21 January 2022

Allgemeine Impfpflicht – ein kleiner Piks, ein großes verfassungsrechtliches Problem

Wir alle haben die Nase voll von der Pandemie. Die letzten zwei Jahre haben uns einst unvorstellbare Zumutungen auferlegt und massive Einschränkungen unserer Lebensqualität mit sich gebracht. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die die Welt erst für sich entdecken wollen (und können sollen), tragen in besonderem Ausmaß die Kosten der Pandemie. Je erschöpfter wir sind, desto dringender ist der Wunsch nach einem Wundermittel, das der Pandemie ein Ende bereitet. Die Impfung scheint als ein solches Heilsversprechen: Wenn nur alle mitmachen würden und sich impfen ließen, wäre es mit der Pandemie bald vorbei. Doch es machen nicht alle mit. Sollte man sie dann nicht dazu zwingen dürfen? Überwiegt nicht das gemeinschaftliche Interesse an der Pandemiebekämpfung das subjektive Interesse der Einzelnen an der „Impfverweigerung“? Am Rande sei bemerkt: Schon die Bezeichnung als „Impfverweigerer“ impliziert eine zumindest moralische Impfverpflichtung, denn verweigern kann man nur, was man eigentlich schuldig ist. Von moralischen Pflichten handelt dieser Beitrag freilich nicht, sondern es geht um die Frage einer in Recht gegossenen Impfpflicht. In der Politik wird eine solche Impfpflicht immer entschiedener gefordert. Doch hat eine solche in der derzeitigen Situation auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive Bestand?

Die körperliche Unversehrtheit ist im Grundgesetz prominent als ein zentrales Grundrecht gewährleistet (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG). Dass durch eine Impfpflicht in den Schutzbereich dieses Grundrechts eingegriffen wird, ist unstreitig. Das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit ist mit einem Gesetzesvorbehalt versehen, verspricht also nicht absoluten Schutz vor staatlichen Eingriffen. Die Durchdringung der Haut ist nicht Tabu, sondern kann unter Umständen auch im Verfassungsstaat zulässig sein. Die verfassungsrechtliche Erörterung muss sich daher auf die Frage konzentrieren, unter welchen Umständen dies gerechtfertigt ist. Hierfür ist eine klassische Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen. Die mit einer Impfpflicht verfolgten Ziele sind offensichtlich legitim: Gesundheitsschutz (früher auch „Volksgesundheit“ genannt) sowie insbesondere der Schutz vor einer Überlastung der Gesundheitssysteme. Zu erörtern ist also, ob die Impfpflicht zur Verfolgung dieses Ziels geeignet, erforderlich und angemessen ist.

Geeignetheit

Die Prüfung der Geeignetheit im verfassungsrechtlichen Sinne verbürgt nicht, dass der Einsatz eines Instruments in einem umfassenden Sinn eine kluge politische Entscheidung ist. Insoweit unterscheiden sich politischer und verfassungsrechtlicher Diskurs. Es gibt gute Gründe, besorgt zu sein, dass eine Impfpflicht den gesellschaftlichen Konflikt zwischen Ungeimpften und Geimpften weiter verschärft. Doch zum Verdikt der Verfassungswidrigkeit kann eine solche Überlegung nicht führen. Für die Geeignetheit im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung reicht aus, dass das gewählte Mittel den Zweck (etwas) fördert.

Impfung schützt nicht vollständig

Ein erster Zweifel an der Geeignetheit der Maßnahme könnte darin gründen, dass die Impfung keinen vollständigen Schutz vor Erkrankung bietet. Insofern mutet das Timing der Diskussion ohnehin etwas merkwürdig an: Je weniger und je kürzer die Impfung wirkt, desto entschiedener wird die Impfpflicht gefordert – eine je-desto-Beziehung der besonderen Art. An Covid erkranken bekanntermaßen auch Menschen, die vollständig geimpft und geboostert sind; auch von ihnen kämpfen einige auf Intensivstationen um ihr Leben. Doch um dem verfassungsrechtlichen Standard der Geeignetheit zu genügen, reicht es aus, dass die Impfung dem Gesundheitsschutz überhaupt nützt. Dies ist wissenschaftlich belegt. Die Impfung schützt zwar nicht vollständig, aber doch statistisch gesehen in erheblichem Umfang zumindest vor schweren Verläufen der Krankheit.

Flächendeckende Durchsetzung der Impfpflicht kaum möglich

Ein zweiter Einwand könnte sich auf mangelnde Möglichkeiten zur flächendeckenden Umsetzung der Impfpflicht beziehen. Es erscheint unvorstellbar, dass eine Impfpflicht auch nur halbwegs kontrolliert, durchgesetzt und sanktioniert werden kann. Für eine Rechtspflicht ist dies ein echtes Problem. Eine rechtliche Pflicht, deren mangelnde Durchsetzung vorhersehbar ist, führt zu Erosionen des Rechtsgehorsams, ist also rechtsstaatlich bedenklich und kann zudem zu erheblichen Gleichheitsproblemen führen: Auf welche Bevölkerungsgruppen werden etwa Kontrollen konzentriert? Man wünschte sich sehr, dass diese Probleme politisch hinreichend bedacht werden, zur Verneinung der Geeignetheit im verfassungsrechtlichen Sinne führen sie jedoch nicht. Denn auch insoweit ist an den verfassungsrechtlichen Standard der Geeignetheitsprüfung zu erinnern. Überzeugte Impfgegner*innen wird die Impfpflicht zwar voraussichtlich nicht erreichen können, aber dass sich einige Menschen durch eine rechtlich verbindliche Impfpflicht doch noch zur Impfung entschließen werden, ist eine plausible Annahme. Der angestrebte Zweck wird also gefördert. Als geeignet ist die Impfpflicht anzusehen.

Erforderlichkeit

Im Hinblick auf die Erforderlichkeit sind kaum Einwände vorzubringen. Erforderlichkeit bedeutet, dass es kein milderes Mittel gibt, welches gleich geeignet ist, um den angestrebten Zweck zu fördern. Da alle bisherigen Maßnahmen – von Werbekampagnen, niedrigschwelligen Impfangeboten über negative Anreize, die Ungeimpfte von weiten Bereichen des öffentlichen Lebens ausschließen und deren Leben erheblich erschweren – nicht ausgereicht haben, um eine höhere Impfquote zu erreichen, ist kein milderes Mittel ersichtlich. Auch die Erforderlichkeit ist der Impfpflicht zu attestieren.

Angemessenheit

Die dritte Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist die heikelste. Gleichsam die, an der staatliche Maßnahmen am seltensten scheitern. Entgegen der landläufigen Bezeichnung dieser Stufe als „Angemessenheit“ handelt es sich in Wirklichkeit um eine Prüfung der „evidenten Unangemessenheit“. Denn bei der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne geht es um die Abwägung zwischen der Intensität der Grundrechtseingriffe und dem Gewicht der Gemeinwohlinteressen, denen die staatliche Maßnahme dient. Eine solche Abwägung verlangt notwendigerweise Wertungen – in der Demokratie ist dazu primär der Gesetzgeber berufen. Verfassungsgerichte oder Verfassungsrechtler*innen haben die gesetzgeberischen Wertungen hinzunehmen, selbst wenn sie ihren eigenen Vorstellungen widersprechen. Eine Maßnahme kann nur dann als verfassungswidrig erklärt werden, wenn die Gewichte von Grundrechtseingriff und Gemeinwohlinteressen außer Verhältnis stehen.

Impfung – nur ein kleiner Piks?

Grundsätzlich dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass die körperliche Unversehrtheit ein Gut von sehr hohem Rang ist, da viele Facetten unseres Lebens von der körperlichen Befindlichkeit mitgeprägt werden. Zwar ist die westliche Tradition grundsätzlich von einer Höherbewertung des Geistes gegenüber dem Körper geprägt; es ist daher kein Zufall, dass die traditionelle Geschlechterordnung den Geist männlich und den Körper weiblich konnotiert. Doch diese Geringschätzung des Körpers und der Körperlichkeit hat sich verändert. Der Körper erscheint immer wichtiger, als zentraler Ort des eigenen „Ichs“ – eben der „Verkörperung“.

Der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit durch eine Impfung erscheint vielen Menschen als unwesentlich: ein kleiner Piks in den Oberarm. Die Nebenfolgen der Impfung sind weit überwiegend allenfalls minimal. Aus „objektiver Sicht“, d.h. dem bei Juristen beliebten „verständigen Dritten“, könnte daher die Intensität des Grundrechtseingriffs als gering einzustufen sein. Doch eine solche Blickweise trägt nicht. Grundrechte schützen Freiheiten individueller Menschen. Entscheidend ist also die Wahrnehmung derer, die das Grundrecht in Anspruch nehmen. Es geht nicht um eine „objektive“ Beurteilung des Grundrechtseingriffs – die in Wahrheit immer die des Mainstreams ist –, sondern für Grundrechte kommt es auf das Selbstverständnis der Betroffenen an, welches allenfalls einer Plausibilitätskontrolle unterzogen werden kann. Für die Religionsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht dies mit großer Klarheit herausgestellt, aber dies gilt für alle Freiheitsrechte.

Für die Ablehnung einer Impfung kann es viele Gründe geben. Dazu mögen auch Gründe, die mit dem Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit nichts zu tun haben, wie etwa Wut auf „das System“ oder wirre Verschwörungserzählungen gehören. Es gibt aber auch Menschen, die der festen Überzeugung sind, dass Ihnen die Impfung gesundheitlich schadet. Aus der Perspektive solcher Betroffener ist die Impfung eben nicht eine lästige Bagatelle, sondern erscheint vergleichbar der Zuführung von Schadstoffen oder gar einem Gift. Eine solche Sichtweise mag vielen als absurd erscheinen, aber Grundrechte dienen eben gerade dem Schutz von Minderheiten. Dies gilt zumal, als inzwischen der enge Zusammenhang von psychischer und physischer Gesundheit bekannt ist. Die Eingriffsintensität ist also als äußerst hoch einzustufen.

Abwägung

Selbstverständlich ist auch der Gesundheitsschutz ein hohes Gut. Doch es geht nicht nur um den abstrakten Rang des betroffenen Gemeinwohlgutes, sondern auch um den Grad, in dem dieses durch die jeweilige Maßnahme verwirklicht wird. Eine Impfpflicht wäre daher möglicherweise dann zu rechtfertigen, wenn durch die Impfung eine sehr gefährliche Krankheit wirklich ausgerottet werden könnte.

Doch von einer solchen Situation sind wir derzeit weit entfernt. Die Covid-Impfungen wirken nur für verhältnismäßig kurze Zeit und möglicherweise kaum gegenüber neuen Mutationen, die das Virus in kürzester Zeit verändern. Auch Geimpfte sind am Infektionsgeschehen beteiligt und Impfdurchbrüche belasten die Intensivstationen. Der Vorteil durch eine Impfung ist also nur ein zeitlich gesehen kurzer und insgesamt gradueller. Dies kann den gravierenden Eingriff, den eine Impfpflicht mit sich bringt, nicht aufwiegen.

Auch weitere Einwände ändern an diesem Ergebnis nichts.

Relationale Grundrechtstheorie

Fraglich ist allerdings, ob diese Position, eine Impfpflicht nur unter sehr engen Voraussetzungen für verfassungsrechtlich rechtfertigbar zu halten, nicht auf Prämissen beruht, die eigentlich als überholt zu gelten haben. Ein rein individualistisches Freiheitsverständnis, in dem andere Menschen als Gefahr für die eigene Freiheit erscheinen, wird der sozialen Wirklichkeit nicht gerecht. Menschen leben nicht isoliert auf einer Insel, sondern sind in Beziehungen zu anderen Menschen eingebunden und auf diese Beziehungsgeflechte existentiell angewiesen. Richtigerweise wird daher über relationale Grundrechtstheorien nachgedacht. Doch für die Impfpflicht führt auch eine relationale Sicht zu keiner anderen Beurteilung. Zwar könnte argumentiert werden, dass die kollektive Inpflichtnahme einem relationalen Grundrechtsverständnis inhärent ist, so dass eine Impfung als Beitrag zum Schutz anderer verfassungskonform erscheint. Doch dies wäre verkürzt. Relationales Grundrechtsdenken muss die andere Person als Gegenüber anerkennen und damit bereit sein, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen. Die Sichtweise der anderen Person muss einbezogen werden. Nur so kann die wechselseitige Anerkennung als Freie und Gleiche, die unabdingbare Prämisse der Demokratie ist, gelingen. Damit aber bleibt das gravierende Gewicht des Grundrechtseingriffs gegenüber den nur graduellen Vorteilen.

Tradition als verfassungsrechtliches Argument

Impfpflichten sind im deutschen Recht traditionell ein bekanntes und immer wieder erprobtes Instrument. Auch der Parlamentarische Rat ging davon aus, dass Impfpflichten auch nach Einführung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit zulässig sein würden. Doch Tradition ist als Argument im Verfassungsrecht nur von begrenztem Wert. Im Staatsorganisationsrecht erkennen wir zwar die Staatspraxis als wichtiges Argument an, im grundrechtlichen Bereich stellt sich dies aber anders dar. Anders als die „originalists“ in den USA, die die Verfassung auf dem Stand ihrer Entstehung einfrieren wollen, ist in Deutschland die Veränderung der Verfassung in der Zeit weithin anerkannt. Es gibt zahlreiche Beispiele für erhebliche Veränderungen verfassungsrechtlicher Bewertungen: erinnert sei etwa an die zu Beginn der Bundesrepublik noch akzeptierte Kriminalisierung männlicher Homosexualität, die aus heutiger Perspektive unerträglichen Verkürzungen des Verständnisses von Gleichberechtigung oder das besondere Gewaltverhältnis. Veränderungen gab es aber eben auch im Hinblick auf den Schutz des eigenen Körpers: Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Prügelstrafe würde heute wohl niemand mehr behaupten. Tradition ist im Grundrechtsschutz ein schlechtes Argument.

Kein Impfzwang

Politisch gefordert wird eine Impfpflicht, aber kein „Impfzwang“. Die Impfpflicht soll also nicht zwangsweise durchgesetzt werden, sondern lediglich das Nicht-Befolgen der Pflicht durch eine Geldbuße sanktioniert werden. Man könnte daraus folgern, dass die Eingriffsintensität geringer einzustufen ist, weil ein zwangsweiser Eingriff nicht erfolgen wird. Eine solche Argumentation geht fehl. Es ist die Sichtweise der Ökonomen, Rechtspflichten nicht als Pflicht zur Befolgung aufzufassen, sondern den Nutzen (eines Verstoßes) gegen die Kosten (also die Sanktion) abzuwägen. Eine solche Sichtweise ist für das Recht allerdings äußerst bedenklich, denn es gibt sich damit selbst auf. Das Rechtssystem muss davon ausgehen, dass Rechtspflichten auch als Verpflichtungen gesehen werden. Möglicherweise verzichtet das Rechtssystem in bestimmten Konstellationen auf eine zwangsweise Durchsetzung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit, aber das kann nicht von vornherein „eingepreist“ werden. Freikaufen ist kein rechtsstaatliches Prinzip. Ganz abgesehen von dem diskriminierenden Effekt, den die Möglichkeit des Freikaufens mit sich bringt: Für diejenigen, die sich eine Geldbuße nicht leisten können, wird die Impfpflicht eben doch zum Zwang.

Impfpflicht – kein verfassungsrechtlich zulässiger Weg aus der Pandemie

Impfpflichten sind verfassungsrechtlich nur in engen Grenzen zulässig. In der aktuellen Situation werden diese engen Grenzen verfehlt.

In der öffentlichen Diskussion ist immer wieder zu hören, dass jegliches Verständnis für die Gründe fehle, sich nicht impfen zu lassen. Eine solche Haltung ist als individuelle Meinungsäußerung hinzunehmen, wenn auch ein kommunikatives Problem. Dem Grundrechtsschutz darf sie jedoch nicht zugrunde liegen. Dieser verlangt die Bereitschaft zum Perspektivenwechsel, sonst verfehlt er seine Hauptfunktion.


22 Comments

  1. J.E. Fri 21 Jan 2022 at 17:42 - Reply

    Manche Argumente des Beitrags werfen die Frage auf, welchen unbekannten Maßstäben aus dem Verfassungs- und Verwaltungsrecht sie wohl entspringen mögen. Eine soziologisch-abstrakte „Körperlichkeit“ ist dem GG freilich egal, das in Art. 2 Abs. 2 S. 1 die körperliche Unversehrtheit schützt und Einschränkungen aufgrund eines verhältnismäßigen Gesetzes zulässt. Einen geringfügigen bis mittelschweren Eingriff qua – zugestandener – irrationaler Wahrnehmung über den Hebel eines Minderheitenschutzes zu einem äußerst hohen Eingriff hochzujazzen, ist doch geradezu grotesk. Dann können wir es mit staatlichen Eingriffen über überwiegende Allgemeininteressen gleich sein lassen. Fremd ist dem Risikoverwaltungsrecht auch die Annahme, Impfungen müssten beweisen, „mehr als kaum“ gegen eventuelle – noch unbekannte – zukünftige Varianten zu schützen. Umgekehrt gilt, dass der Schutz gegen bisherige Varianten gut ist und prognostische Unsicherheiten akzeptabel sind, wenn „die potentiellen Kosten des Nichthandelns zu groß sind“ (Gärditz, FAZ v. 12.1.2022). Die vagen und unklaren Ausführungen zu relationalen Grundrechtstheorien, kommunikativem Perspektivenwechsel usw. ändern nichts und machen auch nicht klar, in welchem Bezug sie zu Anforderungen des GG oder der BVerfG-Rechtsprechung stehen.

  2. Leser Fri 21 Jan 2022 at 23:21 - Reply

    Im abstrakten Rahmen (also dem allgemeinen Abstellen auf das Selbstverständnis) bleibt mir unklar, wie diese Grundrechtstheorie mit mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen umgehen will. Wenn immer auf ein Selbstverständnis für das Bestimmen der Grundrechtsintensität abgestellt wird, müsste es im mehrpoligen Verhältnis möglich sein, durch bloßen Willen den Streit der Grundrechte zu “gewinnen”.
    Insoweit scheint mir die vollständige Aufgabe eines objektiven (oder jedenfalls objektivierbaren) Rahmens für die Bestimmung der Eingriffsintensität nicht sinnvoll. Etwa angenommen ein Mensch hält jegliche Berührungen seines Körpers für unzumutbare Eingriffe in die körperliche Unversehrheit (und kann das auch plausibel begründen): Müsste es, wenn die Theorie zu Ende gedacht wird, dann in der weiteren Grundrechtsprüfung nicht keinen Unterschied mehr machen, ob ihm/ihr a) über den Kopf gestreichelt wird, b) eine Spritze verabreicht wird oder c) das Bein abgeschnitten wird? Das scheint mir ein abwegiges Ergebnis, das dann wieder durch einen Rückgriff auf eine präzisierenden Maßstab (“Das findet er/sie sicherlich noch schlimmer, also ist das für sie/ihn bereits unzumutbare Streicheln über den Kopf, wohl doch nicht so schlimm.”) oder eben doch wieder etwas objektives konkretisiert werden müsste.

    Auch abseits dieser Bedenken gegen die Theorie enthält der Beitrag einen logischen Bruch. Es wird oben darauf abgestellt, dass für die Nichtimpfung u.a. die irrige Annahme vorgebracht wird, damit würde der Geimpfte vergiftet werden. Dass dies vorgebracht wird (und auch so angenommen wird), ist sicherlich zutreffend. Aus diesem Einzelfall wird dann aber abstrahiert und das scheint mir kein logisch zulässiger Schluss zu sein. Selbst wenn die irrige Annahme, vergiftet zu werden, von manchen geglaubt wird, glauben das nicht alle Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen. Die Gründe sind – das wird im Beitrag auch dargestellt – extrem unterschiedlich. Manche Menschen haben schlicht keine Lust zum Arzt zu gehen. Soll die oben dargestellte Theorie gelten, dann müsste sie auf solche Menschen nicht anwendbar sein. Denn wer nur keine Lust hat, zum Arzt zu gehen, der müsste durch die Impfung in seiner/ihrer körperlichen Unversehrtheit kaum (oder gar nicht) angegriffen werden.
    Wenn es demgegenüber unzulässig sein soll, allgemein eine Anordnung zu treffen, weil es einzelne gibt, die dies (plausibel) unzumutbar finden, werden sich kaum noch Maßnahmen finden lassen, die irgendwie gesetzlich festgelegt werden könnten.

  3. Pascal Sat 22 Jan 2022 at 11:10 - Reply

    Ich finde es schwierig zu sagen, in der wertenden Abwägung ist eine Impfpflicht ein wirklich ganz gravierender Eingriff, denn auch wenn er es zwar objektiv gar nicht ist, kann man ihn kontrafaktisch so empfinden, und das reicht dazu aus.
    Als Gemeingut steht dagegen aber eigentlich nichts, denn eine Impfpflicht würde die Krankheit ja auch nicht ausrotten, bringt also eigentlich nichts.

    Denn das “Gemeingut” ist ja letztlich auch nur die Summe der individuellen Rechte aller anderen. Und gerade weil wir nicht im luftleeren Raum leben, kann die Frage in der Abwägung ja nicht “Impfpflicht oder keine Impfpflicht, sonst ändert sich nichts” sei . Wir sagen auch nicht “wir respektieren deine Auffassung, aber dann komm bitte mit den Folgen auch alleine klar”, sondern wir muten uns allen dann eben im Rahmen eines Schutzkonzepts andere massive Einschränkungen in nahezu allen grundrechtlich geschützten Bereichen zu: Maskenpflicht, Testpflicht (sind übrigens auch Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit), Personenbegrenzung bei Demonstrationen, Verbot oder Einschränkungen von Kulturveranstaltungen, Home Office Pflicht, verschobene Operationen, Aufweichung der arbeitsrechtlichen Schutzstandards zum Aufrechterhalten kritischer Infrastruktur, ernsthafte Diskussion über Triage etc etc. Das tun wir alles auch, um gerade Ungeimpfte zu schützen.

    Wenn nun eine Impfung zwar mittlerweile nicht mehr gut vor Ansteckung schützt, aber zuverlässig vor einem schweren Verlauf der Krankheit, dann ist es doch zumindest nicht ganz unwahrscheinlich, dass wir viele dieser Einschränkungen nicht oder jedenfalls weit weniger stark ergreifen müssten, wären möglichst alle Menschen geimpft.

    Und dann stellt sich eben schon die Frage, ob ein nur subjektiv als schwerwiegend empfindbarer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit weniger Menschen wirklich schwerer wiegt als die anderen Einschränkungen für alle (die ja ebenfalls mindestens subjektiv, oft auch objektiv gravierend sind).
    Oder wir schaffen mit dem selben Argument jede andere Einschränkung auch ab. Dann stelt sich aber die Frage, ob wir mit den Konsequenzen wirklich leben wollen.

  4. Th. Koch Sat 22 Jan 2022 at 12:20 - Reply

    Die Argumentation zur Angemessenheit beruht auf einem merkwürdigen Fehlschluss in Form einer bislang unbekannten Subjektivierung der Eingriffsintensität. Ob eine Beeinträchtigung eines grundrechtlichen Schutzguts als schwerwiegend oder erheblich zu qualifizieren ist, bestimmt sich nach objektiven Gegebenheiten, nicht aber der möglicherweise völlig unterschiedlichen Wahrnehmung unterschiedlicher Betroffener; eine sachgerechte Gegenüberstellung der Bedeutung der Beeinträchtigung und der rechtfertigenden Gründe wäre bei einer vollständigen Subjektivierung gar nicht mehr möglich. So kommt es etwa bei Beeinträchtigungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung auf Kriterien wie Heimlichkeit, Anlasslosigkeit und „Streubreite“ an, nicht aber darauf, ob Betroffene beispielsweise die Erfassung von KFZ-Kennzeichen als harmlos oder schwer wiegend betrachten.
    Fehlvorstellungen von Impfgegnern über angebliche „Gentechnik“ oder gar „Menschenversuche“ haben daher ebenfalls außer Betracht zu bleiben. Mit der Impfpflicht geht aber objektiv nur eine geringfügige Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit einher, die Impfverweigerer daran hindern soll, andere Personen zu gefährden und unnötige Belastungen des Gesundheitssystems herbeizuführen. Sie ist zur Beförderung dieser Zwecke nicht nur geeignet und erforderlich, sondern auch angemessen.

  5. Bernhard Wegener Sat 22 Jan 2022 at 12:29 - Reply

    Ein erschreckender Beitrag! Wie hier der subjektiven Beliebigkeit und Befindlichkeit bei der Bewertung der Berechtigung von Grundrechtseingriffen das Wort geredet wird! Zwar ist richtig, dass das BVerfG bei der Religionsfreiheit, also in einem grundrechtlich geschützten Sonderbereich des nicht rational fundierten Glaubens, subjektive Setzungen notwendig anerkennen muss. Aber selbst diese subjektiven Glaubenssetzungen kennen Grenzen. Dass jetzt aber – wie Ute Sacksofsky es postuliert – auch jenseits der Religionsfreiheit objektive naturwissenschaftlich-medizinische Erkenntnisse allein deshalb staatliche Grundrechteingriffe nicht mehr legitimieren können sollen, weil dem ein irrationales „Selbstverständnis der Betroffenen“ entgegensteht, das wäre mir neu. Da hilft auch der psychologisierende Hinweis auf den Zusammenhang zwischen physischer und psychischer Gesundheit nicht weiter. Die Eingriffsintensität der Impfpflicht kann eben nicht allein deshalb als „äußerst hoch“ eingestuft werden, weil die Impfung von Querdenkern als „Gift“ bezeichnet wird. Wer staatliche (Gesundheitsschutz-)Maßnahmen mit solchen subjektivierenden Rücksichtnahmen auf wissenschaftlich unhaltbares eigenes „Dafürhalten“ delegitimiert, bereitet einem schrankenlosen Grundrechtsschutz den Boden, der sich für den staatlichen Gemeinwohlschutz lähmend auswirken muss.

  6. Sebastian J Sat 22 Jan 2022 at 13:31 - Reply

    “Auch Geimpfte landen auf der Intensivstation” ist kein Argument. Es gibt viel mehr Geimpfte, und unter diesen viel mehr Alte und mit Vorerkrankungen. Ein großer Anteil der Ungeimpften landet auf der Intensivstation, aber ein deutlich kleinerer Anteil der Geimpften.

    Zudem sind Ungeimpfte ansteckender, greifen also in die körperliche Unversehrtheit anderer ein. Und blockieren die Intensivstationen–nochmal ein Eingriff. Diese Gefährdung der eigenen Gesundheit muss die geimpfte Mehrheit hinnehmen, weil die Impfgegener ein subjektives Recht auf ihre Befindlichkeiten haben?

  7. Alfons Sat 22 Jan 2022 at 13:48 - Reply

    “Doch um dem verfassungsrechtlichen Standard der Geeignetheit zu genügen, reicht es aus, dass die Impfung dem Gesundheitsschutz überhaupt nützt. Dies ist wissenschaftlich belegt…” (oben, Ute Sacksofsky). Ich wähle deshalb dieses Zitat aus, da für mich hier der Kernpunkt der gesellschaftlichen Zuspitzung besteht. Ich selbst bin geboostert, also für das Impfen, jedoch gegen jede Art allgemeiner Impflicht. Warum?

    Ich war selbst etwas überrascht, dass die Wissenschaft, namentlich die Topvirologen Christian Drosten und Sandra Ciesek, die hohe Ansteckungsrate von Omikron gegenüber Delta gerade damit erklären, dass bei Omikron sich auch Geimpfte anstecken und den Virus übertragen können (weshalb sich Ciesek auch über die politische Freistellung Geboosterter von einer Quarantänepflicht wundert). Verfassungsrechtlich betrachtet, fehlt für eine Impflicht also die Geeignetheit bereits, weil gar kein Impfstoff gegen die Omikron-Variante bisher existiert.

    Bei der Geeigneitheit nun auf den Schutz vor schweren Verläufe zu verweisen, ist zwar richtig, verfassungsrechtlich aber ein “etwas anderes Thema”. Denn wie beim Rauchen (oder vergleichbaren Selbstschädigungen) muss zwischen Gefahren für die Allgemeinheit und Selbstschädigung unterschieden werden. Bestenfalls lässt sich mit einer indirekten Schädigung der Allgemeinheit über die Belastung des Gesundheitssystems argumentieren. Nur genau hier sehe ich ein großes Problem, was sich für mich auch darin ausdrückt, dass gerade im Pflegebereich eine verhängnisvolle Spaltung besteht, die sogar zunimmt. Warum?

    Die Leistung des Gesundheitssystems ist nämlich vorrangig eine politische Frage, d.h. dass die Grenzen regulierbar sind. So verabschieden sich immer mehr Pflegekräfte von ihrem Beruf. Niedersachsen streicht sogar einfach Regelungen beim gesetzlichen Arbeitsschutz für Pflegekräfte; die wöchentliche Arbeitzeit wird einfach auf 60 Stunden erhöht. Aber hier ist nicht der Ort, die ganze politische und wirtschaftliche (Klinikschließung etc.) Problematik auszubreiten, die dazu geführt hat, dass auch Befürworter des Impfens unter den Pflegekräfte immer mehr eine Impflicht, nur als Ablenkungsmanöver der verantwortlichen Politik begreifen. Was die verfassungsrechtliche Seite betrifft, lässt sich allerdings sagen, dass eine Impflicht auch dadurch die Allgemeinheit schaden kann, wenn sie sich als kontraproduktiv herausstellt, ein in jeder Beziehung sicheres Gesundheitssystem zu gewährleisten – eben auch dadurch, dass Impfbefürworter bei einer Impflicht (ohne passenden Impfstoff) gewissermaßen die “Fronten wechseln”. Was das BVerfG betrifft, sollte nach 2 Jahren die Zeit des gesetzgeberischen Herumexperimentierens sowie so endlich vorbei sein. Einer allgemeinen Impflicht fehlt eindeutig die erforderliche Geeignetheit. Jeder, der das anders sieht, möge sich einmal ausmalen, was geschehen wird, wenn trotz Impflicht die erwartete Reduzierung der Infektion ausbleibt (oder, was eigentlich das Gleiche ist, ohne Impfpflicht die Ansteckungsgefahr zurückgeht). Reine Versprechungen reichen für eine Verfassungskonformität nicht – sie sind für die Allgemeinheit kontraproduktiv.

    • Leon Sun 23 Jan 2022 at 15:25 - Reply

      Ich gebe Ihnen in Bezug auf die politische Verantwortung für die prekäre Lage im Gesundheitssystem Recht. Davon abgesehen habe ich bezüglich einiger Punkte Anmerkungen.
      Zu nächst einmal gebe ich zu bedenken, dass wir nunmehr einen gewissen Status quo erreicht haben, auf dessen Grundlage eine Entscheidung getroffen werden muss. Die Verantwortung für die Entwicklung bis hierhin mag in zweifelhaften politischen Entscheidungen und jahrelanger Fehlentwicklung liegen, gleichwohl interessiert sich ein Virus dafür herzlich wenig. Natürlich wären wir mit einem gut ausgestatteten Gesundheitssystem deutlich besser aufgestellt und dieses Thema sollte deshalb dringend angegangen werden. Dieser Prozess geht allerdings nicht von heute auf morgen, sondern benötigt Jahre. Gefragt ist aktuell allerdings nach einer schnellen Lösung und die gibt es, in Form eines sicheren und für den benötigten Zweck hinreichend wirksamen Impfstoffs. Dass dieser, wie sie treffend anmerken, vielleicht nicht die Ausbreitung verhindern kann, so verhindert er doch schwere Verläufe. Und das war von Beginn an oberstes Ziel, denn dabei geht es, entgegen ihrem Vergleich zum Rauchen, eben nicht vorrangig um Individualschutz, sondern um die Entlastung des Gesundheitssystems, was angesichts der nach wie vor verschobenen Routineeingriffe aktueller erscheint, denn je. Schließlich kann auch ein Schlaganfallpatient nichts für den vorhandenen Pflegenotstand. Devise sollte also sein, möglichst schnell eine vertretbare Belastung des Gesundheitssystems zu erreichen und aus den Ereignissen politische Lehren zu ziehen. Eine Impfpflicht abzulehnen, weil in den letzten Jahrzehnten eine unzureichende Gesundheitspolitik verfolgt wurde verhöhnt alle unmittelbar und mittelbar vom Virus Betroffenen.

      • Andy Sat 29 Jan 2022 at 11:06 - Reply

        Leon, Sie schreiben:
        “Natürlich wären wir mit einem gut ausgestatteten Gesundheitssystem deutlich besser aufgestellt und dieses Thema sollte deshalb dringend angegangen werden. Dieser Prozess geht allerdings nicht von heute auf morgen, sondern benötigt Jahre.”

        Das ist zweifelhaft, Verdi hat ermittelt das es ca. 300.000 Pflegekräfte gibt die aber nicht mehr in dem Bereich arbeiten. Davon würden ca. 50% in Ihren Beruf zurückkehren wenn sich die Bedingungen verbessern würden. Dieses Potential wäre also kurzfristig verfügbar. Vor allem da die technsichen Gegebenheiten wie Betten vorhanden sind und es tatsächlich nur an Personal fehlt.
        Dazu kommt das Omikron das tiefe Lungengewebe kaum noch befällt (ca. Faktor 10 geringer), sondern vor allem die oberen Atemwege. Hier dürften die Anforderungen an die Behandlung sinken, durch geringere Anzahl künstliche Beatmungen, etc.

  8. Alfons Sat 22 Jan 2022 at 18:49 - Reply

    Warum wurde mein Kommentar gelöscht? Diese Frage stelle ich über diesen Weg an die Moderation, weil wohl so der direkte Zugang möglich ist. Diese Frage stelle ich nicht nur, weil ich schon ewig den Verfassungsblog monatlich finanziell unterstütze und auch kaum etwas kommentiere. (allerdings nicht mit Pseudonym wie hier) Sondern weil ich es – auch anbetracht der anderen Kommentare – nicht nachvollziehen kann. Vorschlag: Kann man/frau solche Streichung nicht wenigstens den Betroffenen mit einer kurzen Begründung mitteilen; die Email-Adresse ist ja bekannt? Jedenfalls, schade und ich bin mir keiner Schuld bewusst.

    • Maximilian Steinbeis Sun 23 Jan 2022 at 00:06 - Reply

      der Kommentar wurde nicht gelöscht, sondern war in der Moderationsschleife. Wir müssen die Kommentare einzeln frei geben, weil sonst die Kommentarfunktion von Trollen und Spammern geflutet werden würde, und daran hat niemand ein Interesse (außer Trollen und Spammern). Wir sind ein kleiner Laden, wir können keine Freigabe in Echtzeit gewährleisten. Nicht ideal, aber was will man machen.

  9. Andy Sun 23 Jan 2022 at 11:21 - Reply

    Ich sehe hier durchaus ein Problem bei der Erforderlichkeit.
    Die Imfpung hat 2 Ziele für die sie als geeignet angesehen werden kann.
    Weitere Ziele, wie Ausrottung des Virus und Herdenimmunität sehe ich nicht, bzw. wurden diese bereits wissenschaftlich wiederlegt.

    Es beliben zum einen persönlicher Gesundheitsschutz vor schwerer Erkrankung, zum anderen eine Entlastung des Gesundheitssystems insgesamt.

    Ersteres kann wie Sie dargestellt haben höchstens als Selbstschädigung gelten, bleibt eigendlich nur noch die Entlastung des Gesundheitssystems als Grund.
    Aber ist die Impfpflicht für diese Entlastung erforderlich ? Dieser Punkt umschifft der Artikel, ich zweifele dies allerdings an.
    Die Robustheit des Gesundheitssystems ist von vielen weiteren Faktoren abhängig, von Alternativen wie mittlerweile fortgeschrittenen, medikamentösen Therapiemöglichkeiten aber vor allem von der finanziellen Ausstattung. Seit 2020 wurden 5000 Intensivbetten abgebaut, es lagen aber zu Hochzeiten “nur” 4600 Covidpatienten auf der Intensivstation. Es darf also bezweifelt werden das hier nicht mildere Mittel als eine Impfpflicht zur Verfügung stehen eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden.

    Dazu kommt das durch neue, ansteckendere Mutanten und forschreitender Pandemie dazu das immer weniger Menschen weder geimpft noch infiziert sind. Der Anteil der Menschen ohne “Viruskontakt” und der damit verbundenen Grundimmunität dürfte schon nach diesem Winter nur noch vernachlässigbar gering sein.
    Die Zahlen der Vergangenheit mit der die Impfpflicht begründet werden soll sind allerdings auf eine nicht-immunisierte Bevölkerung bezogen, die es so schon bald nicht mehr geben wird.

    Inwiefern es notwendig sein soll über diese, bald in der Bevölkerung vorhandene Grundimmunität, noch zuzätzlich zu impfen halte ich für stark zweifelhaft. Ein merklicher epidemiologischen Effekt dürfte hier auch nur eingeschränkt zu erwarten sein.

  10. Benedikt Pichl Sun 23 Jan 2022 at 12:59 - Reply

    Die Kritik vieler Vorkommentatoren, dass das Abstellen auf die Subjektivität der Eingriffsintensivtät keinen validen Maßstab darstellt, teile ich, Dennoch ist die aus dieser Kritik abgeleitete Schlussfolgerung, eine allgemeine impflicht sei verhältnismäßig und somit verfassungskonform, zu kurz gesprungen.

    Denn das Kernproblem des Beitrags besteht in meinen Augen darin, dass nicht konretisiert wird, worin das Ziel der Maßnahme bestehen soll, da nur allgemein von „Gesundheitsschutz sowie insbesondere der Schutz vor einer Überlastung der Gesundheitssysteme“ gesprochen wird. Vielmehr müssten aber für eine sachgemäße Verhältnismäßigeitsprüfung die infragekommenden Ziele jeweils separat geprüft werden. Nach meinem Verständnis kommen dabei folgende vier Ziele infrage:

    1. Erhöhrung der Impfquote
    2. Verhindern der Verbreitung des Erregers
    3. Senkung der individuellen Krankheitslast durch Verhindern schwerer Krankheitsverläufe beim Einzelnen
    4. Beherrschbarkeit der (gesamtgesellschaftlichen) Krankheitslast Senkung der Anzahl schwerer Krankheitsverläufe

    zu 1.: Hier scheitert die Verhältnismäßigkeit der Impfpflicht bereits beim Punkt „Legitimes Ziel“. Die Erhöhung der Impfquote stellt an sich noch kein legitimes Ziel dar. Eine Impfung ist kein Selbstzweck, sondern immer nur Mittel zum Zweck, die Erhöhung der Impfquote also nur Modalziel, aber niemals Finalziel. (Möglicherweise ) Legitime Finalziele sind hingegen die anderen drei Ziele.

    zu 2. Hier scheitert die Verhältnismäßigkeit der Impfpflicht bereits beim Punkt „Geeignetheit“. Es besteht Einigkeit, dass die aktuell verfügbaren Impfstoffe keine sterile Immunität bieten. Zwar gibt es wissenschaftliche Studien, laut denen Virenlast und Dauer des Virenlast-Peaks bei Geimpften geringer sind, genauso gibt es jedoch auch Studien, die keine relevanten Unterschiede fetstellen.

    Im Lichte dieser Uneindeutigkeit müsste ein „verständiger Dritter“ also untersuchen, wie sich das Infektionsgeschehen „unter Realbedingungen“ darstellt, was anhand der Erfahrungen anderer Länder gut möglich ist. Dabei zeigt sich, dass auch Länder mit Impfquoten, die man in Deutschland durch die Einführung einer Impflicht zu erreichen hofft, aktuell sehr hohe Infektionszahlen aufweisen (Inzidenzen: Dänemark > 4.000, Portugal > 3.000, Island > 2.500, Deutschland < 1.000). Das Mittel, die Impfquote mittels Impfpflicht zu erhöhen, dient dem Zweck, die Verbeitung des Erregers zu verhinden, also offensichtlich nicht, nicht mal "etwas" (es sei denn, man führt das keinem Gegenbeweis zugängliche Argument an, ohne die hohen Impfquoten in den genannten Ländern wären die Fallzahlen noch höher, mit dem das Kriterium der Geeignetheit jedoch auch gleich komplett entfallen könnte, weil dann per definitionem keine ungeeigneten Mittel mehr ergriffen werden können).

    zu 3.: Hier scheitert die Verhältnismäßigkeit der Impfpflicht bereits beim Punkt "Legitimes Ziel". Wenn schon einem Kranken eine medizinische Behandlung nicht aufgenötigt werden darf (Stichwort Patientenverfügung), dann darf sie erst Recht einem Gesunden nicht zu seinem vorbeugenden Schutz aufgenötigt werden.

    zu 4. Hier scheitert die Verhältnismäßigkeit der Impfpflicht beim Punkt "Erforderlichkeit". Zwar senkt die Impfung nach allen vorliegenden Erkenntnissen die das Risiko von Hospitalisierung und Intensivbehandlungsnotwendigkeit und damit die daraus resultierende gesamtgesellschaftliche Bürde. Dieses Risiko ist jedoch – sofern keine einschlägigen Vorerkrankungen vorliegen – bei jüngeren Alterskohorten ohnehin immer sehr gering gewesen (85% aller Corona-Intensivpatienten waren und sind älter als 50 Jahre). Hinzu kommt, dass durch die neue Variante die Krankheitslast gegenüber vorherigen Virusvarianten erheblich zurückgeht, was sich an den zuletzt stetig sinkenden Intensivbettenbelegungen durch Corona-Patienten zeigt (trotz gleichzeitig rekordhoher Infektionszahlen). Insofern geht auch der Maßstab fehl, an dem die Autorin die Erforderlichkeit in ihrem Beitrag prüft, da sie dabei implizit voraussetzt, dass es ohne Impfung gar nicht ginge. Misst man die Erforderlichkeit jedoch richtigerweise an dem Maßstab, was zu tun ist, um die gesamtgesellschaftliche Krankheitslast durch schwere Coronaverläufe beherrschbar zu halten, wäre die zutreffende Antwort hingegen derzeit am ehesten: nichts. Denn das Problem hoher Intensivkapazitätbelastungen löst sich aktuell ganz von selbst, da sich der Erregeer sehr viel besser an seinen Wirt angepasst hat, und wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, ist es notwendig, kein Gesetz zu erlassen. Diesen Pfad bestreiten erste Länder bereits, indem sie die Coronamaßnahmen entweder komplett beenden (Irland, UK) oder aber auch bei den aktuell hohen Fallzahlen zurückzufahren planen (Dänemark, Spanien, Norwegen), da sie die aus der jetzigen Coronavariate resultierende gesamtgesellschaftliche Bürde nur mehr wie die der Influenza bewerten.

    Alles in allem ist eine allgemeine Impfpflicht somit nicht verhältnismäßig und somit auch nicht verfassungsgemäß. Wegen des fehlenden Drittschutzes ist im Übrigen auch eine einrichtungsbezogene Impfpflicht etwa für das Gesundheitswesen nicht verhältnismäßig und somit auch nicht verfassungsgemäß.

    P.S.: selbst wenn man die Erforderlichkeitsprüfung in der Art durchführt, wie es die Autorin tut, gäbe es noch ein minderes Mittel zur Erhöhung der Impfquote, nämlich eine (bußgeldbewährte) Pflicht zur Wahrnehmung einer Impfberatung, analog der Beratungspflicht beim Schwangerschaftsabbruch.

    • Sebastian J Wed 26 Jan 2022 at 12:20 - Reply

      Danke für die differenzierte Diskussion. Zu 3. würde ich jedoch als legitimes Ziel ausgeben wollen: *Andere* vor der Ansteckung schützen. Wofür Abstandspflicht, Maskenpflicht usw. evident nicht ausreichen. Denn wer geimpft ist, hat ein geringeres Risiko, für andere infektiös zu sein.

      Und auch wenn Omikron mehr Impfdurchbrüche hat: Wenn Omikron doppelt so infektiös ist wie Delta, aber bei Infektion ein Viertel weniger schwere Verläufe hat, dann gibt es immer noch 2 x 3/4 = 1,5 mal mehr schwere Verläufe durch Omikron als durch Delta, also 50 % mehr schwere Verläufe bezogen auf ganz Deutschland. Die Impfung ist also sehr wohl geeignet, bei Omikron die Zahl der schweren Verläufe zu reduzieren – und gerade eben auch bei *anderen* als den Geimpften.

  11. Leon Sun 23 Jan 2022 at 14:38 - Reply

    Auch ich kann mich einigen vorangegangenen Kommentaren in der Frage der Konsequenz dieser subjektivierten Betrachtung des Eingriffs nur anschließen. Mir scheint es ausgesprochen gefährlich die Tür des empfundenen Grundrechtseingriffs in diese Richtung zu öffnen. So halte ich die gezogene Parallele zur Religionsfreiheit für übereilt. Allein dadurch, dass es sich jeweils um Freiheitsgrundrechte handelt, sind sie nicht uneingeschränkt gleich zu handhaben. Das Verhältnis des Einzelnen zu höheren Mächten und Spiritualität ist in der Tat an subjektiven Maßstäben zu messen und damit vielleicht auch der entsprechende Eingriff. Eine Impfung lässt sich im Gegensatz dazu aber naturwissenschaftlich im Hinblick auf Wirksamkeit und Risiken untersuchen. Bei der Einordnung des Impfeingriffs haben die rein subjektiven Auswirkungen ebenso wenig Raum wie objektiv naturwissenschaftliche Tatsachen im Rahmen der Religionsfreiheit.
    Verwirft man die objektive Einordnung eines Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit, stellt sich unweigerlich die Frage der Reichweite dieses Ansatzes. Eine Impfpflicht ist keine neue Idee und seit Jahren gelebte Realität. Muss auch die Überzeugung berücksichtigt werden, eine Maserninfektion mache Kinder stärker, die Impfung dagegen zu gefährlich? Wie ist das Blutabnehmen nach einer Trunkenheitsfahrt zu bewerten, während es im Zweifel noch nicht einmal zu einer konkreten Gefährdung von Mitmenschen kam? Selbstverständlich hilft dem Fahrer auch da keine Spritzenphobie.
    Nicht zuletzt wird die Angemessenheit bezweifelt, weil nicht in Aussicht steht die Krankheit mit den vorhandenen Impfstoffen auszurotten. Dieser Maßstab ist gravierend zu hoch gegriffen und es stellt sich die Frage, wer diesen Maßstab festgesetzt hat. Eine Ausrottung wäre selbst mit deutlich wirksameren Impfstoffen wohl kaum möglich, braucht es dazu doch eine mindestens europäische, wenn nicht globale Anstrengung. Zudem ist nicht ersichtlich, warum eine massive Entlastung des Gesundheitssystems, eine massiv verringerte Sterblichkeit und der Schutz der ebenso wichtigen Grundrechte aller Geimpften und derjenigen, die sich nicht impfen lassen können, nicht genügen soll.

  12. S. Q. Sun 23 Jan 2022 at 14:50 - Reply

    Es heißt “Pieks”, von piek(s)en.

    Pique (Pik) ist eine Spielfarbe im französischen Kartenblatt.

    “Pik”/”Piks” existiert erst seit der “Corona”-Medienschwemme.

    Das stammt von pick(s)en, so wie ein Huhn ein Korn aufpickt. Zwar wird auch ein kurzer stechender Schmerz damit beschrieben, aber eher wie ein Verzerrungsschmerz, nicht wie das Einstechen einer Nadel (nebst Druckschmerz, evtl. Folge-Schmerzen), wie beim Impfen gemeint. Insofern ist auch ein “kurzer Pieks” ein Euphemismus, insbesondere, da es durchaus schwerwiegende Impffolgen bis hin zum Tode geben kann.

    (https://de.wiktionary.org/wiki/Pieks)

  13. Th. Nadel Sun 23 Jan 2022 at 17:17 - Reply

    Ich schließe mich Bernhard Wegener an. Als regelmäßiger finanzieller Unterstützung des Verfassungsblogs bin ich zudem auch besorgt darüber, dass bei einem derart heiklen Thema dem Anscheind nach keinerlei Qualitätssicherung stattfindet – der Beitrag enthält zwar einen Impuls für die anstehende rechtspolitische Debatte, ist insgesamt aber weit davon entfernt, die Gedankengänge wirklich ausgereift zu präsentieren. Im Querdenker-Milieu wird sich Frau Sackofsky mit diesem Beitrag natürlich ein Denkmal gebaut haben.

    Insbesondere zwei Mängel in dem Beitrag halte ich für besonders gravierend und fatal:
    – Die Ausführungen zur Abwägung beschränken sich auf floskelartige Annahmen, sind nicht umfassend evidenzbasiert, nicht verallgemeinerungsfähig, und letztlich wird klar, dass eine umfassende Abwägung schlicht nicht gewünscht ist (“Auch weitere Einwände ändern an diesem Ergebnis nichts.”). Eine solche methodische Vorgehensweise würde Frau Sackofsky ihren Studierenden sicherlich nicht durchgehen lassen.
    – Der ganze Beitrag fußt auf der Prämisse, dass man die Rspr. des BVerfG zur Religionsfreiheit auf alle weiteren Grundrechte anwenden kann, ohne jede Modifizierung oder Relativierung. Das ist nach meinem Dafürhalten gegenüber den Müttern und Vätern des Grundgesetzes schlicht blanker Hohn. Die Anlegung eines bloßen Plausibilitätsmaßstabes folgt bei der Religionsfreiheit aus dem Umstand, dass der Staat sich nicht mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft identifizieren darf – im Übrigen lebt das Grundgesetz aber davon, dass bestimmte Verhaltensweisen unter einer staatlichen Wertungshoheit stehen. Die hier vorgenommene Subjektivierung der Eingriffsintensität würde – konsequent gedacht – dazu führen, dass viele grundrechtliche Positionen entwertet werden würden. Zudem sei die Anmerkung erlaubt, dass der EGMR einer solchen Subjektivierung der Eingriffsintensität beim Recht auf Leben / dem Recht auf körperliche Unversehrtheit bereits eine klare Absage erteilt hat. Aus meiner Sicht hätte es der wissenschaftliche Anstand geboten, dies wenigstens kenntlich zu machen.

    • A Turing Mon 24 Jan 2022 at 09:18 - Reply

      Was ich eher bedenklich finde ist es, mit Verweis auf die eigene finanzielle Unterstüztung des Blogs die Publikation eines nicht genehmen Artikels in Frage zu stellen. Für eine breit akzeptierte Gesetzesnovelle ist ein intensiver und aus verschiedenen Blickwinkeln erfolgender Diskurs in der interessierten Öffentlichkeit notwendig. Ob man den Beitrag mag oder nicht: Er bringt eine pointierte Perspektive in eine relevante Diskussion. Insb. die gegenderte Kritik in den Kommentarspalten hier ist sehr bedenklich.

  14. Judgi Sun 23 Jan 2022 at 18:36 - Reply

    Hat jemand Fundstellen für Anwendung dieses subjektivierten Eingriffsbegriffs im Hinblick auf die Intensität und dessen starke Gewichtung?

  15. Konstantin Mon 24 Jan 2022 at 11:22 - Reply

    Die Ausführungen zur Erforderlichkeit irritieren: Hier wird als legitimes Ziel auf die Impfpflicht selbst Bezug genommen. Sie ist aber gerade nicht das legitime Ziel, sondern der Zweck zur Erreichung des Ziels.
    Weiterhin werden entscheidende empirische Erkenntnisse nicht angeführt bzw. nicht aus dem Weg geräumt:
    – wieso geht die Autorin nicht auf den Umtand ein, dass 2020/2021 durchgehend eine Untersterblichkeit in den relevanten Altersgruppen vorherrschte (altersbereinigt)? (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34343210/ für 2020)
    – ebenfalls nicht berücksichtigt wird der Umstand, dass die absolute Zahl Beatmungsfälle auf Intensiv laut IQM Abrechnungsdaten niemals über denen der Vorjahre lag, 2020/2021.(https://www.initiative-qualitaetsmedizin.de/covid-19-pandemie)
    – Es fehlt der Nachweis des Nutzens der Impfung bzgl. einer geringeren Hospitalisierungsrate bzw. höheren Überlebensrate bzgl. Omikron. Wenn die Nutzen so offensichtlich ist, ist ein keiner Link auf eine entsprechende Studie zuviel verlangt?

    Gibt es unter Rechtswissenschaftlern eigentlich so etwas wie einen wissenschaftlichen Ethos? Wieso werden solche einschneidende Maßnahmen legitimiert, ohne eine Beweisführung zu erbringen?

  16. Jürgen J. Tue 25 Jan 2022 at 18:12 - Reply

    Ein Hauptargument pro Impf-Pflicht ist die (drohende) Überlastung des Gesundheitssystems.
    Deshalb frage ich mich, ob dieser Begriff nicht zu verallgemeinernd ist, um in dieser wichtigen Frage als Argument zu dienen.
    Wer definiert denn, auf welcher Grundlage und ab wann eine solche Überlastung als “drohend” angesehen werden kann?
    Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit das System als überlastet gilt?
    Überfüllte Kliniken gab es auch vor Corona regelmäßig während der saisonalen Schwerpunktzeiten und es bestand ein gewisser Konsens, dass es sich hierbei um ein strukturelles Problem handelt.
    Was zur nächsten Frage führt, ob nicht zum Beispiel eine strukturelle Verbesserungen des Gesundheitssystems geeigneter wären, den Gefahren gefährlicher Krankheitserreger zu begegnen.
    So ist es meiner Ansicht nach ein unhaltbarer Zustand, dass nach zwei Jahren Pandemie-Geschehen offensichtlich immer noch keine qualifizierte Frühbehandlung Covid-Erkrankter stattfindet, welche möglicherweise zu einer Entlastung der Krankenhäuser beitragen könnte.
    Abschließend gebe ich meiner Hoffnung Ausdruck, dass eine wie auch immer geartete Impf-Pflicht einhergeht mit einer maximalen Transparenz bezüglich der Inhalte der Kaufverträge zwischen den staatlichen Akteuren und den Herstellern, der Daten der entsprechenden Zulassungsstudien sowie der laufenden Überwachung zur Sicherheit und Verträglichkeit.

  17. Detlef Urbschat Mon 31 Jan 2022 at 13:02 - Reply

    Dass Geimpfte ihre Mitmenschen seltener anstecken würden, ist durch mehrere Studien widerlegt. Für Schutz vor schweren Verläufen sind Impfungen nicht mehr alternativlos und nicht mehr “zwingend”, denn das versprechen inzwischen auch die neuen Tabletten von Pfizer und Merck. Insbesondere sind auch die Vorteile für Risikogruppen zweifelhaft und nicht pauschal zu regeln.
    Als Multiple-Sklerose-Betroffener sehe ich die Vertrauenswürdigkeit von Medikamenten-Zulassungen ständig in Frage gestellt. Meine Neurologin erzählte mir erst beim letzten Besuch wieder von Mitteln, die wegen ihrer “unerwarteten” Nebenwirkungen zurückgezogen werden mussten. 2021 hat eine Forschergruppe angeführt von Nina Grytten rückblickend die Krankheitsdaten tausender norwegischer MS-Patienten ausgewertet. Diese waren ab 1996 bis 2017 auf “modernere Medikamente” gegen ihre Krankheit umgestellt. Die Kehrseite der dadurch möglichen Linderungen: Diese MS-Betroffenen erkrankten dann all die Jahre lang signifikant häufiger an Krebs, was aber erst 2021 ans Licht geholt wurde.
    Aus Sicht meiner Neurologin brauche ich deshalb immer Mittel, die auf meine aktuelle Immunsituation ausgerichtet sind und nicht “von der Stange” kommen. Die bisherigen Impfungen sollten ja gerade den Risikopatienten helfen, doch die reagierten dann auch am Unerwartesten, was auch mit den Nachimpfungen nicht besser geworden ist.
    Die Pharmaindustrie verdient zwar gerne Geld mit Patenten für das Verschieben von Reglern im Immunsystem, hat aber immer noch viel zu wenig Ahnung und Kontrollinteresse, was dadurch auch an längerfristgen Nebenwirkungen ausgelöst werden kann. Falsche Sicherheiten vorgaukeln ist Betrug, auch wenn es durch “Expertenräte” geschieht. Daraus dann Grundrechtseingriffe rechtfertigen?

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