Auch Abtreibungsgegner haben Rechte
Wer einen kontroversen Beruf ausübt, muss etwas aushalten können – auch, dass sich vor seiner Tür Eiferer postieren und ihn mit Namen und ad personam anprangern.
Auf diesen Standpunkt stellt sich das Bundesverfassungsgericht in seiner heute veröffentlichten Kammerentscheidung zur Meinungsfreiheit eines militanten Abtreibungsgegners.
Der Kläger pflegte sich vor gyäkologische Praxen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, mit Plakaten und Flugblättern auf die Straße zu stellen und Frauen, die er für mögliche Patientinnen hielt, anzusprechen und ihnen seine religiösen Überzeugungen aufzudrängen.
Das wollte ein betroffener Arzt nicht hinnehmen und erwirkte beim LG München einen Beschluss, der dem Kläger verbot, öffentlich – auch im Internet – den Arzt namentlich anzuprangern und seine Patientinnen zu belästigen, im Umkreis von einem Kilometer rund um die Praxis.
So geht das nicht, findet jetzt die 1. Kammer des Ersten Senats (Kirchhof, Eichberger, Masing). So könne man mit der Meinungsfreiheit des Klägers nicht umgehen.
Unangenehme Wahrheiten muss man hinnehmen
Nach Ansicht der Kammer muss man wahre Tatsachenbehauptungen, die weder Intim- noch Privatsphäre betreffen, hinnehmen, auch wenn sie unangenehm sind. Erst wenn die Stigmatisierung ein unverhältnismäßiges Maß erreicht, könne man sich dagegen wehren, und das sei hier nicht der Fall: Es sei nicht erkennbar,
dass dem Kläger ein umfassender Verlust an sozialer Achtung drohe, wenn seine Bereitschaft zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen zum Gegenstand einer öffentlichen Erörterung gemacht wird. Hiergegen spricht, dass dem Kläger nach dem festgestellten Sachverhalt nicht etwa eine strafrechtlich relevante oder auch nur überhaupt gesetzlich verbotene, sondern lediglich eine aus Sicht des Beschwerdeführers moralisch verwerfliche Tätigkeit vorgehalten wurde, auf die zudem der Kläger selbst ebenfalls öffentlich hinwies. Darüber hinaus haben die Gerichte auch nicht hinreichend gewürdigt, dass der Beschwerdeführer mit dem Thema der Schwangerschaftsabbrüche einen Gegenstand von wesentlichem öffentlichem Interesse angesprochen hat, was das Gewicht seines in die Abwägung einzustellenden Äußerungsinteresses vergrößert.
Chilling effect
Das scheint mir doch ein bisschen grob argumentiert. Dass der Arzt nichts Verbotenes tut, wendet sich gegen ihn. Dass er seine Arbeit unter den schwierigen Bedingungen eines “wesentlichen öffentlichen Interesses” verrichtet, ebenfalls. Im Grunde sagt die Kammer dem Arzt: Wenn du so ein Mädchen bist und nicht mal das bisschen Stigmatisierung aushältst, dann treib halt nicht ab.
Angenommen, vor der Kanzlei eines Strafverteidigers würden Demonstranten aufziehen mit Plakaten, auf denen steht: “Anwalt X verteidigt Kinderschänder!” Das wäre ziemlich genau der gleiche Fall, oder? Würde man da auch einfach sagen, stellt euch nicht so an?
Es gibt Berufe, die es mit sich bringen, dass man sich die Hände schmutzig macht. Trotzdem brauchen wir diese Berufe. Wir brauchen Leute, die Kinderschänder verteidigen, und wir brauchen Leute, die Schwangerschaften abbrechen, beides Tätigkeiten, die ich für meinen Teil echt nicht gern ausüben würde. Die Leute, die das machen, haben eine andere Behandlung verdient als Leute, die nur etwas erlaubtes, aber moralisch verwerfliches tun, sagen wir: Bankberater, die einer Omi einen dubiosen Aktienfonds aufschwatzen.
Sie haben verdient, dass wir sie schützen. Sonst macht das nämlich keiner mehr. (Was die Abtreibungsgegner wohl gerne hätten.)
Der Gesichtspunkt hätte in die Entscheidung hineingehört, finde ich.
Die Leute, die das machen, haben eine andere Behandlung verdient als Leute, die nur etwas erlaubtes, aber moralisch verwerfliches tun, sagen wir: Bankberater, die einer Omi einen dubiosen Aktienfonds aufschwatzen.
Ich denke, da muss ich widersprechen. Die Moral geht den Staat nix an. Ist es nicht verboten, ist es erlaubt. Beim Erlaubten darf der Staat nicht unterscheiden zwischen dem moralisch fragwürdigen und moralisch richtigen Verhalten. Wie der Fall sehr schön zeigt, kann man darüber was moralisch richtig ist, sehr trefflich streiten.
Sie möchten vor der Bank ihre moralische Empörung ausdrücken dürfen, der religiöse Eiferer vor der Abtreibungsklinik.
Wollen Sie wirklich, dass Gerichte entscheiden, welche moralische Empörung von der Meinungsfreiheit gedeckt ist und welche nicht?
Entweder wir lassen solche öffentlichen Proteste in allen Fällen zu, oder wir verbieten Sie auch bei dem Banker. Nur mit Meinungsfreiheit hat dann letzteres nicht mehr viel zu tun.
“Die Leute, die das machen, haben eine andere Behandlung verdient als Leute, die nur etwas erlaubtes, aber moralisch verwerfliches tun, sagen wir: Bankberater (…)”
Soso – aber wer soll denn entscheiden, wer etwas moralisch verwerfliches macht (gegen das demonstriert werden darf) und wer einer moralisch legitimen Tätigkeit nachgeht. Wollen wir wirklich, dass Gerichte darüber urteilen, welche von den juristisch erlaubten Tätigkeiten moralisch verwerflich sind und welche nicht?
Da lobe ich mir doch das Verfassungsgericht, dass solche Unterscheidungen nicht ziehen will. Und im übrigen: Wenn der gute Mann davon überzeugt ist, dass seine Arbeit moralisch legitim ist – welches Problem hat er eigentlich damit, dass andere anderer Ansicht sind und darauf hinweisen wollen? Ist natürlich unangenehm und kann Kunden vergraulen. Aber die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit sollte uns wirklich wichtiger sein als das Geschäftsinteresse von Unternehmen oder von Selbstständigen.
Wieso moralische Unterscheidung? Abtreibungsarzt und Bankbeamter sind beides Leute, die etwas Erlaubtes, aber in den Augen mancher “moralisch Verwerfliches” tun (nicht meine Worte, sondern die der Kammer). Ich schlage nicht vor, dass das Gericht den einen moralisch sauber finden soll und den anderen nicht. Sondern, dass es berücksichtigt, dass der eine einen Job macht, der zwar moralisch heikel ist, den aber so oder so irgendjemand machen muss – und der andere nicht. Das ist gerade nicht die moralische Unterscheidung.
Das meinen Sie nicht ernst, oder?
Warum muss es Ärzte geben, die Abtreibungen vornehmen? Wo steht das? Weil selbst bei einem Verbot nicht alle Abtreibungen zu verhindern wären? Das gilt 1:1 für dubiose Finanzberatungen.
Im Übrigen: Die moralische Unterscheidung haben Sie eingeführt.
Zitat:
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Die Leute, die das machen, haben eine andere Behandlung verdient als Leute, die nur etwas erlaubtes, aber moralisch verwerfliches tun, sagen wir: Bankberater, die einer Omi einen dubiosen Aktienfonds aufschwatzen.
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Der Satz macht nur Sinn, wenn Sie die Tätigkeit von Abtreibungsärzten moralisch nicht verwerflich finden.
ich finde, jede rechtlich zulässige Tätigkeit ist schützenswert – ob nötig oder nicht.
in Art.12 GG steht ja auch nicht dass nur sinnvolle Berufe geschützt werden. Schächter wäre z.B. auch ein Beruf, den ich als wenig sinnvoll/nötig betrachten würde; oder Boulevard-Journalist.
und es gibt auch Leute die meinen Kinderschänder bräuchten keinen Anwalt, sondern einen Genickschuss.
@ Dante:
Zitat aus der Entscheidung: “Hiergegen spricht, dass dem Kläger nach dem festgestellten Sachverhalt nicht etwa eine strafrechtlich relevante oder auch nur überhaupt gesetzlich verbotene, sondern lediglich eine aus Sicht des Beschwerdeführers moralisch verwerfliche Tätigkeit vorgehalten wurde.”
Hatte ich eh schon zitiert, mach ich aber gerne noch mal.
Und ja, ich bin in der Tat der Meinung, dass es Ärzte geben muss, die bereit und in der Lage sind, eine Schwangerschaft abzubrechen, und sei es nur in dem Fall einer von ihrem Vater vergewaltigten Dreizehnjährigen.
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Und ja, ich bin in der Tat der Meinung, dass es Ärzte geben muss, die bereit und in der Lage sind, eine Schwangerschaft abzubrechen, und sei es nur in dem Fall einer von ihrem Vater vergewaltigten Dreizehnjährigen
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Und da bin ich Ihrer Meinung! Es ist aber eine moralische Wertung, die uns als Bürgen im Rahmen der freien Meinungbildung und -äußerung zusteht. Dem Staat müssen solche morallischen Wertungen vorenthalten bleiben. Er kann nur bestimmen, was erlaubt und was verboten ist.
Wenn der Staat aber sagt, Bankberater und Abtreibungsarzt sind legale Beruf, muss er auch in gleichem Maße Proteste gegen deren Tätigkeit zulassen oder eben unterbinden. Es gibt genug Gründe dafür zu sagen, ohne Bankberater kommen wir auch nicht aus. Man kann ja auch nicht sagen, nur wenn der nachweislich schlecht ist, darf man gegen seine Tätitgkeit als Bankberater demonstrieren. Das wäre völlig unpraktikabel.
Der Chiling Effect mag ein Problem sein. In einer freiheitlichen Gesellschaft, in der der Staat dem Bürger nicht vorschreiben darf, was sie zu denken haben, ist er aber nicht mit adäquaten Kosten vermeidbar.
Was ich sagen will, ist dies:
Es gibt Berufe, die gehen als solche mit dem Risiko einher, sich in moralische Grenzbereiche begeben zu müssen. Bankberater ist kein solcher Beruf: Es gehört nicht zum Job des Bankberatens untrennbar dazu, sich in moralische Grenzbereiche begeben zu müssen. Bei Strafverteidigern und bei Abtreibungsärzten gehört das zu ihrem Job dazu.
Diese Unterscheidung knüpft zwar an die Moral an, aber sie ist selbst keine moralische. Es ist kein moralisches Werturteil damit verbunden, diese beiden Arten von Berufe als ungleich zu betrachten und zu behandeln.
Ich finde dieses Argument nicht stichhaltig, weil es auf ziemlich willkürlichen Grenzziehungen beruht. Zum Beruf “Bankberater für hochriskante Anlageformen” gehört es vielleicht durchaus zwangsläufig dazu, sich in moralische Grenzbereiche zu begeben; zu den Berufen “Rechtsanwalt” und “Arzt” oder sogar “Frauenarzt” nicht unbedingt. Kein Rechtsanwalt muss schließlich Kinderschänder verteidigen und kein Frauenarzt wird schließlich gezwungen, Abtreibungen (oder gar Abtreibungen, die unter § 218a Abs. 1 StGB fallen) durchzuführen. Es kommt also letztlich darauf an, wie eng man die jeweilige Tätigkeit zuschneidet.
Das Argument mit der dreizehnjährigen Vergewaltigten zieht ebenso wenig, weil es den Sachverhalt verkennt. Der Bf hat dem betroffenen Arzt ausdrücklich vorgehalten, er führe „rechtswidrige Abtreibungen durch, die aber der deutsche Gesetzgeber erlaubt und nicht unter Strafe stellt“. Das sind die Fälle des § 218a Abs. 1 und nicht des § 218a Abs. 2 StGB. Wer sich die Vorgeschichte des Beschlusses ein bisschen anschaut, kann zwanglos nachvollziehen, dass diese Formulierung mit Bedacht und sehr sorgfältig gewählt ist. Der Bf hat da sozusagen trial-and-error betrieben.
Letztlich kann es für die Lösung des Falls nur darauf ankommen, inwieweit jemand einen von ihm so empfundenen allgemeinen ethischen Missstand in personalisierter Form anprangern darf. Das muss dann für Anliegen, die man selbst teilt, ebenso gelten wie für Anliegen, die man ablehnt. Insofern geht es hier durchaus allgemein um die Grenzen der freien Meinungsäußerung, und da finde ich die Gründe des Beschlusses ziemlich ausgewogen und überzeugend.