13 July 2020

Are They All Textualists Now?

Das Bostock-Urteil zur LGBTQ-Gleichheit als halbherziger „Living Originalism“: Justice Scalias zwiespältiges Erbe

Das Bostock-Urteil, ein bahnbrechender Erfolg für die LGBTQ-Gleichheit am Arbeitsplatz, stützt sich auf den Textualismus von Scalia. Sind am U.S. Supreme Court jetzt also alle Textualisten? Und was  heißt das für die Zukunft?

„Wir beschäftigen uns obsessiv mit Interpretation, weil sie Rechte gibt und wegnimmt“ (Jeannie Suk Gersen). Die textualistische Interpretation hat diesmal Rechte gegeben. Womöglich wird sie schon bald Rechte – der Affirmative Action –  wegnehmen. Es ist zwar begrüßenswert, dass der Textualismus Schritte in Richtung eines „Living Originalism“ geht (vgl. zu diesem Balkin, sowie hier, S. 6-9, 99 ff., hier und hier). Jedoch tut er dies nur halbherzig, bleibt unterkomplex – und kann mit seinem nur scheinbar neutralen Formalismus auch dazu genutzt werden, den Wortlaut von Gesetzen gegen ihren Sinn und Zweck zu wenden.

1. In seinem Bostock-Urteil hat der U.S. Supreme Court – zu Recht – entschieden, dass Title VII des Civil Rights Act von 1964 auch davor schützt, vom Arbeitgeber wegen der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität diskriminiert zu werden – weil solche Diskriminierung zugleich auch Diskriminierung „wegen des Geschlechts“ („because of sex“) ist  (s. zum Urteil auch Masuma Shahid und Eskridge).

Die Entscheidung erging am 15. Juni 2020 mit sechs gegen drei Stimmen. Neben den liberaleren Richterinnen (Ginsburg, Kagan und Sotomayor) und dem (einzigen) liberaleren Richter (Breyer) haben auch zwei der konservativeren Richter dafür gestimmt, nämlich Chief Justice Roberts und Neil Gorsuch. Gorsuch hat die Entscheidung verfasst;

Roberts, kraft Amtes als Chief Justice in der Mehrheit
zuweisungsberechtigt, hat ihn damit betraut. Alito und Kavanaugh haben Sondervoten geschrieben, Thomas hat sich Alitos Sondervotum angeschlossen.

2. Wieso soll Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität stets auch Diskriminierung wegen des Geschlechts sein? Auf den ersten Blick mag das überraschend klingen. Auf den zweiten Blick, bei genauerem Hinsehen, erweist es sich jedoch als zwingend.

Wenn ein Arbeitgeber eine Frau dafür feuert, dass sie eine Frau liebt, dann ist ihr Geschlecht dafür ein mittragender Grund („but for cause“): Ein Mann wäre für das gleiche Verhalten – eine Frau zu lieben – nicht entlassen worden. Ihr Arbeitgeber entlässt sie also – auch – wegen ihres Geschlechts. Das ergibt sich letztlich daraus, dass sich Begriffe wie „schwul“, „lesbisch“, „bisexuell“ oder „transgender“ ohne Bezugnahme auf das Geschlecht gar nicht definieren lassen.

Das ist auch keine neue Einsicht – oder jedenfalls ist sie nicht für alle neu. Andrew Koppelman etwa wies darauf schon seit 1988 ausdauernd hin. Und die ersten darauf gestützten Klagen gab es schon früh (s. dazu die Nw. in der Entscheidung selbst, Slip Opinion, S. 26, auf Klagen von 1969 und 1974 sowie auf einen Artikel von 1973; s. auch Somin).

Auch Chief Justice John Roberts kannte das Argument bereits. Er selbst brachte es schon 2015 in der mündlichen Verhandlung zum Obergefell-Verfahren zur gleichgeschlechtlichen Ehe auf:

„[…] Ich bin nicht sicher, ob wir uns mit sexueller Orientierung befassen müssen, um diesen Fall zu entscheiden. Ich meine, wenn Sue Joe liebt und Tom Joe liebt, dann kann Sue Joe heiraten, Tom kann es nicht. Und der Unterschied beruht auf ihrem unterschiedlichen Geschlecht. Warum ist das keine klare Frage der Geschlechterdiskriminierung?“

(vgl. das Senats-Wortprotokoll hier, S. 61-62, sowie bereits hier, unter 4.).

Auf diese „klare Frage“ („straightforward question“) gingen dann jedoch weder das Obergefell-Urteil ein, noch die vier Sondervoten – auch nicht das von Roberts, der es jedenfalls damals noch ablehnte, mit der Mehrheit ein Recht auf gleiche Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe aus der Due-Process-Clause und der Equal-Protection-Clause des 14. Verfassungszusatzes abzuleiten.

Im Bostock-Urteil gab Roberts jetzt aber auf seine damalige Frage – zumindest mittelbar – die richtige Antwort: Ja, wer die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare schlechter behandelt, der diskriminiert in der Tat (auch) ungerechtfertigt wegen des Geschlechts.

Das jetzige Urteil betrifft zwar unmittelbar nur das einfachgesetzliche Diskriminierungsverbot aus Title VII (42 U. S. C. §2000e–2(a)(1): „to discriminate against any individual […] because of such individual’s […] sex“). Wenn Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität aber dort (auch) Diskriminierung wegen des Geschlechts ist, dann muss sie es auch unter dem Gleichheitssatz des 14th Amendment der Verfassung der Vereinigten Staaten („equal protection of the laws“) sein. Es ist deshalb zu erwarten, dass das Bostock-Urteil ein „verfassungsrechtliches Echo“ haben wird (s. Eskridge).

3. Die expansive und dynamische Kraft dieses Gleichheitsarguments lässt sich auch nicht auf die Vereinigten Staaten von Amerika begrenzen. Auch unter dem Grundgesetz muss sich das Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität eigenständig (auch) aus dem Verbot der Benachteiligung wegen des Geschlechts aus Art. 3 III 1 GG ergeben (so für die „Ehe für alle“ bereits hier, unter 4., und hier, S. 378 f.).

4. Wie kommt es aber, dass auch der erste von Präsident Trump ernannte Richter des Supreme Court, Neil Gorsuch (anders als der zweite, Justice Kavanaugh), sich auf eine Gleichheitsargumentation mit so expansiven und dynamischen Folgen einlassen konnte?

Nun, das Bostock-Urteil ist nicht nur ein wichtiger Sieg für die LGBTQ-Gleichheit am Arbeitsplatz, sondern auch eines der seltenen Gerichtsurteile, in denen juristische Auslegungsmethoden im Vordergrund stehen. Und in dieser Hinsicht ist das Urteil zugleich ein erstaunlicher posthumer Erfolg des 2016 verstorbenen Richters Antonin Scalia (sowie der konservativen Federalist Society, die gezielt und sehr erfolgreich Richter nach Scalias Vorbild gefördert hat; vgl. Emily Bazelon; zu möglichen Gründen für die präzedenzlose Polarisierung des Gerichts s. Devins/Baum; Balkin; für einen Vergleich mit dem Bundesverfassungsgericht und möglichen polarisierungshemmenden Faktoren seiner Beratungskultur s. erhellend Lübbe-Wolff, EuGRZ 2014, 509 ff.).

Sowohl die Mehrheit als auch beide Sondervoten berufen sich auf Scalias Auslegungsmethode: seinen „Textualismus“, der eng mit seinem „Originalismus“ verwandt ist (vgl. dazu den Überblick bei Solum), und zitieren dazu von ihm verfasste Leitentscheidungen sowie sein Werk „Reading Law: The Interpretation of Legal Texts“, das er zusammen mit Bryan A. Garner verfasste und 2012 veröffentlichte (vgl. dort bes. S. 9-42, 53-58, 63-65, 78-92 [zum Originalismus], 101-106, 343-414). Der Streit um die bessere Gesetzesauslegung wird so zum Streit um die richtige Scalia-Auslegung. Es dürfte historisch einzigartig sein, dass in einer Entscheidung der Methodenansatz eines einzigen Richters derart dominiert.

Scalias Methode hat sich jedoch für unerwartete Anwendungsfälle geöffnet. Ihren Kern bildet die Verpflichtung auf den Normwortlaut, die öffentliche Textbedeutung der Entstehungszeit („original public meaning“): Eine Richterin folgt nach Scalia grundsätzlich dem klaren Wortlaut des Gesetzes, ohne davon etwas wegzunehmen oder etwas hinzuzufügen, ganz egal, wohin das im Ergebnis führt.

Für ein politisch missliebiges oder sonst schlechtes Ergebnis ist nicht die Richterin verantwortlich, sondern die gesetzgebende Gewalt: Müll rein, Müll raus, „garbage in, garbage out“, wie Scalia gerne sagte. (Was die Kunst der pointierten Formulierung angeht, wird er wohl unnachahmlich bleiben. Jedenfalls lassen das die diversen Nachahmungsversuche im Bostock-Urteil vermuten.)

Und Justice Gorsuch ist ein bekennender Anhänger von Textualismus und Originalismus. Er hat dies nach seiner Ernennung mit einem eigenen Buch bekräftigt. Um seiner bekundeten Methode treu zu bleiben, musste er hier deshalb ein dynamisches, LGBTQ-freundliches Ergebnis akzeptieren.

5. Gorsuch saß also gewissermaßen in der „Methodenfalle“.

In den mündlichen Verhandlungen zu den im Bostock-Urteil verbundenen Verfahren machte vor allem Justice Elena Kagan deutlich, dass sie jeden Versuch der konservativeren Richter, hier einer konsequenten Anwendung des Textualismus auszuweichen, als scheinheilig anprangern würde. Obwohl sie zur liberaleren Minderheit des Gerichts zählt, befürwortet auch Kagan den Textualismus:

„Wir sind jetzt alle Textualisten“ (“[W]e’re all textualists now.”).

Das sagte sie 2015 an der Harvard Law School, im Rahmen ihrer dortigen (in Gesprächsform gehaltenen) „Scalia Lecture“ (vgl. die entsprechende Passage des Videos hier sowie das eingehende Kagan-Profil von Margaret Talbot im New Yorker).

Kagan rühmte Justice Scalia dafür, quasi im Alleingang das methodische „Gravitationszentrum“ mit seinem Credo verschoben zu haben, dass es auf den Gesetzeswortlaut ankommt:

„Der Kongress hat etwas geschrieben, und unser Job ist es, das zu lesen und zu interpretieren, und das heißt, auf die Worte auf der Seite zu starren.“

Mit diesem Bekenntnis zum Textualismus war sie einen – für die konservative Seite wertvollen – Schritt auf die Gegenseite zu gegangen. Das entsprach ganz ihrem Ruf als früherer Harvard-Dekanin (der ersten Frau in diesem Amt), eine Brückenbauerin zwischen den zerstrittenen politischen Lagern gewesen zu sein.

Es war klar, dass sie die Textualisten nicht ungeschoren damit davon kommen lassen würde, wenn sie ausgerechnet ihrer Methode jetzt abtrünnig würden (vgl. Talbot: „she… seemed to be signalling to the conservative Justices that she knew their language cold“; „she was warning them that they risked appearing hypocritical“; s. zum Inkonsistenz-Vorwurf auch Primus, Vlahoplus, Koppelman, sowie schon frühzeitig Linda Greenhouse: „if the court is true […] to ordinary uses of the English language, all three cases ought to be easy wins for the plaintiffs“).

6. Gorsuch – und Roberts – blieben (anders als die Justices Thomas, Alito und Kavanaugh) konsequent: Sie folgten dem Textualismus auch in eine größere Gleichheit für LGBTQ-Personen.

Gorsuch fand im Urteil einige schöne Formulierungen, die von Donuts und Elefanten in Mauselöchern handeln.

Es gibt keinen Auslegungskanon „der Donut-Löcher“, wonach immer eine stillschweigende Ausnahme gilt, wenn das Gesetz einen konkreten Fall nicht ausdrücklich erwähnt. Stattdessen gilt: „[W]enn der Kongress sich entscheidet, von einer weit gefasste Regel keine Ausnahmen vorzusehen, wenden Gerichte die weit gefasste Regel an“.

Und es gibt zwar einen „Keine-Elefanten-in-Mauselöchern“-Grundsatz: Grundlegende Details einer Regelung werden nicht durch vage Begriffe oder untergeordnete Bestimmungen geändert. Dieser Kanon ist aber hier nicht einschlägig. Das Verbot der LGBTQ-Diskriminierung im Arbeitsverhältnis ist zwar „ein Elefant“. Der hat sich jedoch, so Gorsuch, „nie in einem Mauseloch versteckt“, sondern „stand schon die ganze Zeit vor uns“.

Das Geschlechterdiskriminierungsverbot ist kein unauffälliges „Mauseloch“, sondern eine zentrale Regelung des Civil Rights Act, die in „sehr weiten Formulierungen geschrieben“ ist („written in starkly broad terms“). Sie hat schon wiederholt unerwartete Anwendungsfälle („unexpected applications“) produziert. Dass es dazu im Laufe der Zeit kommen musste, garantierten die Formulierungsentscheidungen der Gesetzgebung („drafting choices“) geradezu.

7. Das Ergebnis entspricht, auch wenn es für manche überraschend ist, dem klaren Wortlaut („plain meaning“). „Klar“ nicht im Sinne von „für alle eindeutig und logisch zwingend“. Das zeigen schon die beiden Sondervoten, die ihn enger deuten. Jedoch „klar“ in dem Sinn, dass das Ergebnis ohne große Umschweife („straightforward“) aus allgemein geläufigen Wörterbuch-Definitionen ableitbar ist: LGBTQ-Diskriminierung ist Diskriminierung auch „wegen des Geschlechts“ einer Person („because of an individual’s sex“) im Sinne einer Mitursächlichkeit einschließenden „but-for-causation“.

Das ist ein bemerkenswerter Sonderfall einer klaren Wortlautbedeutung, den man als „überraschende“ klare Wortbedeutung („surprise plain meaning“) bezeichnen kann: Auch wenn sie umstandslos aus den gängigen Definitionen folgt, konnte sie lange Zeit hindurch weithin unbemerkt bleiben.

Die Geschichte des Gleichheitssatzes kennt zwar viele Fälle überraschender Konsequenzen der Gleichheitsidee. Meist geht es dabei aber um geänderte Einsichten in das Verständnis weit gefasster Wertungsbegriffe, bei denen von Anfang an klar sein musste, dass über ihre Anwendung gestritten werden würde, wie vor allem bei dem Begriff der Gleichheit selbst. Dagegen resultiert hier die Dynamik nicht (nur) aus einer Weiterentwicklung des Gleichheitsverständnisses, sondern (auch) aus einer schlichten („straightforward“) Anwendung seit jeher geläufiger Definitionen. Schon eine schlichte „Subsumtion“ unter diese Definitionen, also ureigenes juristisches Methodenhandwerk, führt hier vielmehr zu den (für viele) unerwarteten Folgen. Mit anderen Worten (denen von Gorsuch): Dieser Elefant hat sich nie versteckt, auch wenn nicht alle ihn von Anfang erkennen konnten.

Das ist „natürlich“ erst (allenfalls) die halbe Geschichte. („Natürlich“ für die meisten, nicht unbedingt auch für formalistische Textualisten.) Um Rechte gleichgeschlechtlicher Paare und das Konzept einer Geschlechtsidentität „sehen“ zu können, mussten sich jedenfalls bei vielen auch die Erkenntnisse und Wertvorstellungen erst ändern. Die Blindheit gegenüber der von Anfang an klaren Wortlautbedeutung wurde gerade auch dadurch verursacht.

Um diesen sprachtheoretisch und epistemologisch fundamentalen Punkt zu belegen, eignet sich bestimmt am besten – ein Youtube-Video. Oder jedenfalls verweist Koppelman in einem Artikel (hier, S. 28 Fn. 158) auf ein solches. Das schöne Video zeigt, wie ein Baby seine erste Brille aufgesetzt bekommt. Es ist zunächst verwirrt, lächelt dann aber plötzlich, als es zum ersten Mal das deutlich sehen kann, was sich schon die ganze Zeit vor ihm befindet.

Für Koppelman versinnbildlicht das den Prozess der späten Einsicht in eine Erkenntnis, auf die er, wie gesagt, schon seit den 1980er Jahren unermüdlich hingewiesen hat: Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung oder der geschlechtlichen Identität ist immer auch Diskriminierung wegen des Geschlechts. Dem Gericht und der gesellschaftlichen Mehrheit fehlten, und fehlen teilweise immer noch, die nötigen – starken – Brillengläser, um den Elefanten erkennen zu können, der schon seit 1964 in voller Schönheit vor uns steht.

8. Dass sich Gorsuch für unerwartete Anwendungsfälle („unexpected applications“) offen zeigt, ist grundsätzlich begrüßenswert und entspricht dem neueren Stand der Originalismus-Debatte.

In dieser Debatte besteht (oder bestand jedenfalls bis zu dieser Enscheidung) weitreichende Einigkeit darüber, dass die Bedeutung eines allgemein gefassten Textes gerade unabhängig ist von den konkreten Anwendungsvorstellungen der an der Gesetzgebung beteiligten Personen („original expected applications“). Darin wurde gerade ein wesentlicher Aspekt des Wechsels vom älteren Konzept des ursprünglichen Gesetzgeberwillens („original intent“) zum Kriterium der öffentlichen Textbedeutung der Entstehungszeit („original public meaning“) gesehen.

Nichts anderes kann dann aber für die konkreteren Anwendungsvorstellungen der Öffentlichkeit zur Entstehungszeit gelten. Auch sie können die Auslegung eines weit gefassten Wortlautes grundsätzlich nicht einschränken (vgl. dazu die für das Verfahren offenbar einflussreiche Analyse von Katie R. Eyer).

Der Supreme Court hat das im Bostock-Urteil nicht zum ersten Mal entschieden, sondern lediglich bekräftigt. Schon zwei zentrale Entscheidungen, die Scalia selbst für einen einstimmigen Supreme Court verfasste, betonten diese Grundsätze. Und schon dort wurde damit gerade auch ein weites Verständnis des Antidiskriminierungsrechts begründet: Das Oncale-Urteil entschied, dass auch die sexuelle Belästigung eines Mannes durch einen Mann Diskriminierung wegen des Geschlechts nach Title VII begründen kann. Die Yeskey-Entscheidung stellte klar, dass eine Behindertenschutzregelung für öffentliche Einrichtungen („public entity“) auch für staatliche Gefängnisse gilt. Beide Entscheidungen stellten auf den weit gefassten Wortlaut ab, der auch unerwartete Anwendungsfälle erfassen könne (vgl. zu Oncale und Yeskey auch Scalia/Garner, S. 103-105).

9. Die Öffnung des Originalismus für unerwartete Anwendungsfälle wirkt sich nicht zuletzt auch auf die Bewertung der Entscheidungen des Supreme Court zur „Rassentrennung“ aus.

Das Plessy-Urteil von 1896 sah in der Segregation der „Rassen“ in Eisenbahnabteilen keine Verletzung des Gleichheitssatzes des 14th Amendment, solange die Abteile zwar „getrennt, aber gleich“ ausgestattet waren. Erst die berühmte Brown-Entscheidung von 1954 zur Segregation an Schulen wendete sich von diesem Separate-but-equal-Grundsatz ab.

Den Originalisten wurde lange vorgehalten, dass nach ihrer Methode Plessy richtig, Brown dagegen falsch sein müsse. Inzwischen geht jedoch auch Scalia davon aus, dass die Plessy-Entscheidung von Anfang an im Widerspruch zum „original meaning“ des 14th Amendment gestanden habe (vgl. Scalia/Garner, S. 87 f.). Auch Gorsuch sieht das so (hier, S. 23, 113 ff., 125). Beide stellen dafür nicht auf die konkreteren Anwendungsvorstellungen von 1868 ab, sondern auf generelle Gleichheitskonzepte der Entstehungszeit. Auch die Unvereinbarkeit des Grundsatzes Separate-but-equal mit dem Gleichheitssatz ist danach, mit anderen Worten, ein unerwarteter Anwendungsfall schon der ursprünglichen Wortbedeutung.

Mit der Maxime, die Gesetzesverfasser auch dann beim Wort zu nehmen, wenn die dynamischen Folgen des Gesetzes deren konkreteren Vorstellungshorizont übersteigen, sind Scalia und Gorsuch einen begrüßenswerten Schritt in Richtung auf einen „Living Originalism“ gegangen (vgl. zu diesem nochmals Balkin, sowie hier, S. 6-9, 99 ff.). Im Bostock-Urteil findet Gorsuch dafür ebenso klare wie – grundsätzlich – zustimmungswürdige Worte:

„[D]ie Grenzen der Vorstellungskraft der Gesetzesverfasser sind kein Grund, die Forderungen des Gesetzes zu ignorieren.“ „Nur das geschriebene Wort ist Gesetz, und alle Personen haben ein Recht auf seine Vorteile.“ „Dass ein Gesetz auf nicht ausdrücklich vorhergesehene Situationen angewendet wurde, zeigt nicht seine Zweideutigkeit („ambiguity“), sondern schlicht die Weite der gesetzgeberischen Anordnung.“

10. Der Textualismus bleibt bei Scalia und Gorsuch allerdings halbherzig. Sie nähern sich einem „Living Originalism“ zwar an, bleiben jedoch inkonsequent, unterkomplex und zu formalistisch. Ihr Textualismus geht teils nicht weit genug, teils geht er, in seinem Formalismus, zu weit.

Nicht weit genug gehen Scalia und Gorsuch, weil sie die Konsequenzen ihrer Methode im Bereich der Todesstrafe und der lebenslangen Freiheitsstrafe scheuen – und hier ohne Begründung doch wieder von einer Versteinerung der konkreten Anwendungsvorstellung ausgehen. Scalia lehnt unerwartete Anwendungen in diesem Bereich ausdrücklich ab (vgl. Scalia/Garner, S. 84 f., 406-409). Auch Gorsuch hat bereits entsprechend entschieden – mit unmenschlichen Folgen für die Opfer von Hinrichtungen.

In dem ersten von ihm als Richter des Supreme Court verfassten einschlägigen Urteil beurteite Justice Gorsuch 2019 eine Hinrichtung durch Injektion als verfassungsgemäß, obwohl mit den verwendeten Mitteln das Risiko von Schmerzen verbunden ist, die dem Gefühl gleichen, bei lebendigem Leib verbrannt zu werden (zur Bucklew-Entscheidung vgl. etwa Milhiser; zur ständigen Rechtsprechung des Supreme Court bis zum Rücktritt Justice Kennedys, die demgegenüber auf „evolving standards of decency“ abstellte, s. näher hier, S. 102 ff.).

Interpretation gibt Rechte und nimmt sie weg. In diesem Falle nimmt sie Strafgefangenen das Recht auf Freiheit von grausamen und unüblichen Strafen („cruel and unusual punishments“), die das 8th Amendment gewährleisten soll.

Immerhin hat sich Justice Gorsuch aber auf eine Methode festgelegt, die es erlaubt, dies als seinen eigenen Maßstäben widersprechend zu kritisieren: Es stellt einen tiefen Bruch zu seinem ansonsten zumindest ein Stück weit geläuterten Verständnis des Textualismus und Originalismus dar. Warum soll es hier plötzlich doch wieder auf die Grenzen der konkreten Vorstellungskraft der Entstehungszeit darüber ankommen, was grausam und unüblich ist?  Und wo bleibt hier das Bekenntnis dazu, dass es „schlicht die Weite der gesetzgeberischen Anordnung“ zeige, wenn eine Norm auch auf nicht schon konkret vorhergesehene Situationen Anwendung findet?

11. Die beiden Sondervoten der Richter Alito und Kavanaugh geben sich solche Blößen nicht. Sie entziehen sich solchen, aus konservativer Sicht unliebsamen, Angriffsflächen, indem sie sich für die entgegengesetzte Strategie entscheiden: Weg mit dem neuen Originalismus der unerwarteten Anwendungsfälle, her mit dem „guten alten“ Originalismus der Versteinerung.

Allerdings sprechen die Sondervoten dieses – offen zutage liegenden – Grundlagenproblem mit keinem Wort an. Stattdessen legen sie ohne weitere Begründung das engere Wortlautverständnis zugrunde, das nur nach den konkreteren Anwendungserwartungen der Entstehungszeit fragt. Davon ausgehend drehen sie dann den Spieß um und beschuldigen ihrerseits die Mehrheit, vom Text abzuweichen. Sie schreiben, als gebe es die seit Jahren intensiv geführte inner-textualische Debatte über die Rolle der konkreteren Anwendungserwartungen nicht. Beide Dissents stellen sich damit schlicht taub gegenüber dem zentralen Argument der Mehrheit, der weite Wortlaut (Diskriminierung „wegen“ des Geschlechts) erfasse gerade auch unerwartete Anwendungsfälle.

12. Den Schutz der Menschenwürde („dignity“) sieht Alito ausdrücklich nicht von seiner richterlichen Aufgabe umfasst, wie er am Ende seines Sondervotums nicht versäumt zu betonen. Auch Justice Kavanaugh weist in seinem Sondervotum darauf hin, die Gewährleistung gleicher Würde („equal dignity“) sei lediglich ein wünschenswertes politisches Ziel, nicht aber nicht vom geschriebenen Recht gefordert.

Beide Richter grenzen sich mit diesen Hinweisen deutlich von Justice Kennedy ab. Der sah die Menschenwürde durchaus als Verfassungswert gewährleistet, und zwar in der Due-Process-Clause und der Equal-Protection-Clause des 14th Amendment, der Grundlage für seine LGBTQ-freundlichen Entscheidungen, sowie (im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Supreme Court seit den 1950er Jahren) im Verbot grausamer und unmenschlicher Bestrafung des 8th Amendment, der Grundlage für seine Rechtsprechung zur Weiterentwicklung der verfassungsrechtlichen Grenzen von Todesstrafe und lebenslanger Freiheitsstrafe.

13. Justice Alito gibt sich in seinem Sondervotum wutenbrannt: Er wirft der Mehrheit „unverfrorenen Missbrauch“ der Befugnis zur Gesetzesinterpretation vor. Sie segele als „ein Piratenschiff“ nur fälschlich unter Scalias „textualistischer Flagge“. Allerdings ist er selbst bislang weniger mit originalistischer Argumentation aufgefallen, als damit, dass er sich mehrfach über Scalias Originalismus lustig gemacht hat.

Alitos Berufung auf das Wortlautverständnis „gewöhnlicher Amerikaner“ im Jahr 1964 (Slip Op., S. 25-35) scheint die reichhaltigen Diskussionen über „original expected applications“ nicht zu kennen – was kaum anzunehmen ist – oder aber bewusst zu ignorieren. Kavanaugh argumentiert in seinem Sondervotum insofern etwas subtiler, als er an die Unterscheidung zwischen buchstäblicher („literal“) Auslegung und gewöhnlicher Wortbedeutung anknüpft. Er wirft der Mehrheit vor, den Gesetzeswortlaut allzu buchstäblich und entkontextualisiert zu verstehen (vgl. zur sinnvollen Kritik an einem „strict constructionism“, der sich an einem „hyperliteral meaning“ festhält, mit Fallbeispielen Scalia/Garner, S. 355-358). Trotz dieses sinnvolleren „Aufhängers“ läuft aber auch Kavanaughs Kritik letztlich darauf hinaus, den Wortlaut auf die konkreteren entstehungszeitlichen Anwendungsvorstellungen einzuengen.

14. Müssen aber nicht die konkreteren Anwendungsvorstellungen tatsächlich ebenfalls maßgeblich sein? Führt die Öffnung für unerwartete Anwendungsfälle nicht dazu, dass den Worten nachträglich ein Inhalt unterlegt wird, den damit zuvor niemand verbunden hat? Oder anders gefragt: Wie konnten all die vielen Richter, die den Wortlaut „Diskriminierung wegen des Geschlechts“ so lange Zeit hindurch anders ausgelegt haben, die angeblich von Anfang an gegebene Wortbedeutung so lange Zeit hindurch verkennen?

Diese Frage aus Kavanaughs Sondervotum erinnert an eine vergleichbare Frage, die Uwe Volkmann hier schon vor einiger Zeit formulierte: Ist die These, die „Ehe für alle“ sei vom Grundgesetz „schon 1949 für alle freigegeben worden, es sei bislang nur noch niemandem aufgefallen“ nicht letztlich ein „methodischer Taschenspielertrick“? Warum nicht einfach zugestehen, dass es in Wahrheit um eine Verfassungsfortbildung nach Maßgabe heutiger Gerechtigkeitsvorstellungen geht?

Juristen sind dafür berüchtigt, Worte zu verdrehen und ihnen den von ihnen gewollten Sinn unterzuschieben: Ist es das, was die sechs Richterinnen und Richter der Bostock-Mehrheit jetzt tun, wenn sie behaupten, schon die ursprüngliche öffentliche Wortbedeutung von „wegen des Geschlechts diskriminieren“ von 1964 schließe auch Diskriminierungen wegen der sexuellen Orientierung oder der geschlechtlichen Identität mit ein? Ist das nur ein Taschenspielertrick – oder ist es stattdessen eine zumindest vertretbare Annahme darüber, was diese Worte schon damals bedeutet haben?

15. Die Antwort ist nicht nur wichtig für die demokratische Legitimation der Gerichtsbarkeit, die stärker ist, wenn ein Gericht glaubhaft begründen kann, schon gesetztes Recht zu interpretieren, als wenn es sich auf seine (ebenfalls bestehende) Befugnis stützt, dieses Recht selbst schöpferisch fortzubilden.

Nein, diese Fragen reichen wesentlich tiefer: Ist es stets nur eine Fiktion, wenn „wir“ uns in einer Kontinuität mit der Vergangenheit sehen? Sicher, die Vergangenheit ist ein fremdes Land und wir dürfen nicht vergessen, dass wir ihre Sprache übersetzen müssen (vgl. Gienapp). Aber bleibt eine Verständigung nicht trotzdem möglich? Wenn wir neue Gruppen davor schützen, diskriminiert zu werden, verwirklichen wir dann neue Werte oder alte? Kann das Gleichheitsideal, das dem Antidiskriminierungsrecht zugrunde liegt, beanspruchen, in einer Kontinuität zur neuzeitlichen Menschenrechtsidee des 18. Jahrhunderts zu stehen – oder ist es letztlich nur eine neue Erfindung unserer Zeit?

Wie kann ein angeblich von Anfang an gegebener Wortsinn so vielen so lange verborgen geblieben sein? Die Antwort auf Kavanaughs (und Volkmanns) skeptische Frage gibt die Geschichte der Gleichheitsidee: Genau so, wie zu viele kluge Menschen lange Zeit die Augen davor verschließen konnten, dass das Versprechen der Gleichheit „aller Menschen“ von 1776 tatsächlich „alle Menschen“ einschließt. Genau so, wie zu lange zu viele verkennen konnten, dass  „Rassentrennung“ nach dem Grundsatz „Separate-but-equal“ nicht „equal protection of the laws“ im Sinne des 14th Amendment von 1868 ist. Und genau so, wie lange Zeit hindurch viele nicht sehen konnten, dass diese Sätze – und der Satz aus Art. 3 Abs. 1 GG von 1949, dass alle Menschen „vor dem Gesetz gleich“ sind – Menschen aller sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten meinen.

Stets gab es einige, die diese weit gefassten Gleichheitsversprechen von Anfang an beim Wort genommen haben. Trotzdem dauerte es jeweils lange, bis sich diese Erkenntnis durchsetzen konnte. Jede Zeit hat ihre blinden Flecken und es ist sehr unwahrscheinlich, dass nicht spätere Generationen auch uns Blindheit und Untätigkeit gegenüber schon heute offen zu Tage liegenden Ungerechtigkeiten vorwerfen werden.

Der Verweis Alitos auf die „gewöhnlichen“ Amerikaner von 1964 erinnert an Chief Justice Taneys berüchtigte Begründung für seine – unzutreffende – Behauptung im Dred Scott-Urteil, mit den Worten „all men are created equal“ der Unabhängigkeitserklärung von 1776 hätten keine Mitglieder der „afrikanischen Rasse“ gemeint sein können. Jeder in der damaligen Gesellschaft der Sklavenhalter habe verstanden, dass sie nicht mitgemeint gewesen seien (auf diese Parallele verweisend auch Lederman; zu den historischen Gegenargumenten vgl. eingehend hier, S. 330 ff., 337 ff.).

Ich denke, wir werden denen, die die Unabhängigkeitserklärung von 1776, das 14th Amendment von 1868 und das Grundgesetz von 1949 verfasst haben, besser gerecht, wenn wir sie beim Wort nehmen und ihnen zutrauen, dass sie gemeint haben, was sie gesagt haben.

16. Es ist deshalb zu begrüßen, dass sich Textualismus und Originalismus für die Einsicht geöffnet haben, dass schon die ursprüngliche Normbedeutung auch unerwartete Anwendungsfälle miterfassen kann.

Wie beschrieben, gehen Scalia und Gorsuch dabei jedoch nicht weit genug, indem sie diese Einsicht nicht auch auf die Todesstrafe und andere unmenschliche Strafformen konsequent anwenden.

Auf der anderen Seite gehen sie aber teils auch zu weit, indem sie zugunsten einer formalistischen Wortlautdeutung den Sinn und Zweck des Gesetzes weitgehend aus der Gesetzesauslegung ausblenden wollen, soweit er sich nicht schon klar dem Wortlaut entnehmen lässt (vgl. gegen jeden weitergehenden „purposivism“ Scalia/Garner, S. 18-21, 63-65). Sie lassen damit nicht nur (zu Recht)  die konkreteren Anwendungsvorstellungen weit gefasster Vorschriften außer Betracht – sondern (zu Unrecht) auch die allgemeineren Anwendungsvorstellungen der Entstehungszeit.

Für deutsche Juristen ist es selbstverständlich, dass die Auslegung beim Wortlaut zu beginnen hat und (jedenfalls nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; vgl. nur hier, Rn. 12 und 15) im möglichen Wortsinn auch ihre Grenze findet. Dagegen muss es für sie seltsam klingen, dass sie die Auslegung mit der Wortlautermittlung grundsätzlich auch schon beenden sollen – statt wie geboten auch die Auslegungsmittel Geschichte (Entstehungsgeschichte und Normgeschichte), Systematik und Sinn und Zweck heranzuziehen, um das Auslegungsziel zu erreichen. Das gilt unabhängig davon, ob dieses Auslegungsziel (mit der objektiven Theorie) im objektiven Gesetzessinn oder, wie richtigerweise, mit der subjektiven Theorie in dem – im Wortlaut zum Ausdruck gebrachten – Willen der gesetzgebenden Gewalt gesehen wird (vgl. etwa hier, S. 36 ff.).

17. Scalias Textualismus bleibt auch im Übrigen unterkomplex. Nicht nur lässt er die Kriterien dafür im Dunkeln, wann welche Stufe der Allgemeinheit des Wortsinns maßgeblich sein soll. Er stellt auch kein hinreichendes methodisches Handwerkzeug für den notwendigen Umgang mit den allfälligen Zweifelsfragen bereit, in denen der mögliche Wortsinn engere wie weitere Bedeutungen umfasst.

So weist Scalia etwa ausdrücklich das Konzept einer Stufe der „construction“ zurück, die für viele neuere Originalisten eine entscheidende (zumeist als rechtsfortbildend konzipierte) Ergänzung zur Auslegung („interpretation“) darstellt (vgl. Scalia/Garner, S. 14 f., unter ablehnender Zitierung von Whittington, Barnett, Balkin und Solum in Fn. 43-49). Für die Abwägung, die für europäische Juristen so bedeutsam ist, bleibt bei ihm kein Raum, während etwa Balkin sie im Rahmen der „construction“ ausdrücklich vorsieht (vgl. hier, bes. S. 44, 349-352 [Fn. 12], unter Verweis auf Alexy; für den Vorschlag, die Abwägung soweit möglich positivistisch, als systematische Auslegung von Grundsatznormen, zu verstehen, vgl. hier, S. 112 ff.).

18. Welche Folgen diese Mängel eines formalistischen Textualismus nach sich ziehen können, wird sich womöglich schon bald im Bereich der „Affirmative Action“ am Arbeitsplatz zeigen, also positiver Förderungsprogramme, die Arbeitgeber zum Ausgleich strukturell benachteiligter Gruppen ergreifen (vgl. dazu warnend Jeannie Suk Gersen und Cass Sunstein; s. ferner die ausdrückliche Ablehnung der Leitentscheidungen Steelworkers v. Weber und Holy Trinity bei Scalia/Garner, S. 11-13).

Mit den Obersätzen, die Gorsuch im Bostock-Urteil formuliert hat, wird ein formalistisches Gleichheitsverständnis dann Programme der Affirmative Action ohne weiteres als verbotene Diskriminierung (zum Beispiel von weißen, heterosexuellen, cis-gender Männern) einstufen können – ohne die entscheidende Frage auch nur aufzuwerfen, ob nicht diese unerwarteten Anwendungsfälle, anders als die LGBTQ-Diskriminierung, dem allgemeineren Sinn und Zweck dieser Gesetze gerade zuwiderlaufen, der auf eine größere Inklusion strukturell benachteiligter Gruppen zielt.

Es bleibt deshalb zu hoffen, dass nicht alle am Supreme Court jetzt Textualisten geworden sind. Das ist allerdings auch kaum anzunehmen, auch wenn sie sich im Bostock-Urteil Gorsuch angeschlossen haben. Anders als Kagan sind die liberaleren Richter Breyer, Ruth Bader Ginsburg und Sonia Sotomayor bislang weitgehend unverdächtig, sich dem Textualismus verschrieben zu haben.

Chief Justice Roberts weigerte sich immerhin 2015 in der Entscheidung King v. Burwell, sehr zum Missfallen seiner konservativen Richterkollegen, einer Auslegung des „Affordable Care Act“ zuzustimmen, die der Wortlaut nahelegte, weil sie das Hauptziel der Gesundheitsreform nachhaltig gefährdet hätte, möglichst vielen Bürgern eine Krankenversicherung zu verschaffen („Congress passed the Affordable Care Act to improve health insurance markets, not to destroy them. If at all possible, we must interpret the Act in a way that is consistent with the former, and avoids the latter.“; Slip. Op., S. 15, 21). Für die Affirmative Action wird man auf eine solche zweckorientierte Auslegung von ihm allerdings kaum hoffen können (zu deren konsistenter Ablehnung durch ihn vgl.  Joan Biskupic).

19. Fazit: Mit dem Bostock-Urteil hat der Supreme Court ein äußerst zwiespältiges Erbe Scalias angetreten: Die begrüßenswerte Öffnung seines Textualismus und Originalismus auch für unerwartete Anwendungsfälle hat LGBTQ-Personen einen historischen Erfolg beschert, der im Einklang mit dem ursprünglichen Sinn und Zweck des gesetzlichen Gleichheitsversprechens steht.

Jedoch ist zu bezweifeln, dass der Supreme Court diese Dynamik auch konsequent auf andere Bereiche erstrecken wird, wie das Verbot grausamer und unüblicher Strafen. Die Inkonsistenzen und Schwächen der formalistischen Version des Textualismus lassen außerdem befürchten, dass Scalias Methode in Zukunft statt zur abgewogenen Förderung gleicher Freiheit zu ihrem Rückbau führen könnte.

Es wäre schön, wenn am Supreme Court alle zu „Living Originalists“ würden. Weil das leider nicht zu erwarten ist – und solange es nicht geschieht – sollte sich hingegen niemand wünschen, dass sie dort alle zu Textualisten werden.

Anm. des Autors: Neue Fassung vom 20. Juli 2020. In der Originalfassung war Chief Justice Roberts unrichtig als dienstältester Richter in der Mehrheit bezeichnet worden. Danke für den Hinweis aus der Leserschaft.


2 Comments

  1. Margaux Tue 14 Jul 2020 at 10:45 - Reply

    Vielen Dank für den interessanten Beitrag.

    Ich möchte nur darauf hinweisen, dass Roberts in dieser Konstellation nicht der dienstälteste Richter der Mehrheit war; als Chief Justice konnte er den Fall wohl dennoch zuweisen.

  2. Notorious RBG Tue 14 Jul 2020 at 20:37 - Reply

    Phänomenale Analyse, klasse.

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