeigte in der FAZ pointiert, wie die Wissenschaft außerhalb der institutionell geschützten Räume immer auch Gefahr läuft, jenseits ihrer methodischen Expertise unterschwellig anderweitige Ziele zu verfolgen.

Es gilt die Logik der sozialen Medien. Gatekeeper sind weitgehend verschwunden und die Aufmerksamkeit gehört steilen Thesen, die sich in Echokammern verstärken können. Wer auf dem Verfassungsblog oder andernorts sich zu politisch salienten Themen wie Migration oder Corona pointiert äußert, kann sich nicht darauf zurückziehen, doch bloß Wissenschaftler zu sein, wenn Twitter die Thesen aufgreift. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies passiert, ist im Verfassungsrecht besonders groß, weil das Grundgesetz nicht der Rechtswissenschaft gehört und im öffentlichen Diskurs nicht nur als juristisches Instrument verwendet wird.

Zwischen Twitter-Debatten mit Tausenden von Followern und formalisierten Bundestagsanhörungen gibt es einen breiten Raum, wo institutionell geschützte Debatten mit breiten öffentlichen Diskussionen verschwimmen. Wenn klassische Medien wie die FAZ oder der Deutschlandfunk mit Forschenden sprechen, erfolgt in der Regel eine kontrollierte und zuverlässige Rezeption.

Auch Namensartikel und der Verfassungsblog sprechen typischerweise in einen Raum sachlicher Debatten, doch es gibt Ausreißer – und zwar gerade bei akut sensiblen Themen wie Migration 2015/16 oder aktuell in der Pandemie. Dann gewinnen wissenschaftliche Akteure eine öffentliche Rolle.

Vorsicht vor der „Vereinfachungsfalle“

Jenseits des Elfenbeinturms, der institutionalisierten Politikberatung und der etablierten Medien droht die Rechtswissenschaft in eine „Vereinfachungsfalle“ zu stolpern. Ein grundlegendes Kennzeichen der Wissenschaft ist ein kritischer Rationalismus, der das eigene Ergebnis überprüfbar und falsifizierbar macht. Das ist der tiefere Sinn von Fußnoten und Methoden.

Im öffentlichen Raum muss man vereinfachen. Fußnoten haben hier keinen Platz, die Grundannahme der Falsifizierbarkeit gilt aber dennoch – und zwar gerade für das Verfassungsrecht, dessen Ableitungen häufig von normativen Grundannahmen abhängen. Was die Verfassung verlangt, ist gerade dann häufig nicht eindeutig, wenn die Politik über eine Frage akut streitet oder eine Krise dazu führt, dass man hergebrachte Ergebnisse und frühere Urteile nicht einfach fortschreiben kann. Das eine „richtige“ Ergebnis gibt es selten.

Vereinfachung und Verständlichkeit sind kein Freischein für argumentative oder methodische Fahrlässigkeit. Selbst wenn man ein klares Ergebnis verkündet, sollte man verdeutlichen, inwiefern dies zwingend aus früherer Rechtsprechung folgt oder eine zukunftsgewandte Positionierung ist.

Natürlich kann man anderer Meinung sein als „Karlsruhe“, „Straßburg“ oder „Luxemburg“. Für die öffentliche Debatte ist aber dennoch wichtig, wie sich das vorgebrachte Argument zur Judikatur verhält (oder dieser eventuell sogar widerspricht). Juristische Expertise wird im Diskurs ja auch deshalb geschätzt, weil sie mit dem Verdikt der (fehlenden) Verfassungswidrigkeit operiert, das seine Autorität aus dem Verhältnis zur Gerichtspraxis speist.

Das Plädoyer für eine transparente Kommunikation auch von Graubereichen bedeutet keinen Verzicht auf Allgemeinverständlichkeit. Ein relativierendes Adjektiv ersetzt gleichsam die Fußnote. Wissenschaft muss sich nicht hinter eine Geheimsprache aus Fachwörtern und Paragraphenketten verstecken, wenn sie eine breitere Öffentlichkeit erreichen und dennoch ihre Nuancen bewahren will. Nur allzu steile Thesen ließen sich nicht halten, die alles immer gleich in apodiktischen Worten für verfassungswidrig erklären.

Nebenwirkungen im öffentlichen Diskurs

Eine größere Ambiguitätstoleranz wäre auch deshalb ein Nutzen, weil die öffentliche Sichtbarkeit des Grundgesetzes dazu führen kann, dass verfassungsrechtliche Positionierungen eine Nebenwirkung haben. Sie neigen dazu, politische Fragen mit hohem Einsatz zu Grundsatzfragen zu erklären – und damit eine politische Polarisierung und Moralisierung zu fördern, die unserer Gesellschaft nicht guttut.

Das Neue an der Gegenwart ist nicht, dass über das Verfassungsrecht gestritten wird. So berufen sich noch heute die Befürworter und Gegner des Kopftuchs im öffentlichen Dienst auf das Grundgesetz, indem sie entweder die Religionsfreiheit oder, alternativ, die staatliche Neutralitätspflicht betonen, die in verschiedenen Verfassungsartikeln jedenfalls mittelbar auftaucht. Nichts Anderes galt früher für den Schwangerschaftsabbruch, die Eurorettung oder die Mitbestimmung. Das BVerfG konnte diese Streitigkeiten schlichten helfen, doch das Einverständnis folgte einem bisweilen leidenschaftlichen Streit. Nicht viel anders war es, ganz ohne richterliches Zutun, bei der „Ehe für alle“.

Das funktioniert nicht mehr automatisch. Konflikte werden immer seltener mit einer Kompromissbereitschaft geführt, die vermittelnden Lösungen den Weg bahnt. Die Logik des „Sowohl-als-auch“ einer konkordanzorientierten Verfassungsauslegung, die heftige Schlagabtausche nicht ausschließt, weicht einer binären Konfrontationsstellung, die nur noch richtig oder falsch kennt.

Verfassungsrechtliche Zuspitzungen können dies ungewollt befeuern. Die Rechtswissenschaft muss aufpassen, nicht einerseits die Sichtbarkeit der Verfassung zu nutzen, um wahrgenommen zu werden, andererseits jedoch unbeabsichtigt den Diskurs zu polarisieren helfen. Bisweilen ist weniger Verfassungsrecht ein Gewinn, um zu kommunizieren, wie notwendig und legitim Kompromisse sind.

Aus gutem Grund druckt der Verfassungsblog auch Beiträge zum deutschen oder europäischen Gesetzesrecht. Diese werden vielleicht weniger gelesen, für die fachliche und politische Debatte sind sie gleichwohl wertvoll. Das gleiche gilt für eine beobachtend-analysierende Verfassungsrechtswissenschaft, die nicht im Wertungsmodus der (fehlenden) Verfassungswidrigkeit verharrt. Doch selbst wer klare Thesen mag, kann durch Adjektive und Nebensätze verdeutlichen, dass die eigene Position zwar mit dem Verfassungsrecht operiert, deshalb jedoch keinem höheren moralischen Wahrheitsanspruch entspringen muss.


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