Argentinien in Den Haag: Geburtswehen eines öffentlichen Rechts der pluralistischen Weltgesellschaft?
Der Streit zwischen Argentinien und einigen seiner Gläubiger hat schon viele international bedeutende Gerichte beschäftigt: So entschied etwa das Bundesverfassungsgericht bereits 2007, dass sich Argentinien nicht auf Staatsnotstand berufen könne. Der UK Supreme Court befand 2011, dass Argentinien keine Immunität für entsprechende Klagen genieße, was noch 2005 der italienische Corte di Cassazione anders gesehen hatte. Eine Sammelklage von Tausenden von Gläubigern ist vor einem internationalen Schiedsgericht anhängig. Der Internationale Seegerichtshof unterband Ende 2012 den Versuch eines Gläubigers, in ein in Ghana vor Anker liegendes argentinisches Marinesegelschiff zu vollstrecken.
Jetzt erhält auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag Gelegenheit, sich mit der Materie zu befassen: Am 7. August 2014 hat Argentinien vor dem IGH Klage gegen die USA erhoben. Es sieht sich durch die Verfügungen amerikanischer Gerichte zugunsten einiger Gläubiger in seiner Souveränität verletzt.
Vom Default zum Griefault
Der Hintergrund der Klage ist dieser: Die meisten Gläubiger Argentiniens haben sich darauf eingelassen ihre vor der Schuldenkrise von 2001 emittierten Altanleihen gegen hohe Abschläge in neue Anleihen zu tauschen. Im Streit liegt Argentinien mit Gläubigern, die ihre Altanleihen nicht eingetauscht haben und sich von den Zahlungen an die Inhaber neuer Anleihen etwas abzwacken wollen. US-Gerichte haben verfügt, dass die Banken, über die Argentinien diese Zahlungen abwickelt, diese Gelder anteilig an die unkooperativen Gläubiger auszahlen müssen. Argentinien hat nun fällige Gelder in Höhe von etwa einer halben Milliarde US-Dollar bei amerikanischen Geschäftsbanken geparkt. Wenn Argentinien aber die unkooperativen Gläubiger befriedigt, wäre es vertraglich verpflichtet, seinen kooperativen Gläubigern entsprechende Nachzahlungen zu leisten. Insgesamt handelt es sich um etwa 15 Milliarden Dollar, die das Land finanziell nicht verkraften könnte. Damit befindet es sich derzeit in einem „technischen default“. Es kann fällige Schulden eigentlich bedienen, darf aber nicht. In Anspielung auf den amerikanischen Bundesrichter Thomas P. Griesa, besonders eifriger Unterstützer der Gläubigerseite, ist auf Twitter inzwischen vom #Griefault die Rede.
Den Anlass zu der Klage in Den Haag gab, dass der US-amerikanische Supreme Court entschieden hat, die unkooperativen Gläubiger nicht zu stoppen. Kann der Gang zum IGH die verfahrene Situation lösen? Es wäre nicht das erste Mal, dass der Rechtsweg aus einer politischen Sackgasse führt. Schließlich ist der amerikanischen Regierung die Angelegenheit höchst unangenehm, wie ihre Stellungnahme in der Vorinstanz deutlich macht. Könnte die US-Regierung mit einem Urteil des IGH ein Faustpfand gegen ihre eigene Justiz erlangen? Dies böte ihr zumindest einen Grund, sich auf die Klage einzulassen – denn eine rechtliche Handhabe, sie dazu zu zwingen, hat Argentinien nicht.
Gemischte Erfolgsaussichten
Materiell ist die Klage nicht chancenlos, wenn auch manche der von Argentinien angeführten Klagegründe Fragen aufwerfen. So stützt Argentinien die Klage erstens darauf, dass die Verfügungen amerikanischer Gerichte seine Immunität verletzen. Allerdings ist der Immunitätspanzer souveräner Staatlichkeit in den letzten Jahrzehnten immer durchlässiger geworden. Kommerzielle Aktivitäten schützt er heute nicht mehr. Die Rechtsprechung des Supreme Court versteht darunter auch Transaktionen in Verbindung mit Staatsanleihen.
Zweitens macht Argentinien geltend, die USA übten durch die gerichtlichen Verfügungen unzulässigen ökonomischen Druck auf Argentinien aus. Zwar erwirkten der Ostblock und der globale Süden in den 1970ern und 80ern mehrere Resolutionen der UN-Generalversammlung, die diese Position stützen. So spricht die Erklärung über die Unzulässigkeit der Intervention und Einmischung in innere Angelegenheiten von Staaten von 1981 von einer Pflicht der Staaten, Aktivitäten auf ihrem Territorium zu verhindern, welche die wirtschaftliche Stabilität eines anderen Staats bedrohen. Doch diese Resolution spiegelt wohl kein Gewohnheitsrecht, da sie nicht die Zustimmung der westlichen Staatenwelt gefunden hat. Außer in Extremfällen wird ökonomischer Druck als legitimes Mittel der Außenpolitik gesehen. Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte (IPWSKR) stellt dagegen verbindliche Pflichten auf. Zunehmend setzt sich die Ansicht durch, dass sie auch gegenüber der Bevölkerung anderer Staaten zu berücksichtigen sind. Das Problem dabei ist nur, dass die USA zu den wenigen Staaten gehören, welche den IPWSKR nicht ratifiziert haben.
Am aussichtsreichsten dürfte das Vorbringen Argentiniens sein, die USA leisteten einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten der Gläubiger Vorschub und verletzten damit das völkerrechtliche Prinzip des guten Glaubens. Dass es rechtsmissbräuchlich ist, aus der Insolvenz eines Staats Profit schlagen zu wollen, indem man notleidende Staatsanleihen billig auf dem Sekundärmarkt erwirbt und dann ihren Nennwert einklagt, liegt auf der Hand. 2012 bekräftigten dies die UNCTAD-Principles on Promoting Responsible Sovereign Lending and Borrowing. Auch die UN-Generalversammlung hat solche Gläubiger mehrfach zur Kooperation gemahnt. Zudem finden sich immer mehr Anzeichen, dass die Weltgesellschaft ganz allgemein ein öffentliches Interesse anerkennt, Staatsschuldenkrisen zügig zu lösen. So hat unter anderem der Internationale Währungsfonds (IWF) mehrfach Selbstkritik an seiner Vergabepraxis geübt; die Heavily Indebted Poor Countries Initiative hat konzertierte Maßnahmen zur Entschuldung von Entwicklungsländern zu Wege gebracht. Diesem wachsenden öffentlichen Interesse kann das Völkerrecht durch Generalklauseln wie das Prinzip des guten Glaubens Rechnung tragen.
Politische Lösungen für politische Probleme?
Sollten die USA sich nicht auf das Gerichtsverfahren einlassen, bliebe es dabei, dass zwischen dem öffentlichen Interesse an der Bewältigung von Staatsschuldenkrisen und den institutionellen Strukturen zu seiner Durchsetzung ein Missverhältnis besteht. Vorschläge für Letztere gibt es reichlich, es fehlt allein an der Umsetzung. Doch vielleicht könnte sich die Klage vor dem IGH insofern als geschickter Schachzug erweisen. Denn Argentinien pocht darin auf die völkerrechtliche Pflicht der Vereinigten Staaten zur friedlichen Streitbeilegung. Dies läuft zwar nicht auf eine Verpflichtung hinaus, sich auf die Klage Argentiniens einzulassen. Es könnte aber ein Tor öffnen zu Verhandlungen auf derjenigen Ebene, wo öffentliche Interessen eigentlich verhandelt gehören: nämlich auf der politischen, nicht hinter verschlossener Tür zwischen dem Schuldner und seinen Gläubigern. Vielleicht ergibt sich daraus ein erster Schritt zu einem Restrukturierungsmechanismus für Staaten? Es müsste dazu nicht gleich ein internationales Insolvenzgericht aus der Taufe gehoben werden. Die Verknüpfung bestehender Mechanismen in einem Verfahren nach einheitlichen Prinzipien wäre schon ein großer Fortschritt. Allein ein „Kooperationsverhältnis“ unter den beteiligten Gerichten dürfte dagegen nicht ausreichen. Denn hier geht es nicht nur um einzelne Fälle, die Straßburg oder Karlsruhe anders beurteilen als Luxemburg. Vielmehr sind Gerichte verschiedenster Länder und aller Instanzen mit unterschiedlichsten Ansprüchen, Einwendungen und Vollstreckungsmaßnahmen befasst. Ohne eine zumindest ansatzweise zentrale Koordinierung stößt der Pluralismus der Jurisdiktionen hier an seine Grenzen.
Der IWF favorisiert derweil verbesserte Vertragsklauseln, die die Gläubiger an Mehrheitsentscheidungen binden. Doch neben etlichen technischen Schlupflöchern können vertragliche Lösungen nie das Übel an der Wurzel packen: dass die Bewältigung einer Staatsschuldenkrise nicht länger von der Willkür der Gläubiger abhängen darf. Öffentliche Interessen darf man auch in einer pluralistischen Weltgesellschaft nicht vertraglich außer Kraft setzen.
Schöner Artikel, zwei Anmerkungen: der im ersten Absatz erwähnte “eine Gläubiger” mit dem Schiff in Ghana war derselbe Gläubiger, um den es jetzt wieder geht. Und: Der Bösewicht ist kein Gläubiger, der sich auf den Tausch nicht eingelassen hat, sondern einer, der die Anleihen von Gläubigern gekauft hat, die sich auf den Tausch nicht eingelassen hatten (deswegen ist seine Rendite jetzt auch so schön hoch, viel höher, als es die Rendite von Altgläubigern je sein könnte).
Bitte beachten!
Das deutsche Wort Anleihe bezeichnet etwas Geliehenes, aber nicht etwas Verliehenes. Geliehenes kann also nicht gekauft werden und wird auch nicht vom Verleiher verkauft: er verleiht. Gekauft und weiter verkauft werden Schulden. Mit „Anleihekäufe“ wird verschleiert, dass der Anleiher sich verschuldet, dass Kauf/Weiter-Verkauf von Schulden ein profitables Geschäft ist und dass dieses Geschäft nicht „Realwirtschaft“ ist.
Nachtrag: Ich höre, die USA hätten es bereits abgelehnt, sich auf die argentinische Klage einzulassen. Das erledigt zwar das Verfahren in Den Haag. Nicht erledigt sind damit allerdings die in der Klage aufgeworfenen völkerrechtlichen Fragen. Sie können in anderen der zahlreichen gegen Argentinien anhängigen Verfahren eine Rolle spielen, bzw. tun dies bereits. Nicht erledigt ist damit auch die Pflicht der USA, zu einer friedlichen Streitbeilegung beizutragen, auf welchem Weg auch immer.
Die Verletzung des Prinzips des guten Glaubens will mir nicht eingehen. Wie anders sollen denn die Streuschäden der Altgläubiger durchgesetzt werden? Diese haben einzeln keine Möglichkeit, für die Durchsetzung ihrer Forderungen effektiven Rechtsschutz zu erhalten. Es liegt daher auf der Hand, sie gebündelt durchzusetzen. Entwicklungen in diese Richtung gibt es derzeit in vielen Rechtsgebieten: Verbraucherrecht, Umweltrecht, Kartellrecht usw.
Die Lasten der defizitären Restrukturierungsmechanismen und Altverträge sollte man nicht den Altgläubigern aufbürden. Der potentiell hohe Profit liegt nur an den ebenso hohen Durchsetzungsrisiken, die die Preise auf dem Sekundärmarkt erheblich drücken.
@AX: Aus Sicht der Gläubiger ist das natürlich nett. Bezweifelt niemand. Die Griesa Entscheidung birgt aber tatsächlich Sprengstoff für die Anleihemärkte. Das sehen sie an den sehr differenzierten Stellungnahmen internationaler Organisationen und aus der Staatenwelt.
@ Aufmerksamer Leser:
Ich sehe die gewichtigen öffentlichen Interessen, die auf dem Spiel stehen. Mir soll es daher recht sein, wenn man die Forderungen aus Gründen der Staatenimmunität oder anderen etablierten Gemeinwohlprinzipien abweist. Das sollte man dann aber eben klar benennen. Für verfehlt hielte ich es dagegen, wenn man unter den Schlagwörtern Rechtsmissbrauch und Bösgläubigkeit ein doloses Verhalten der Gläubiger konstruiert, das von der Rechtsordnung sonst hingenommen oder sogar gefördert wird.
Vielleicht habe ich aber lediglich ein dem Völkerrecht nicht angepasstes Verständnis von Rechtsmissbrauch. ;-)
AX: sehe ich auch so, um die Gläubiger geht es nicht (die machen nur das Geschäft ihres Lebens – oder nicht), das meinte ich eben schon. Zu den Hintergründen, die interessant sind: http://www.foreignaffairs.com/articles/141588/felix-salmon/hedge-fund-vs-sovereign