Auf heiklem Terrain
Bemerkungen zur Einstellung des Vertragsverletzungsverfahrens aufgrund des PSPP-Urteils des Bundesverfassungsgerichts
Die Zusage der Bundesregierung gegenüber der Europäischen Kommission, künftige Ultra-Vires-Feststellungen durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu vermeiden, ist verfassungsrechtlich mindestens bedenklich. Nicht nur aus Perspektive der richterlichen Unabhängigkeit handelt es sich hierbei um einen heiklen Vorgang. Auch in Hinblick auf die Unparteilichkeit und Distanz des BVerfG gegenüber den zu kontrollierenden obersten Bundesorganen wirft die Zusage möglicherweise Fragen auf.
Eine prekäre Zusage
Erstmals im Urteil zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors (Public Sector Asset Purchase Programme – PSPP) durch die Europäische Zentralbank (EZB) hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 154, 17) Handlungen der Unionsorgane – hier der EZB und des EuGH – als Ultra-Vires-Akte klassifiziert, die nicht am Anwendungsvorbehalt des Unionsrechts teilhaben. Daraufhin hatte die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet.
Zu einer weiteren Eskalation dieses Konflikts wird es nun nicht mehr kommen. Denn die Kommission hat dieses Verfahren aufgrund der Stellungnahme der Bundesregierung vom 3. August 2021 und der darin enthaltenen „sehr klaren“ Zusagen am 2. Dezember 2021 eingestellt. Die Bundesregierung hat sich „unter ausdrücklicher Bezugnahme auf ihre in den Verträgen verankerte Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit“ u.a. dazu verpflichtet, „alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um in Zukunft eine Wiederholung einer Ultra-Vires–Feststellung aktiv zu vermeiden“.
Darüber ist in den Medien eher beiläufig berichtet worden. Auch die Anzahl der kritischen Stimmen aus Journalismus, Politik und Rechtswissenschaften ist überschaubar. Den Finger in die Wunde gelegt hat allerdings der bayerische Justizminister Eisenreich mit seinem Kommentar, Deutschland sei ein Rechtsstaat mit unabhängigen Gerichten. Dieses Grundprinzip unserer Verfassungsordnung dürfe nicht angetastet werden.
Die Gewährleistung richterlicher Unabhängigkeit
In der Tat bildet die Gewährleistung richterlicher Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) ein konstitutives Element der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung im freiheitlichen Verfassungsstaat (vgl. Hillgruber, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Losebl., Stand: 07/2021, Art. 97, Rdnr. 1). Die richterliche Unabhängigkeit garantiert die Weisungsfreiheit der Richter (vgl. nur BVerfGE 87, 68 [85]) in Bezug auf den Entscheidungsprozess und die Entscheidung selbst (Hillgruber, a.a.O., Rdnr. 21). Diese Weisungsfreiheit kommt auch den Richtern des BVerfG zu (BVerfGE 40, 356 [367]). Art. 97 Abs. 1 GG schützt vor Einwirkungen insbesondere auch der Exekutive (Detterbeck, in: Sachs, GG, 9. Aufl., 2021, Art. 97, Rdnr. 13). Unzulässig sind demnach einzelne wie generelle Weisungen. Angesichts der besonderen Bedeutung richterlicher Unabhängigkeit werden Richter aber auch bereits vor subtilen mittelbaren Einflussnahmen geschützt (so auch Detterbeck, a.a.O., Rdnr. 13).
Wäre die Zusage der Bundesregierung, künftige Ultra-Vires-Feststellungen mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu vermeiden, so zu verstehen, dass sie sich verpflichtet hat, aktiv (und sei es subtil) auf Entscheidungsprozesse und Entscheidungen des BVerfG Einfluss zu nehmen, stellte diese Zusage einen Verstoß gegen Art. 97 Abs. 1 GG dar. Bereits von einer in diesem Sinne abgegebenen Zusage – und nicht erst vom zukünftigen Einsatz aller „zur Verfügung stehenden Mittel“ – ginge ab Kenntnisnahme durch die Richter eine Wirkung aus, der sich die Richter in ihrer konkreten Spruchtätigkeit schwerlich ohne Weiteres entziehen könnten.
Man wird indes der Bundesregierung zugutehalten müssen, dass sie sich verfassungskonform verhalten und nur den Einsatz von Mitteln zusagen wollte, die die richterliche Unabhängigkeit wahren. Allerdings ist die Zusage selbst in dieser Deutung verfassungsrechtlich nicht unbedenklich. Denn aus ihr ließe sich jedenfalls ableiten, dass künftige Ultra-Vires-Feststellungen politisch inopportun sind. Und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich derzeitige und künftige Richter des BVerfG in ihrer Spruchtätigkeit davon beeinflussen lassen. Angesichts der hohen Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit ist – wie aufgezeigt – bereits eine subtile Einflussnahme zu vermeiden. Dies gilt insbesondere auch, da angesichts der Bedeutung des Vertrauens der Bürger in die Unabhängigkeit der Justiz bereits der Anschein einer Beeinträchtigung dieser Unabhängigkeit vermieden werden sollte.
Richterliche Unabhängigkeit – ein Wechsel der Perspektive
Auch aus umgekehrter Perspektive wirft die in der Stellungnahme der Bundesregierung enthaltene Zusage Fragen auf. Wie der Deutschlandfunk berichtete, heiße es „in Regierungskreisen“, „an dem Schreiben [der Bundesregierung] sei im Prinzip gemeinsam mit der EU-Kommission und in Abstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht gefeilt worden“. Die Verfasser dieses Beitrags verfügen weder hinsichtlich des „Ob“ noch des „Wie“ einer etwaigen „Abstimmung“ insbesondere im Hinblick auf die in Rede stehende Zusage der deutschen Regierung über eigene Kenntnis. Gleichwohl bietet die Meldung Anlass, die Perspektive zu wechseln und Bedingungen und Grenzen einer etwaigen Beteiligung des BVerfG an der Stellungnahme der Bundesregierung zu reflektieren.
Es mag sein, dass die Bundesregierung wenn nicht verpflichtet, dann jedenfalls gut beraten ist, im Vorfeld ihrer Stellungnahmen im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren, die durch Entscheidungen des BVerfG ausgelöst werden, dessen Position zu erfragen und zu berücksichtigen. Größere Brisanz hat allerdings die Frage, inwieweit das BVerfG sich in einen solchen Prozess einbringen darf, ohne die Funktionsbedingungen der ihm obliegenden Kontrolle der Regierung im Hinblick auf die Wahrnehmung ihrer Integrationsverantwortung (vgl. BVerfGE 123, 267 [351]) infrage zu stellen.
Verbreitet wird angenommen, die innere Unabhängigkeit eines Richters entziehe sich als moralische Herausforderung einer direkten rechtlichen Regelung (Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, 3. Aufl., 2018, Art. 97, Rdnr. 40 m.w.N.). Dennoch sind Neutralität, Unparteilichkeit und Distanz „mit dem Begriff des Richters im Sinne von Art. 97 GG untrennbar verknüpft […]. Die Unabhängigkeit ist insoweit verpflichtende Aufgabe des Richters, dem gemäß Art. 92 GG die rechtsprechende Gewalt anvertraut ist“ (BVerwGE 78, 216 [219], Hervorhebung i.O.). Die Unparteilichkeit und Distanz gerade gegenüber den zu kontrollierenden obersten Bundesorganen bildet die notwendige Funktionsbedingung verfassungsgerichtlicher Kontrolle im System der Gewaltenteilung unter dem Grundgesetz.
Vor diesem Hintergrund erscheint es zwar unbedenklich, wenn das BVerfG seine Rechtsauffassung gegenüber der Bundesregierung darlegt, bevor diese ihre Stellungnahme in einem Vertragsverletzungsverfahren abgibt, das durch eine Entscheidung des BVerfG ausgelöst worden ist. Unzulässig wäre es demgegenüber jedenfalls, wenn sich das BVerfG gegenüber der Bundesregierung auf eine künftige Rechtsprechungslinie im Hinblick auf Ultra-Vires-Kontrollen festlegte. Auch wenn aber die Zusage der Bundesregierung in dem Sinne zu verstehen ist, dass nur Art. 97 Abs. 1 GG wahrende Mittel eingesetzt werden sollen, um eine zukünftige Wiederholung einer Ultra-Vires-Feststellung zu vermeiden, wäre es nicht unproblematisch, wenn das BVerfG der Zusage im Vorhinein zugestimmt hätte. Zwar hätte sich das BVerG in diesem Fall nicht auf eine künftige Rechtsprechungslinie festgelegt. Indes hätten dann Richter des BVerfG an einer Zusage der Bundesregierung mitgewirkt, von der das politische Signal ausgeht, Ultra-Vires-Feststellungen seien künftig unerwünscht. Es könnte nicht ausgeschlossen werden, dass sich die derzeit im Amt befindlichen und die künftigen Richter des BVerfG davon in ihrer Spruchtätigkeit beeinflussen ließen. Jedenfalls könnte die Zustimmung zukünftig hinsichtlich der daran mitwirkenden Richter die Besorgnis der Befangenheit im Sinne des § 19 Abs. 1 BVerfGG auslösen – einer Norm, deren Zweck gerade in der Garantie der subjektiven Unabhängigkeit besteht (Kliegel, in: Barczak, Mitarbeiterkommentar BVerfGG, 2018, § 18, Rdnr. 4, § 19, Rdnr. 4).
Fazit
Die Befriedung des Konflikts zwischen der Europäischen Union und der Bundesrepublik Deutschland hat die Bundesregierung und möglicherweise das BVerfG innerstaatlich auf verfassungsrechtlich sensibles Terrain geführt. Eines sollten vorstehenden Überlegungen dabei gezeigt haben: Ein funktionsadäquater Abstand zwischen dem BVerfG und der Bundesregierung ist conditio sine qua non effektiver verfassungsgerichtlicher Kontrolle.
Natürlich darf die Bundesregierung “aktiv auf Entscheidungsprozesse und Entscheidungen des BVerfG Einfluss nehmen” – und zwar als Verfahrensbeteiligte
in Schriftsätzen sowie in der mündlichen Verhandlung. Das geschieht in der Verfassungspraxis sogar sehr häufig. Dass die BReg in Wahrheit nicht mehr tun kann, wusste die Kommission auch vorher.
Das BVerfG führt in seiner ultra vires -Rechtsprechung doch selbst aus, dass die BReg durch entsprechendes Tätigwerden auf europäischer Ebene einem ultra vires-Akt entgegenwirken muss. Die (mit Verlaub: naheliegende) Möglichkeit, dass die BReg auch dies als Mittel im Sinn hatte, um eine ultra vires-Feststellung zu vermeiden, übersieht der Beitrag leider völlig.
Auch die Vorstellung, das BVerfG würde sich im Geheimen mit BReg und Kommission auf die zukünftige (selbstredend negative) Behandlung von ultra vires-Verfahren verständigen, ist wohl etwas zu viel des Raunens. Bis dato hat das Gericht in allen bis auf einem Verfahren gegen die Beschwerdeführer entschieden – ganz allein. Müssen da wirklich zwei Rechtswissenschaftler Verschwörungsfantasien durch ernsthafte Befassung adeln?
Der Vorwurf, die Autoren würden sich Verschwörungsfantasien hingeben, fällt auf den Kommentator zurück. Damit entwertet er die Substanz seines Kommentars.
Der Vorwurf ist nicht der des Sich-Hingebens sondern der des Aufwertens solcher Theorien. Rechtswissenschaftler haben eine gesellschaftliche Verantwortung, wenn sie unter Inanspruchnahme ihrer Expertise am öffentlichen Diskurs teilnehmen (zumal die rechtliche Einsicht, dass ein kollusives Zusammenwirken von Gericht und Bundesregierung unzulässig wäre, wirklich trivial ist).
Sehr geehrte Herren Hain und Ferreau,
Ihren Beitrag habe ich mit Freuden aufgenommen. Auch mir kamen Zweifel und Bedenken, ob der Sachverhalt so unproblematisch ist wie die Kürze einer Pressemitteilung suggeriert. Im Wesentlichen konnte ich die Zusage der Bundesregierung nur auf zweierlei Art verstehen:
Einerseits: Wie von den Vorrednern dargestellt handelt es sich um eine reine Formsache, durch die Bundesregierung ihre unionale Loyalität betont und versichert, sich um auch nach nationalem Verfassungsrecht zulässige Mittel zur Verhinderung weiterer ultra-vires-Entscheidungen zu bemühen. Warum dann allerdings die Kommission das Verfahren eingeleitet hat, wo die Bundesregierung ja selbst an dem vom BVerfG festgestellten ausbrechenden Rechtsakt mitgewirkt hat, leuchtet mir nicht ein.
Für naheliegender halte ich deshalb andererseits, dass hier vor allem ein politisches Problem vorliegt.
Dass die EU kein Staatenbund ist und nur innerhalb der Verträge, begrenzt auch durch die nationale Identitätskontrolle, hoheitlich handeln darf, ist allgemein unbestritten. Nun ist aber das BVerfG dazu verpflichtet, auf Antrag die europäische Integration an der durch die Ewigkeitsgarantie geschützten Verfassungsgüter zu messen. Gelangen BVerfG und EuGH bei der Beurteilung zu unterschiedlichen Ergebnissen, wird Ersterer den (Anwendungs-)Vorrang des Grundgesetzes betonen, während Letzterer das Europäische Vertragswerk für maßgeblich hält. Inbesondere kann das BVerfG aber auch ein dann eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren nicht akzeptieren, da dieses an einem rechtlich identischen Fehler leiden würde.
Letzlich liegt also ein Dilemma vor, dass nur politisch durch ein Bekenntnis in eine oder die andere Richtung zu lösen ist. Diesen offensichtlichen Missstand als Verschwörungsgeraune zu desavouieren, halte ich deshalb auch für grob unsachlich und für in der Diskussion nicht zielführend.
Sehr geehrte/r P Justus
1) Die Bundesregierung hat bei der Entscheidung der EZB über Anleihenkäufe nicht mitgewirkt.
2) Ein Problem kann gleichzeitig ein juristisches und ein politisches Problem sein. Das “Bekenntnis” kann wohl letztlich nur vom BVerfG selbst erbracht werden, indem es seine Rechtsprechung überdenkt oder diese behutsamer anwendet.
3) Dem Vorwurf der groben Unsachlichkeit möchte ich mit der höflichen Bitte um erneute Lektüre begegnen. Meine Kritik an der Legitimierung von Verschwörungstheorien durch Raunens erhalte ich derweil aufrecht: Es gibt keinen Beweis für ein kollusives Zusammenwirken von Gericht und Bundesregierung, weder im Rahmen der hier besprochenen Erklärung noch bei einer der früheren ultra vires Verfahren. Die Vorstellung ist – nichts für ungut – fernliegend.
Zwei Punkte – erstens: Der heikle Gehalt verschwindet ja auch dann nicht, wenn, wie A. Jannasch oben nahelegt, sich die in Rede stehende Verpflichtung zur Einwirkung auf das BVerfG lediglich auf Stellungnahmen in mündlichen Verhandlungen sowie Schriftsätze bezieht. Ist die Bundesregierung befugt, gegenüber der Kommission Verpflichtungen hinsichtl. des Inhalts ihrer Eingaben vor dem BVerfG in noch gar nicht bekannten Fällen einzugehen? Noch wichtiger aber, zweitens: Ist der Skandal hier nicht vielmehr, dass die Verpflichtung (!) der Bundesregierung, “alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um weitere Ultra-vires-Feststellungen vonseiten des Bundesverfassungsgerichts aktiv zu vermeiden”, proaktiv in das Antwortschreiben der Bundesregierung vom 3.8.2021 hineingelesen wird? Steht dort wirklich eine Verpflichtung auf Einwirkung?
Manchmal ist es halt sogar noch weniger dramatisch. Der von den Autoren inkriminierte Satz gibt offensichtlich das Verständnis der EU-Kommission wieder, wie diese die Zusagen der Bundesregierung versteht. Er “findet sich in der Antwort der Bundesregierung an die Europäische Kommission nicht”, so die Auskunft derselbigen laut Drucksache 20/290, Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Florian Toncar vom 13. Dezember 2021 auf die Schriftliche Frage Nr. 13 (https://dserver.bundestag.de/btd/20/002/2000290.pdf).
Ob die im Artikel zitierte Zusicherung der Bundesregierung den zitierten Wortlaut hat, entnehmen wir der Bundestagsdrucksache, auf die der Link verweist? Oder ist es so, dass die Antwort der Bundesregierung „VS-Nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft ist?
“Ein funktionsadäquater Abstand zwischen dem BVerfG und der Bundesregierung ist conditio sine qua non effektiver verfassungsgerichtlicher Kontrolle.” Das ist wirklich wichtig für die Glaubwürdigkeit und Autorität des Gerichts. Es sollte Gericht bleiben und sich nicht unter Berufung auf “Interorganrespekt” und “Gewaltenverschränkung” zu einer undurchsichtigen Institution der Politikberatung degradieren.
Der Wortlaut der Antwort der Bundesregierung an die Kommission wird in der zitierten Drucksache nicht wiedergegeben und ist, soweit ersichtlich, nicht veröffentlicht worden.