11 November 2014

Auf Kollisionskurs: Die Unionsbürgerfreizügigkeit und der Kampf gegen den vermeintlichen „Sozialtourismus“ in der Rs. Dano

Seit Monaten schwelt in der politischen Debatte in Deutschland und Europa (hier und hier) die Diskussion um angeblichen „Sozialtourismus“ aus ärmeren EU-Staaten in die reicheren EU-Staaten. Es geht um den Konflikt zwischen einerseits den grundlegenden Rechten auf Freizügigkeit und Gleichbehandlung von Unionsbürger*innen und andererseits dem Interesse der Mitgliedstaaten, ihre Sozialsysteme vor „unangemessener“ Inanspruchnahme zu schützen. Im Kern ist die Frage zu beantworten, wie viel Solidarität in der Unionsbürgerschaft steckt. Der EuGH hat nun heute in der Rechtssache Dano (Rs. C-333/13) entschieden, dass jedenfalls Unionsbürger*innen, die nur mit dem Ziel in einen anderen Mitgliedstaat reisen um Sozialleistungen zu beziehen, legitimerweise von diesen ausgeschlossen werden dürfen. Das Urteil birgt eine Reihe von Problemen und stellt die historische Errungenschaft einer lückenlosen europäischen Sozialrechtskoordinierung in Frage.

Die Rs. Dano

Konkret hat der EuGH entschieden, dass es mit Unionsrecht vereinbar ist, Unionsbürger*innen vom Bezug von Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II (auch bekannt als „Hartz IV“ oder ALG II) auszuschließen (§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II), wenn diesen kein Aufenthaltsrecht nach der Unionsbürgerrichtlinie (RL 2004/38/EG) zusteht.

Hintergrund war der folgende Fall: Das Jobcenter Leipzig hatte unter Berufung auf die genannte deutsche Regelung den Antrag der rumänischen Staatsangehörige Elisabeta Dano auf Leistungen der Grundsicherung abgelehnt. Frau Dano und ihr in Deutschland geborener Sohn Florin lebten seit 2011 in Leipzig. Frau Dano besaß keinen Schulabschluss, konnte sich nur in einfacher Sprache mündlich auf Deutsch verständigen und war weder in Rumänien noch in Deutschland jemals erwerbstätig. Es lagen auch keine Hinweise dafür vor, dass Frau Dano jemals Arbeit gesucht hätte. Das SG Leipzig legte dem EuGH die Frage vor, ob der Ausschluss bedürftiger Unionsbürger*innen von den Leistungen der Grundsicherung zur Vermeidung einer unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialleistungen mit dem Gleichbehandlungsansprüchen aus der Verordnung (EG) Nr. 883/2004, dem Primärrecht und der Unionsbürgerrichtlinie vereinbar sei.

Der EuGH bejaht dies. Personen, die nicht die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht aus der Unionsbürgerrichtlinie erfüllen, hätten auch keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Damit stellt der Gerichtshof Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Unionsbürgerrichtlinie ins Zentrum seiner Argumentation. Nach dieser Vorschrift genießen nicht erwerbstätige Unionsbürger*innen nur dann ein Aufenthaltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat, wenn sie über Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Diese Einschränkung des Freizügigkeitsrechts von nicht erwerbstätigen Unionsbürgern liefe nach Ansicht des Gerichtshofs ins Leere, wenn diese Personen ein Anspruch auf Sozialleistungen geltend machen könnten, der ihnen die Sicherung ihres Lebensunterhalts erst ermögliche (Rn. 79). Hier folgt der Gerichtshof explizit den Schlussanträgen von Generalanwalt Wathelet.

Der EuGH bezieht damit Stellung. Er stellt im Einklang mit seiner Entscheidung in der Rechtssache Brey (C-140/12) noch einmal klar, dass die Grundsicherung nach SGB II als „besondere beitragsunabhängige Geldleistung“ sowohl unter Art. 70 Abs. 2 der Koordinierungs-Verordnung (EG) Nr. 883/2004 als auch unter Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie fällt. Das bedeutet konkret: Auch für besondere beitragsunabhängige Leistungen gilt prinzipiell der Gleichbehandlungsanspruch des koordinierenden Sozialrechts aus Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (Rn. 55). Dieser Gleichbehandlungsanspruch kann aber nach dem heutigen Urteil des Gerichtshofs aufgrund von Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie eingeschränkt werden, so dass Unionsbürger*innen von besonderen beitragsunabhängigen Leistungen ausgeschlossen werden können, wenn sie nicht „Arbeitnehmer, Selbständige [oder] Personen [sind], denen dieser Status erhalten bleibt“. Der Gerichtshof lässt damit zu, dass Mitgliedstaaten die nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 gebotene Gleichbehandlung davon abhängig machen, dass die betreffende Unionsbürgerin ein Aufenthaltsrecht aus der Unionsbürgerrichtlinie hat.

Vom Sinn der Sozialrechtskoordinierung in der EU

Diese Begründung ist dogmatisch unbefriedigend und angesichts des fein austarierten Systems der Sozialrechtskoordinierung in Europa problematisch, denn sie verkennt – wie zuvor der Generalanwalt – die systematischen Unterschiede zwischen einer aufenthaltsrechtlichen und einer kollisionsrechtlichen Perspektive auf die Unionsbürgerfreizügigkeit. Der Gerichtshof führt mit seiner heutigen Entscheidung faktisch eine neue – aufenthaltsrechtliche – Voraussetzung für die Sozialrechtskoordinierung ein, die diesem System eigentlich fremd ist. Das koordinierende Sozialrecht verfolgt das Ziel, zu „verhindern, dass Personen, die in den Geltungsbereich der Verordnung fallen der Schutz […] vorenthalten wird, weil keine der nationalen Rechtsvorschriften auf sie anwendbar ist“, wie der Gerichtshof es in der Entscheidung Kuusijärvi für die Vorgängerregelung zur KoordinierungsVO formuliert hat. Deshalb bildet die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ein „geschlossenes und einheitliches System von Kollisionsnormen“. Sobald also aus Sicht des koordinierenden Sozialrechts klar ist, welches der zuständige Mitgliedstaat ist, muss die betreffende Unionsbürgerin von diesem zwingend mit den eigenen Staatsangehörigen gleichbehandelt werden. Den berechtigten Interessen der Mitgliedstaaten, den Kreis der Anspruchsberechtigten einzuschränken, trägt Art. 11 der Durchführungsverordnung zum koordinierenden Sozialrecht Rechnung. Der Artikel stellt detaillierte Kriterien dafür auf, wann ein Mitgliedstaat als Wohnmitgliedstaat Sozialleistungen erbringen muss. Besondere Berücksichtigung finden danach die Dauer und die Kontinuität des Aufenthaltes.

Dieses geschlossene System der Sozialrechtskoordinierung beruht auf der jahrzehntelangen Rechtsprechung des Gerichtshofs in den 1970er und 1980er Jahren, mit denen grenzüberschreitende Mobilität erreicht werden sollte, ohne die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten einander materiell anzugleichen. Die Zuständigkeit des Wohnsitzmitgliedstaats für die Gewährung „besonderer beitragsunabhängiger Leistungen“ kompensiert in diesem System den Umstand, dass diese Leistungen – im Unterschied zu anderen Leistungen – gerade nicht grenzüberschreitend exportiert werden können. Wenn nun im Anwendungsbereich des Koordinationsrechts der Wohnsitzmitgliedstaat Personen von besonderen beitragsunabhängigen Leistungen ausschließen kann, diese aber auch nicht aus dem Herkunftsmitgliedstaat exportiert werden können, kann es passieren, dass Unionsbürger*innen von keinem der mitgliedstaatlichen Sozialsysteme mehr erfasst werden. Genau dieses Ergebnis sollte historisch mit der Einigung auf ein umfassendes Koordinierungsrecht vermieden werden. Der Gerichtshof argumentiert also unter Verkennung des Sinns und Zwecks des koordinierenden Sozialrechts und rüttelt damit an den Grundfesten des europäischen Sozialmodells.

Stattdessen wählt der Gerichtshof eine rein aufenthaltsrechtliche Perspektive und wendet den systemfremden Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtline als Beschränkung für den koordinierungsrechtlichen Gleichbehandlungsanspruch an. Die Unionsbürgerrichtlinie verkörpert die aufenthaltsrechtliche Perspektive auf die Unionsbürgerfreizügigkeit. Sie legt fest, dass das Aufenthaltsrecht an bestimmte Voraussetzungen (z.B. ausreichende Existenzmittel und Krankenversicherung) geknüpft werden können. Die Nichterfüllung dieser Voraussetzungen kann ein Grund sein, das unionsbürgerliche Aufenthaltsrecht zu verlieren. Umgekehrt kann aber das Fehlen eines Aufenthaltstitels nicht den koordinationsrechtlichen Gleichbehandlungsanspruch aushebeln – so jedenfalls das bisherige Verständnis, auch das des EuGH.

Aufenthaltsrecht automatisch ade?

Doch selbst auf der aufenthaltsrechtlichen Seite bleibt das Urteil unbefriedigend. Denn der Gerichtshof nimmt nicht Stellung zur Frage, ob der Bezug von Sozialleistungen zum automatischen Verlust des Aufenthaltsrechts führen darf. Seit der Rechtssache Grzelczyk 2001 war es gefestigte Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass der Bezug von Sozialleistungen nicht automatisch den Verlust des Aufenthaltsrechts nach sich zieht, sondern stets die Umstände des Einzelfalls zu beurteilen sind. Dieser Grundsatz der Einzelfallprüfung findet sich im heutigen Urteil nur noch mit viel gutem Willen als versteckter Hinweis in Rn. 80.

Schließlich sind auch die empirischen Annahmen unhaltbar, die der Rechtssache Dano zugrunde liegen. Der Gerichtshof folgt an mehreren Stellen (Rn. 74 und 77) dem Vorbringen der Bundesregierung, dass der Ausschluss von Leistungen der sozialen Grundsicherung nach dem SGB II dem Schutz vor einer „unangemessenen Inanspruchnahme“ der Sozialsysteme diene. In Zahlen lässt sich die Annahme einer drohenden „unangemessenen Inanspruchnahme“ nicht belegen. Gerade einmal 4,7 Prozent der Bezieher von Grundsicherung nach dem SGB II sind nach Angaben des Bundesministerium für Arbeit und Soziales Unionsbürger*innen. Unionsbürger*innen aus besonders armen Mitgliedstaaten, wie etwa Rumänien, nehmen sogar noch seltener als andere Migranten Sozialleistungen in Anspruch. Der Gerichtshof greift damit implizit populistische Argumente aus der politischen Debatte auf, statt sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie das Kriterium der „unangemessenen Inanspruchnahme“ juristisch auszulegen und anzuwenden ist.

Der Lichtstreif am Horizont

Ist damit alles entschieden? Ist der generelle Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II uneingeschränkt unionsrechtskonform? Das wohl nicht, denn wer genauer liest, kann erkennen, dass der Gerichtshof seine Worte genau gewählt hat. Ausdrücklich weist er darauf hin, dass Frau Dano nicht auf Arbeitssuche in Deutschland war (Rn. 66), und betont, dass die Unionsbürgerrichtlinie die Möglichkeit eröffne, nicht erwerbstätigen Unionsbürger*innen Sozialleistungen zu versagen, wenn sie von ihrer Freizügigkeit „allein mit dem Ziel“ Gebrauch machen, in einem anderen Mitgliedstaat Sozialleistungen zu beziehen. Wie der Gerichtshof in der Rechtssache Alimanovic (C-67/14) entscheiden wird, ist daher nach wie vor offen. Denn in dieser Rechtssache, die das BSG dem Gerichtshof vorgelegt hat, geht es unstreitig und im Unterschied zur Rs. Dano um arbeitsuchende Unionsbürger*innen, die nach der geltenden Regelung des SGB II ebenfalls von der Grundsicherung ausgeschlossen sind. Es bleibt zu hoffen, dass der Gerichtshof künftig die historische Errungenschaft eines koordinierenden Sozialrechts erkennt und die solidarischen Minimalvoraussetzungen der Unionsbürgerfreizügigkeit nicht weiter untergräbt.

Wie geht es in Deutschland weiter?

Offen bleibt schließlich die Frage, wie sich die heutige Entscheidung des EuGH auf das deutsche Recht auswirken wird. Es erscheint mehr als fraglich, ob der absolute Ausschluss nicht erwerbstätiger Unionsbürger von Sozialleistungen angesichts der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum haltbar ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz klargestellt, dass „migrationspolitische Erwägungen […] von vorneherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das […] Existenzminimum rechtfertigen“ können.

 


5 Comments

  1. […] Anuscheh Farahat widerspricht dem Ergebnis des EuGH, beschreitet argumentativ jedoch einen vergleichbaren Weg, wenn sie die technischen Normen des Internationalen Sozialrechts ins Zentrum rückt. Dass diese von wenigen Spezialisten geprägte Materie die Lösung vorgeben soll, überzeugt nicht, zumal man hierfür das Diskriminierungsverbot des Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004 vom Primärrecht entkoppeln müsste. Die Lösung in den EU-Verträgen und dem Konzept der Unionsbürgerschaft zu suchen, ist der richtige Weg – auch wenn man anderer Meinung ist als der EuGH. […]

  2. […] Anuscheh Farahat criticises the Court’s outcome and, yet, she follows a similar path as the ECJ, when she argues that the technical rules on inter-state social security coordination mandated a different outcome. It is not convincing to maintain that this specialised field of secondary law should have defined the answer, not least since doing so would have required the Court to disconnect the interpretation of the non-discrimination principle in Article 4 of Regulation (EC) Nr. 883/2004 from primary law. A fundamental question, such as this one, should be answered primarily on the basis of the EU Treaties and the citizenship concept – even by those who disagree with the Court’s conclusion. […]

  3. […] Fall Dano analysiert der Verfassungsblog (Dr. Anuscheh […]

  4. Jurist Mon 22 Feb 2016 at 20:35 - Reply

    Wunderbare Verbindung zum BVerfG. Allerdings folgt aus der Menschenwuerde noch kein Aufenthaltsrecht. Danach wuerde vielleicht schon die Moeglichkeit einer Heimreise den Anspruch ausschliessen.

  5. Jurist Mon 22 Feb 2016 at 20:42 - Reply

    Allerdings habe ich groesste Schwierigkeiten mit der Vorstellung, der Heimatstaat koenne bestimmte Leitungen nicht “exportieren”. Zahlen kann er doch. Und fuer die tatsaechlichen Voraussetzungen der Menschenwuerde ist der Heimatstaat verantwortlich.

    Wuesste nicht, warum der in Art. 70 Abs. 4 der Verordnung angeordnete Wohnsitzstaat dafuer verantwortlich sein sollte.

    Einen Unionsbuerger, dessen tatsaechliche Voraussetzungen hergestellt werden muessten, gibt es nicht.

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