ACTA: Zugang zum Verhandlungstisch
Aus dem Fall ACTA kann man eine Menge lernen – über politische Entscheidungsfindung, aber auch über das Zusammenspiel von Politik und Medien.
ACTA (“Anti-Counterfeiting Trade Agreement”) ist ein internationales Handelsabkommen, über das derzeit in Korea verhandelt wird. Die Sache sorgt in mehrfacher Hinsicht für heftige Beunruhigung:
- Der Inhalt: Der Entwurf sieht offenbar vor, dass die Film- und Musikindustrie in ihrem Kampf gegen Raubkopierer einige veritable Vorschlaghämmer in die Hand bekommen soll. Es geht unter anderem um die umstrittene “Three-strikes-and-you’re-out”-Gesetzgebung, die in Frankreich neuerdings gilt, und um die Ermächtigung der Rechteinhaber, die Internet Service Provider direkt unter Druck zu setzen. Ich kenne den Entwurf selber nur vom Hörensagen und bin erfahren genug zu wissen, auf welch unendlich vielfältige Weise man komplizierte juristische Sachverhalte schief darstellen kann, deshalb verweise ich hier nur auf Quellen, die behaupten, das Dokument zu kennen: hier und hier.
- Das Verfahren: Die Verhandlungen sind naturgemäß nicht öffentlich. Die Entwürfe und Memos werden geheim gehalten. Dieses Verfahren nährt den Verdacht, dass die Regierungen sich damit vor ihrer Verantwortung für die Ergebnisse drücken: Vor der Entscheidung hat niemand Einblick und kann niemand mitreden, und nach der Entscheidung ist erstens alles entschieden und zweitens niemand schuld – man kann ja immer sagen, man hätte es anders gewollt, aber in den Verhandlugnen sei nun mal nicht mehr drin gewesen. “Wired”-Kolumnist David Kravets nennt das treffend “policy laundering”.
Über das Geistige Eigentum und die Gefahren für das freie Internet wird schon genug geschrieben, da muss ich nicht auch noch mitquatschen. Mich interessiert hier der zweite Punkt – das Verfahren.
Mir scheint, der Fall zeigt einmal mehr, wie ungeheuer froh wir sein können, dass wir die EU haben. Auf der anderen Seite des Tischs sitzt die US-Regierung. Selbst wenn man der Obama-Administration allen möglichen guten Willen unterstellt – sie steht unter dem Druck der Hollywood-Filmindustrie, die bekanntlich zu den eifrigsten Wahlkampfspendern Obamas gehörte. Die deutsche Regierung allein hätte kaum eine Chance, sich dem Begehren der USA nach einem bilateralen Copyright-Infringement-Abkommen zu US-diktierten Bedingungen in irgendeiner Weise zu widersetzen (geschweige denn ein Land wie, sagen wir, Tschechien, for that matter…). Die EU dagegen bringt – zumindest theoretisch – genug Gewicht auf die Waage, um den USA Konterpart bieten zu können.
Der Fall zeigt auch die Vorzüge verselbständigter supranationaler Organisationen: Die sind zwar bürgerfern und intransparent und lobbyanfällig und so weiter – aber im Vergleich zur Alternative, bilateralen Verhandlungen nämlich, schimmern sie wie Kristall. Es gibt Regeln für Verhandlungsmandate, für Transparenz und für Minderheitenschutz, und wenn es sie nicht gibt oder sie nicht ausreichen, gibt es zumindest eine Telefonnummer, bei der man sich beschweren kann. Die gibt es bei den ACTA-Verhandlungen nicht.
Natürlich ist auch in der EU die Rechteverwerter-Lobby mit viel, viel Geld unterwegs, um die Dinge in ihrem Sinne zu steuern. Aber die Verteidiger des freien Internet sind auch nicht inaktiv. In den USA kämpfen die Electronic Frontier Foundation und andere, und ihr politischer Hebel ist keineswegs klein. In Europa gibt es ebenfalls eine Unzahl von Aktivisten. Wenn die es schaffen würden, eine EU-weite schlagkräftige Organisation aufzubauen, könnten sie ebenfalls eine Menge bewegen. Die Politiker, die für die Verhandlungen verantwortlich sind, stehen von allen Seiten her unter Druck; ihr Verhandlungsmandat ist die Resultante im Kräfteparallelogramm der auf sie eindringenden Interessen. Wer mehr Druck mobilisiert, bekommt mehr, so einfach ist das. Wer das nicht schafft, braucht sich hinterher nicht zu beklagen.
Der Fall zeigt ferner einen bisher weitgehend unbeachteten Aspekt beim Niedergang der Medienindustrie: Die etablierten Medien tun sich furchtbar schwer mit solchen Verhandlungsprozessen. In den beiden von mir abonnierten Tageszeitungen, Süddeutsche und Handelsblatt, finde ich zu dem Vorgang keine Zeile, obwohl das doch eigentlich eine Riesengeschichte ist, für die eine wie für die andere Seite.
Medien berichten über Ereignisse. Hier gibt es aber gar kein Ereignis. Es gibt Absichten, Positionen, Entwicklungen. Nichts ist fest, nichts ist fertig, nichts ist “hart”, wie Journalisten so gerne sagen. Ich sehe den Deskredakteur vor mir, wie er mit genervter Miene den aufgeregten Korrespondenten abfertigt: Wasserstandsmeldungen, Zwischenstände – wo sind die News? Ja, und wenn der Vertrag dann fertig ist, dann wird er mit genau der gleichen genervten Miene sagen: Ist doch alles uralt, bloß noch Vollzug – wo sind die News?
Das ist der Grund, warum wir in den Zeitungen so wenig über Entscheidungsprozesse in Brüssel lesen, obwohl da doch angeblich alle maßgeblichen politischen Entscheidungen fallen.
Blogger sind da im Vorteil: Nicht nur, weil sie sich stärker spezialisieren und ein spezielleres Publikum bedienen. Sondern weil sie sich nicht an “News” orientieren. Sie berichten nicht, sie kommentieren. Sie brauchen kein Ereignis, um sich aufzuregen, um Alarm zu schlagen, um andere drauf hinzuweisen, was da gerade Skandalöses abgeht.
Und das ist auch nötig in diesen Zeiten der Verhandlungsdemokratie. Der ACTA-Entwurf ist, apropos Transparenz, immerhin an die Öffentlichkeit gelangt, und die regt sich jetzt tüchtig darüber auf. Das ist es doch, was wir wollten, oder? Mal sehen, ob der Entwurf jetzt nicht noch verändert wird daraufhin.
Update 7.11., 13:05: Das Dokument ist jetzt bei WikiLeaks online, hab’s noch nicht studiert, aber hier schon mal der Link.