Alle Jahre wieder: die Geldpolitik der EZB vor Gericht
Nicht nur die Geräuschkulisse des Brexits absorbierte ein Stück weit die Aufmerksamkeit für das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Zulässigkeit des Anleihenkaufprogramms der EZB. Denn immerhin entschied Luxemburg damit über eine der nach wie vor seltenen Vorlagen aus Karlsruhe. Dazu mag auch beigetragen haben, dass seit der Stellungnahme des Generalanwalts Wathelet nicht mehr damit gerechnet wurde, dass der EuGH der Europäischen Zentralbank (EZB) einen sprichwörtlichen Strich durch die Rechnung machen würde. Dennoch ist das Urteil aus einigen Gründen bemerkenswert.
Deutschland gegen Italien: Null zu Null
Der Gerichtshof bügelt die italienischen Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Vorlagefrage rundheraus ab. Dies entspricht zwar zunächst der etablierten Rechtsprechung. Man könnte darin aber auch hineinlesen, dass der EuGH damit dem italienischen Versuch, sich als währungs- und verfassungspolitischer Antipode Deutschlands zu positionieren, eine Absage erteilt. Die italienische Regierung vermutete hinter der Vorlage den Versuch, das Grundgesetz zum Maßstab für die Rechtmäßigkeit währungspolitischer Maßnahmen zu erheben.
Ob der Vorwurf berechtigt ist, mag man bezweifeln. Denn schließlich schlug das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seiner erneuten Vorlage sowohl in der Begründung als auch im Tonfall ein neues Kapitel auf. Es widerstand dem Versuch, Luxemburg eine Interpretation der europäischen Verträge vorzugeben und setzte sich stattdessen konzentriert und detailliert mit der Luxemburger Rechtsprechung auseinander, mag man ihm in seinen Ausführungen folgen oder nicht.
Der EuGH geht auf dieses Dialogangebot ein und macht sich nicht zum (weiteren) Schauplatz deutsch-italienischer Auseinandersetzungen um die Wirtschafts- und Währungsunion oder gar zum Wasserträger der italienischen Position. Das ist geradezu eine Notwendigkeit, will der Gerichtshof seine Autorität als Hüter des europäischen Rechts wahren, und eine kluge Strategie, um das Recht vom Mittel zum Gegenmittel innereuropäischer Polarisierungen zu wenden.
An ihren Taten sollt ihr sie nicht erkennen
Der Gerichtshof weist die zentrale Argumentation des BVerfG zurück, wonach die währungspolitische Zielsetzung und Rechtfertigung des Ankaufprogramms der EZB durch die nach Ansicht aller Beteiligten erheblichen fiskalischen Auswirkungen dieses Programms konterkariert würde. Das Ziel eines Programms und mithin seine Qualifikation als währungs- oder fiskalpolitische Maßnahme bemisst sich mithin nach der Bestimmung, die ihm von der EZB gegeben wurde. Das ist schon allein deshalb sinnvoll, weil sich bereits mit der Pringle-Entscheidung in Luxemburg die Überzeugung durchgesetzt hat, dass fiskalpolitische, währungspolitische und ganz allgemein sämtliche wirtschaftspolitischen Maßnahmen Auswirkungen auf alle Bereiche der Wirtschafts- und Finanzpolitik haben (können). Die Wirkungszusammenhänge sind dabei so komplex, dass sie keine Qualifikation der Maßnahme erlauben.
Zu dem wirtschaftswissenschaftlichen gesellt sich aber ein gewichtiges juristisches Argument: Die EZB darf vom Ziel der Preisstabilität nicht abgelenkt werden, weil ihre Maßnahmen eventuell wirtschaftspolitische Auswirkungen größeren Gewichts zeitigen könnten, welche diese Maßnahmen ihres währungspolitischen Charakters berauben würden (Rn. 66 des Urteils). Anders gewendet: Indem die Kläger der EZB ein Korsett anlegen wollen, bedrohen sie gerade jenen primärrechtlich festgezurrten Primat der Preisstabilität, den ihre Klage zu schützen vorgibt. Schiff versenkt.
Der Weg und die Wahrheit
Bedeutet dies, dass dem Ermessen der EZB damit praktisch keine Grenzen mehr gesetzt sind? Nach meinem Eindruck erlaubt das Urteil an keiner Stelle diesen Schluss. Denn der EuGH zeigt in einer Weise, die jedem Verwaltungsgericht zur Ehre gereichen würde, wie sich Ermessensentscheidungen überprüfen lassen. Nämlich über die nach Art. 296 Abs. 2 AEUV erforderliche Begründung, welcher der EuGH dieses Mal gleich zu Beginn einen eigenen Abschnitt widmet, sowie über das Verfahren. Das Handeln der EZB muss in sich stimmig sein. Und der EuGH scheut sich nicht, hierbei ins Detail zu gehen. So lässt er die mehrfache Änderung des Gesamtvolumens des Ankaufprogramms durchgehen, weil es mit der Entwicklung der Inflationsrate harmonierte und regelmäßig überprüft wurde (Rn. 39 und 88). Da das streitgegenständliche Ankaufprogramm im Gegensatz zum OMT-Programm keine asymmetrische Struktur aufweist, muss der Gerichtshof anders als in der Gauweiler-Entscheidung nicht auf die Stabilität der Eurozone rekurrieren, um die Rechtmäßigkeit des Ankaufprogramms festzustellen.
Mehr praktische Konkordanz wagen
Ein Zielkonflikt durchzieht jedoch die Entscheidung: Bei der Prüfung der Preisstabilität streicht der EuGH heraus, dass die festen Volumengrenzen und die Ankündigung, die Ankäufe entsprechend den Kapitalquoten der Mitgliedstaaten zu tätigen, der geldpolitischen Zielsetzung förderlich sei. Denn nur wenn die Marktteilnehmer sich auf das Ankaufsprogramm verlassen können, kommt die geldpolitische Transmission in Gang, besteht also Grund zur Hoffnung, dass die Märkte Vertrauen in die Wachstumsaussichten der Eurozone fassen und dementsprechend die Kreditvergabe wächst. Genau diese Argumentation ist aber in Zusammenhang mit Artikel 123 AEUV, dem Verbot der Staatsfinanzierung durch die Notenpresse, schädlich. Daher müht sich der EuGH bei der Prüfung des Artikels 123 AEUV sichtlich ab zu begründen, dass das Schuldenmanagement der Mitgliedstaaten sich keinesfalls in Sicherheit wiegen und blind auf das Ankaufprogramm verlassen könne. Was für die Marktteilnehmer gilt, kann sich aus Sicht der Mitgliedstaaten aber nicht völlig anders darstellen. Wieviel sinnvoller wäre es dagegen gewesen, die Fragen der Preisstabilität einerseits und der monetären Staatsfinanzierung andererseits nicht getrennt zu prüfen, sondern einen Zusammenhang zwischen beiden herzustellen, etwa im Wege praktischer Konkordanz. Diese Konsequenz hätte der EuGH eigentlich schon aus dem Pringle-Urteil ziehen müssen. Die Wechselwirkungen zwischen Währungs- und Fiskalpolitik kann die Dogmatik nicht ignorieren. Immerhin findet sich in Rn. 152 ein Hinweis des EuGH, der in diese Richtung geht; das hätte weitaus deutlicher gemacht gehört.
Recht gegen Politik: Eins zu Null
Das Brexit-Getöse hat nicht ganz von Ungefähr diese Entscheidung übertönt. Denn dem EuGH ist es gelungen, die Politik im Sinne von „politics“ aus der Sache zu nehmen, ohne sie ungebührlich zu entpolitisieren im Sinne von „policy“. Er zeigt auf geradezu vorbildhafte Weise die rationalisierende Wirkung rechtlicher Diskurse. Sie zwingen keineswegs dazu, auf eine Auseinandersetzung mit den politischen Implikationen eines Falls zu verzichten. Wohl aber nehmen sie ihm die politische Aufgeregtheit. Judicial dialogue im besten Sinne. Statt Polarisierung herrscht geschäftige Routine. Man darf gespannt sein, ob eine mögliche Vorlage im Verfahren über die Bankenunion ins selbe Horn stößt (dazu hier und hier). Es wäre der Beginn einer schönen Tradition: Alle Jahre gerne wieder.
Vielen Dank für den interessanten Beitrag! Eine Nachfrage zum Abschnitt “Mehr praktische Konkordanz wagen”: Kann ein Verbot eine Abwägungsposition sein? Wo liegt da der Optimierungsspielraum? Müsste nicht, trotz aller Schwierigkeiten dieser Frage, eindeutig zu entscheiden sein, ob der Tatbestand des Art. 123 I AEUV erfüllt ist und das Verbot greift oder nicht? Oder ist ein anderes Verständnis der Norm angezeigt?
Ja, ich denke, dass Artikel 123 AEUV genauso ein abwägungsfähiges Prinzip darstellt wie Artikel 127 AEUV. Das zeigt sich schon daran, dass er seinem Wortlaut nach eigentlich nur Primärmarktankäufe verbietet, aber zur Verhinderung von Umgehungsgeschäften auf Sekundärmarktankäufe ausgeweitet wurde. Die Frage ist aber: Was ist als Umgehung zu verstehen? Darin kommt eine prinzipientypische Allgemeinheit zum Ausdruck, welche eine Abwägung (Optimierung) mit anderen Prinzipien ermöglicht bzw. einfordert. Sprich: Man kann das Vorliegen einer Umgehung nur im Hinblick auf die geldpolitische Rechtfertigung der Maßnahme beurteilen.