20 June 2020

Apropos Künast-Fall

Das BVerfG bekräftigt seine Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit – aber auch zum Schutz vor Beleidigungen im Netz

1.

Das Bundesverfassungsgericht hat seine Rechtsprechung zum starken Schutz der Meinungsfreiheit bekräftigt, aber zugleich klargestellt, dass danach seit jeher auch dem Persönlichkeitsschutz im Einzelfall der Vorrang gebühren kann – insbesondere auch bei Beleidigungen im Netz.

In vier gerade veröffentlichten, parallel ergangenen Kammerbeschlüssen vom 19. Mai 2020 hat das Gericht zwei strafgerichtliche Verurteilungen wegen Beleidigung wegen Verstoßes gegen die Meinungsfreiheit aufgehoben – zwei weitere dagegen unbeanstandet gelassen.

Diese Entscheidungen lassen sich unschwer auch als Kommentar zur öffentlichen Debatte über die Entscheidungen des Landgerichts Berlin zu den Facebook-Postings gegen Renate Künast lesen, in denen das Landgericht übelste Beschimpfungen als von der Meinungsfreiheit gedeckt angesehen hatte – zu Unrecht und ohne sich dabei auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stützen zu können (vgl. näher hier, bei Fn. 47-49; zur Kammergerichtsentscheidung s. hier).

Dem Zerrbild seiner Rechtsprechung, das teilweise in dieser Debatte gezeichnet wurde, hat das Bundesverfassungsgericht mit diesen Entscheidungen eine Bestätigung und Konkretisierung der tatsächlichen Maßstäbe seiner Rechtsprechung entgegengesetzt.

2.

Von eigenständigem Interesse ist die Pressemitteilung des Gerichts, die eine Einordnung der Entscheidungen aus der Sicht des Gerichts gleich mitliefert:

Die Kammer habe die „Verfahren zum Anlass genommen“, um die Rechtsprechung „zum Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht bei ehrverletzenden Äußerungen klarstellend zusammenzufassen“. Sie habe „bekräftigt“, dass es in diesem Spannungsverhältnis „in aller Regel“ auf eine Abwägung im Einzelfall ankommt und wesentliche Abwägungskriterien „zusammengefasst“.  

„In Abgrenzung dazu“ habe die Kammer „wiederholt, dass eine Abwägung nur in besonderen Ausnahmefällen und nur unter engen Voraussetzungen entbehrlich sein kann, nämlich in den – verfassungsrechtlich spezifisch definierten – Fällen einer Schmähkritik, einer Formalbeleidigung oder einer Verletzung der Menschenwürde“. Sie habe „die speziellen Voraussetzungen solcher Fallkonstellationen klargestellt und hervorgehoben, dass deren Bejahung von den Fachgerichten klar kenntlich zu machen und in gehaltvoller Weise zu begründen ist“. 

Umgekehrt habe die Kammer „betont, dass die Ablehnung eines solchen Sonderfalls, insbesondere das Nichtvorliegen einer Schmähung, das Ergebnis der Abwägung nicht präjudiziert“.

3.

Es war genau dieses Einmaleins der Meinungsfreiheit, dass die erste Entscheidung des Landgerichts Berlin zum Fall Künast in erstaunlicher Art und Weise unbeachtet gelassen hatte (vgl. dazu auch schon Rath hier).

Die Meinungsfreiheit verlangt für strafrechtliche Beleidigungsverurteilungen zumeist eine Abwägung im Einzelfall. Dass keine der seltenen Ausnahmen von diesem Erfordernis gegeben ist, heißt nicht etwa, dass die Meinungsfreiheit damit automatisch Vorrang hat, sondern nur, dass es beim Regelfall der notwendigen Einzelfallabwägung bleibt.

Die Grenzen der Meinungsfreiheit sind nicht erst in den Fällen der Schmähkritik, der Formalbeleidigung und der Menschenwürdeverletzung erreicht. Auch wenn diese (eng zu fassenden) Fallgruppen nicht einschlägig sind, kann die gebotene Abwägung trotzdem (eindeutig) zugunsten des Persönlichkeitsschutzes ausfallen. Dass etwa keine Schmähkritik vorliegt, kann daher keineswegs schon das Ende der Prüfung sein, sondern ist erst ihr Anfang: Dieser Feststellung muss dann die notwendige Einzelfallabwägung erst noch nachfolgen.

4.

Neben der offenbar sinnvollen Wiederholung dieses grundrechtlichen „Grundlagenstoffs“ für die strafgerichtliche Würdigung beleidigender Äußerungen enthalten die Entscheidungen aber auch bemerkenswerte Konkretisierungen dieser und weiterer Linien der ständigen Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit.

5.

So finden sich zu den Begriffen der Schmähkritik (vgl. hierzu insbesondere Masing, hier) und der Formalbeleidigung neue konkretisierende Aussagen.

Zur Schmähkritik wird insbesondere auch auf die Internetkommunikation eingegangen (Rn. 19). Es seien „dies Fälle, in denen eine vorherige Auseinandersetzung erkennbar nur äußerlich zum Anlass genommen wird, um über andere Personen herzuziehen oder sie niederzumachen, etwa in Fällen der Privatfehde“.

 „[U]nter den Kommunikationsbedingungen des Internets“ seien solche Äußerungen „aber nicht selten auch von Privatfehden losgelöst“: „Sie können persönlich nicht bekannte Personen, auch des öffentlichen Lebens, betreffen, die im Schutz der Anonymität des Internets ohne jeden nachvollziehbaren Bezug zu einer Sachkritik grundlos aus verwerflichen Motiven wie Hass- oder Wutgefühlen heraus verunglimpft und verächtlich gemacht werden.“ 

Damit wird – zu Recht – klargestellt, dass die Aussage, Schmähkritik werde „eher auf die sogenannte Privatfehde beschränkt bleiben“ (vgl. BVerfGE 93, 266 [294]), nicht für die Netzkommunikation gelten kann.

Zum Begriff der Formalbeleidigung (Rn. 21) wird erläutert, dass eine solche „etwa“ gegeben sei „bei mit Vorbedacht und nicht nur in der Hitze einer Auseinandersetzung verwendeten, nach allgemeiner Auffassung besonders krassen, aus sich heraus herabwürdigenden Schimpfwörtern – etwa aus der Fäkalsprache“. Kriterium der Strafbarkeit sei hier „die kontextunabhängig gesellschaftlich absolut missbilligte und tabuisierte Begrifflichkeit und damit die spezifische Form dieser Äußerung“. 

Allerdings sei zwischen der fachrechtlichen Verwendung des Begriffs der Formalbeleidigung und seinem verfassungsrechtlichen Sinn zu unterscheiden: Verfassungsrechtlich sei sie „nicht immer schon dann“ zu bejahen, wenn „im Sinne des § 192 StGB unabhängig von einem Wahrheitsbeweis“ die Beleidigung „aus der Form der Behauptung oder Verbreitung oder aus den Umständen, unter welchen sie geschah“ hervorgeht – auch wenn fachrechtlich „auch diese Fallkonstellationen unter den Begriff der Formalbeleidigung gefasst“ werden. 

Um eine Formalbeleidigung im verfassungsrechtlichen Sinn anzunehmen, muss das Strafgericht näher begründen, dass die Äußerung „das absolute Mindestmaß menschlichen Respekts verlässt und unabhängig von den Umständen grundsätzlich nicht mit der Meinungsfreiheit vereinbar sein kann“ (Rn. 23).

Mit der Aussage, dass selbst bei einer Formalbeleidigung in diesem engeren Sinn eine Abwägung „wie bei der Schmähkritik“ (nur) „im Regelfall“ oder „in aller Regel“ nicht erforderlich (Rn. 21) sei, wird zudem die Tür zum grundrechtlich gebotenen Abwägungserfordernis auch bei diesen Fallgruppen nicht gänzlich zugeschlagen.

6.

Zur Menschenwürdeverletzung bekräftigt das Gericht seine ständige Rechtsprechung, nach der es „einer sorgfältigen Begründung“ bedarf, „wenn ausnahmsweise angenommen werden soll, dass der Gebrauch der Meinungsfreiheit auf die unantastbare Menschenwürde durchschlägt“ (Rn. 22).

Das Bundesverfassungsgericht betont außerdem, dass eine Menschenwürdeverletzung „nur in Betracht“ kommt, wenn eine Äußerung „einer konkreten Person“ den ihre menschliche Würde ausmachenden Persönlichkeitskern abspricht (Rn. 22).

Wenn das Gericht hier hervorhebt, dass die Würde „einer konkreten Person“ betroffen sein muss, so kann darin kann eine Bekräftigung seiner Rechtsprechung gesehen werden, nach der es der Meinungsfreiheit Rechnung trägt, wenn „herabsetzende Äußerungen über unüberschaubar große Gruppen (wie alle Katholiken oder Protestanten, alle Gewerkschaftsmitglieder, alle Frauen) nicht auf die persönliche Ehre jedes einzelnen Angehörigen… durchschlagen” (vgl. BVerfGE 93, 266 [300-302] – Soldaten [1995]) – und nach der die daraus resultierenden Deutungsanforderungen auch für die Annahme eines Angriffs auf die Menschenwürde nach § 130 StGB gelten (vgl. BVerfG-K v. 13.12.2001 – 1 BvR 870/93, Rn. 4). 

(Eine kürzliche Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln, die offenbar verunglimpfende Äußerungen über alle Frauen als strafbare Volksverhetzung eingestuft hat, stünde danach verfassungsrechtlich auf unsicherem Boden.)

Für alle drei Fallgruppen (Schmähkritik, Formalbeleidigung und Menschenwürdeverletzung) betont das Gericht zudem, dass sie den Strafgerichten keineswegs einen leicht gangbaren Weg zum Verzicht auf eine Einzelfallabwägung eröffnen, sondern ihrerseits einer „auf die konkreten Umstände des Falles bezogenen, gehaltvollen und verfassungsrechtlich tragfähigen“ Begründung bedürfen (Rn. 23). 

7.

Das Gericht fasst sodann ausführlich die allgemeinen Abwägungsmaßstäbe zusammen, die für jenen Regelfall gelten, in dem keine der drei Fallgruppen greift, und eine Einzelfallabwägung notwendig bleibt (Rn. 26-35) (wobei zugleich auch ausdrücklich hervorgehoben wird, dass nicht etwa alle diese Gesichtspunkte stets „abgearbeitet“ werden müssen, sondern „[j]e nach Umständen […] auch eine recht knappe Abwägung ausreichen“ kann, Rn. 35).

Auch in den Ausführungen zu diesen allgemeinen Abwägungsmaßstäben finden sich bemerkenswerte neue Konkretisierungen.

So betont das Gericht begrüßenswerter Weise, dass in der Abwägung „auch eine gegebenenfalls beschränkte Ausdrucksfähigkeit und sonstige soziale Bedingtheit des jeweiligen Sprechers in Rechnung zu stellen sein“ – weil mit Blick „auf die eine gleichberechtigte Beteiligung aller an der öffentlichen Kommunikation gewährleistende Dimension der Meinungsfreiheit“ nicht „Anstands- und Ehrvorstellungen eines Teils der Gesellschaft allen übrigen Mitgliedern“ aufgezwungen werden dürfen (Rn. 28). 

Mit anderen Worten: Die Strafgerichte müssen sich von Grundrechts wegen davor hüten, sich bei der Abwägung von sozialen Vorurteilen leiten zu lassen.

8.

Das Gravitationszentrum der Meinungsfreiheit ist die politische Rede – sie gibt jedoch keinen Freibrief für persönliche Angriffe. Das Gericht entwickelt zu diesen Leitlinien seiner ständigen Rechtsprechung erstmals Maßstäbe, die ausdrücklich auf die neue Realität der sozialen Medien mit ihrem gewaltigen Hasspotential reagieren.

Es fasst diese Leitlinien in eine neuartige Je-desto-Formel: In der Abwägung ist das „Gewicht der Meinungsfreiheit ist umso höher, je mehr die Äußerung darauf zielt, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht“ (Rn. 29).

Es hebt zudem ausdrücklich hervor, dass auch die wichtigen „Gesichtspunkte der Machtkritik und der Veranlassung durch vorherige eigene Wortmeldungen im Rahmen der öffentlichen Debatte“ in eine Abwägung „eingebunden“ bleiben und „nicht jede auch ins Persönliche gehende Beschimpfung von Amtsträgern oder Politikern“ erlauben (Rn. 32).

Insbesondere angesichts der Informationsverbreitung durch „soziale Netzwerke“ im Internet, so führt es aus, liegt „ein wirksamer Schutz der Persönlichkeitsrechte von Amtsträgern und Politikern über die Bedeutung für die jeweils Betroffenen hinaus auch im öffentlichen Interesse, was das Gewicht dieser Rechte in der Abwägung verstärken kann“ (Rn. 32). 

Bei „schriftlichen Äußerungen“ könne „im Allgemeinen ein höheres Maß an Bedacht und Zurückhaltung erwartet werden – und dies gelte „grundsätzlich auch für“ Äußerungen in den „sozialen Netzwerken“ im Internet (Rn. 33). Die ehrbeeinträchtigende Wirkung einer Äußerung könne durch das Medium des Internet, je nach konkreter Breitenwirkung, verstärkt sein (vgl. Rn. 34).

9.

Das Bundesverfassungsgericht betont auch, dass die Vermutung für die freie Rede eben dies ist – eine Vermutung, die durch entsprechend starke Gegengründe im Einzelfall auch widerlegt werden kann (Rn. 16; die Randnummernverweise beziehen sich hier und im Folgenden, soweit nicht anders angegeben, auf die Entscheidung im Verfahren 1 BvR 2397/19; vgl. dazu auch die Pressemitteilung, nach der die Kammer dort „die auch für die anderen Verfahren maßgeblichen Maßstäbe übergreifend zusammenfasst“).

Diese Vermutung „zielt“, wie die Kammer betont, „insbesondere darauf, der Meinungsfreiheit dann zur Durchsetzung zu verhelfen, wenn es sich bei einer Äußerung um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage handelt“. Sie ist „Ausfluss der schlechthin konstituierenden Bedeutung der Meinungsfreiheit für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung“, begründet aber „keinen generellen Vorrang der Meinungsfreiheit gegenüber dem Persönlichkeitsschutz“. 

Die Abwägung bleibt „offen und verlangt“ (lediglich) „eine der konstitutiven Bedeutung der Meinungsfreiheit Rechnung tragende Begründung“, wenn im Einzelfall gleichwohl dem Persönlichkeitsschutz der Vorrang gebührt: „Eine Asymmetrie zwischen den Grundrechten bei der Abwägung insgesamt ergibt sich hieraus jedoch nicht.“

Die Figur der Abwägung beruht stets auf der Vorstellung einer grundsätzlichen Symmetrie, in der es einen generellen Vorrang weder des Persönlichkeitsschutzes noch der Meinungsfreiheit gibt – sondern allenfalls partielle Vorränge für bestimmte Bereiche, wie den Wesensgehalt oder den Menschenwürdekern des jeweiligen Grundrechts. 

Mit der Vermutung für die Freiheit der Rede ist, soweit sie allgemein als auf die Meinungsfreiheit insgesamt bezogen gefasst wird, schlicht der Rechtfertigungsbedarf für Beeinträchtigungen der Meinungsfreiheit umschrieben: Sie verlangt insoweit Symmetrie, steht damit aber beispielsweise einer Asymmetrie zu Lasten der Meinungsfreiheit entgegen, die pauschal dem Persönlichkeitsschutz Vorrang einräumt. 

Soweit die Vermutung für die freie Rede sich auf Angelegenheiten bezieht, die die Öffentlichkeit wesentlich berühren, bezeichnet sie, darüber hinausgehend, einen Bereich, in dem der Meinungsfreiheit ein besonders starkes Gewicht zukommt – und indem es entsprechend besonders starker Gegengründe bedarf, um sie zurückzudrängen.

10.

Bei der Anwendung dieser Maßstäbe auf die konkreten Fälle wird etwa festgehalten, dass die Bezeichnung als „Justizverbrecher“ und „Rechtsbeuger“ in einem Weblog (unter Namensnennung und Bebilderung) danach im konkreten Fall zwar weder Formalbeleidigungen (Rn. 37) noch Schmähkritik (Rn. 38) waren, aber die entsprechenden Äußerungen in der Einzelfallabwägung gleichwohl als strafbare Beleidigung eingestuft werden durften, ja sogar „kaum anders“ eingestuft werden konnten (Rn. 39 ff.). 

In der zweiten Entscheidung blieb eine Beleidigungsverurteilung für Äußerungen in einer Klageschrift unbeanstandet, in der unter anderem von „geistig seelische[n] Absonderlichkeiten“ einer Rechtsamtsleiterin die Rede war: Unabhängig davon, ob eine Schmähkritik vorlag, sei es jedenfalls mit der Meinungsfreiheit vereinbar gewesen, dass die Strafgerichte in der Abwägung einen Vorrang des Persönlichkeitsschutzes angenommen hatten. 

Im dritten der Verfahren hob das Bundesverfassungsgericht dagegen die strafgerichtliche Verurteilung auf. Ein Rechtsanwalt hatte über einen behördlichen Abteilungsleiter im Rahmen einer Dienstaufsichtsbehörde unter anderem ausgeführt, dessen Verhalten „mittlerweile nur noch als offenbar persönlich bösartig, hinterhältig, amtsmissbräuchlich und insgesamt asozial uns gegenüber“ anzusehen. Das Bundesverfassungsgericht hielt fest, dass die Äußerungen weder Schmähkritik noch eine Formalbeleidigung darstellten und es an der gebotenen Einzelfallabwägung fehle; die Ergebnisoffenheit der nach Aufhebung und Zurückverweisung von den Strafgerichten vorzunehmenden Abwägung wird dabei gesondert betont (vgl. hier, Rn. 34 f.). 

Auch im vierten Verfahren wurde die strafgerichtliche Beleidigungsverurteilung für die Bezeichnung eines Landesfinanzministers als „rote Null“, die „als Genosse Finanzministerdarsteller dilettiert“, mangels hinreichender Einzelfallabwägung aufgehoben. Wiederum wird das Ergebnis der vorzunehmenden Abwägung nicht vorgegeben, allerdings wird den Strafgerichten für eine nochmalige Verurteilung hier eine hohe Begründungslast auferlegt, denn: „Bürger dürfen, insbesondere gegenüber Amtsträgern in Regierungsfunktion, auch harsche Fundamentalkritik („Null“) üben, und zwar unabhängig davon, ob sie dieses negative Urteil näher begründen und ob es weniger drastische Ausdrucksformen für die Kritik gegeben hätte“ (vgl. hier, Rn. 38).

11.

Alle vier Entscheidungen, gerade auch die beiden, in denen eine Verletzung der Meinungsfreiheit  verneint wurde, entsprechen der ständigen Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts. Auf manche mag es gleichwohl überraschend wirken, dass das Bundesverfassungsgericht überhaupt einmal einen Vorrang des Persönlichkeitsschutzes vor der Meinungsfreiheit akzeptiert.

Ungewöhnlich daran ist jedoch lediglich, dass das Gericht hier auch einmal die Gründe für Nichtannahmeentscheidungen veröffentlicht hat, in denen eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Beleidigung im Ergebnis unbeanstandet blieb (vgl. aber auch diese Kammerentscheidung von 2001, zu zwei zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden gegen die Bestrafung der Bezeichnung von Soldaten als „Mörder“, von denen nur die eine erfolgreich war, die andere hingegen erfolglos blieb).

Es mag zu einer gewissen Unausgewogenheit der Wahrnehmung der Rechtsprechungspraxis in der Öffentlichkeit durchaus mit beitragen, dass von den statistisch häufigeren Nichtannahme-Entscheidungen, in denen eine Berufung auf die Meinungsfreiheit vor dem Bundesverfassungsgericht erfolglos bleibt, viele ohne Begründung ergehen – weil das Gesetz den arbeitssparenden Verzicht auf eine (veröffentlichte) Begründung bei Nichtannahmen ermöglicht (vgl. § 93d I 3 BVerfGG). Dagegen muss jede der (vergleichsweise selteneren) stattgebenden Entscheidungen, in denen eine Verletzung der Meinungsfreiheit festgestellt wird, mit einer Begründung versehen werden.

So mag der irreführende Eindruck befördert werden, das Bundesverfassungsgericht entscheide so gut wie immer zugunsten der Meinungsfreiheit, dagegen so gut wie nie gegen sie – während die vielen, die alltägliche Praxis des Gerichts prägenden Nichtannahmebeschlüsse, in denen etwa strafgerichtliche Verurteilungen wegen Beleidigung unbeanstandet bleiben, der Öffentlichkeit verborgen bleiben.

12.

Fazit: Auf die heftige Debatte nach den befremdlichen Entscheidungen des Landgerichts Berlin zum Künast-Fall hat das Bundesverfassungsgericht zwar nicht  mit einer Senatsentscheidung reagiert, wie teils gewünscht (vgl. Janisch hier), wohl aber mit einer Kette von vier Kammerentscheidungen.

Wie es der Aufgabe der Kammern des Gerichts entspricht, hat das Bundesverfassungsgericht in diesem Beschlussquartett seine Senatsrechtsprechung bekräftigt und näher konkretisiert. Es hat dies zugleich zum Anlass genommen, Fehlvorstellungen entgegenzutreten, von denen die Debatte über die Künast-Entscheidungen teils geprägt war. Es hat klargestellt, dass seine Rechtsprechung zwar die zentrale Bedeutung der Meinungsfreiheit betont, jedoch seit jeher auch ihren Grenzen im Persönlichkeitsschutz Rechnung trägt. Werden diese Grenzen der Meinungsfreiheit beachtet, ist die Rechtsprechung des Gerichts auch im Zeitalter digitaler Hasskampagnen und Empörungsstürme zukunftsfähig.


One Comment

  1. Martin Deeg Mon 22 Jun 2020 at 10:51 - Reply

    Hier die entsprechende Beschwerde zum Verfassungsgericht:

    https://martindeeg.files.wordpress.com/2019/10/verfassungsbeschwerde-beleidigung-lg-stuttgart.pdf

    Meines Erachtens zweierlei Maß – ein Urteil von Richtern für Richter, deren massive rechtswidrige Taten zu keinerlei Aufklärung Anlass geben.

    M. Deeg,
    Polizeibeamter a.D.

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