Außenpolitik als völkerrechtsfreier Raum?
Zum Drohnen-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
An diesem Mittwoch hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in der Sache Air Base Ramstein mündlich verhandelt – und noch am selben Tag entschieden (BVerwG, Urteil vom 25. November 2020 – 6 C 7.19). Die ausführlichen Entscheidungsgründe sind noch nicht veröffentlicht, aber bereits die Pressemitteilung ist aufgrund ihrer Implikationen für die innerstaatliche Durchsetzung des Völkerrechts bemerkenswert.
Zum Hintergrund der Entscheidung
Die Basis der US-Streitkräfte im rheinland-pfälzischen Ramstein spielt eine wichtige Rolle für die Drohnenangriffe der USA im Nahen Osten: Die in den USA stationierten Drohnenpilot*innen senden ihre Steuerungssignale per Glasfaserkabel an die in Ramstein befindliche Relaisstation; von dort gelangen sie weiter an die Kampfdrohnen vor Ort. Diese Übermittlung via Ramstein ist technisch notwendig, da die Erdkrümmung ansonsten eine Echtzeitsteuerung der Fluggeräte verhinderte.
Jemenitische Staatsangehörige, die 2012 durch US-Drohnenangriffe im Jemen Angehörige verloren hatten, haben gegen die Bundesrepublik geklagt: Sie solle verhindern, dass die USA die Air Base Ramstein weiterhin zu Drohnentötungen nutzt, da diese nach Ansicht der Kläger*innen gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Nach allgemeiner Meinung (was auch nicht von der Bundesregierung bestritten wird) gelten die entsprechenden Regelungen des humanitären Völkerrechts – unabhängig von der konkreten Herleitung – auch innerhalb der deutschen Rechtsordnung.
Keine Schutzpflicht
Das VG Köln hatte die Klage abgewiesen, das OVG Münster hat hingegen zugunsten der Kläger entschieden. Das BVerwG wiederum gab der Bundesregierung Recht und verneinte einen Individualanspruch der Kläger*innen. Zwar sei es prinzipiell denkbar, dass Deutschland auch zum Schutz der Grundrechte von Staatsangehörigen anderer Staaten im Ausland verpflichtet ist, selbst wenn die Grundrechtsbeeinträchtigungen von anderen Staaten ausgehen. Mit Blick auf das Völkerrecht entstehe eine Schutzpflicht des deutschen Staates jedoch erst, wenn aufgrund der Zahl und der Umstände bereits eingetretener Völkerrechtsverstöße konkret zu erwarten sei, dass es auch in Zukunft zu völkerrechtswidrigen Handlungen kommen werde, durch die grundrechtliche Schutzgüter beeinträchtigt oder gefährdet würden.
Dies, so das BVerwG, sei im Falle der Steuerung von Drohnen über die Air Base Ramstein nicht der Fall. Selbst wenn man das Bestehen einer Schutzpflicht unterstellte, habe die Bundesregierung die ihren weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum nicht überstrapaziert. Schließlich habe sie eine Zusicherung der USA eingeholt, dass Aktivitäten in US-Militärliegenschaften in Deutschland im Einklang mit geltendem Recht erfolgten.
Als grundrechtsdogmatischer Ausgangspunkt mag der weite Spielraum bei Schutzpflichten stimmig sein. Aber wie konnte das BVerwG feststellen, dass keine Schutzpflicht bestehe bzw. die Bundesregierung ihre Schutzpflicht hinreichend erfüllt habe, ohne die zugrunde liegende völkerrechtliche Frage zu beantworten, ob eine Schutzpflicht besteht? Hängt es nicht gerade von der Antwort ab, ob die Bundesregierung in der Folge hinreichend tätig geworden ist?
Völkerrechtliche Vermeidungsstrategie
Anders als für die Vorinstanz scheint für das BVerwG die rechtliche Frage, ob die Drohnenangriffe völkerrechtswidrig sind, gar keine Rolle zu spielen.
Begründet wird dies damit, dass die völkerrechtliche Beurteilung des Handelns anderer Staaten wegen der strukturellen Besonderheiten des Völkerrechts von der Bandbreite der vertretbaren Rechtsauffassungen abhänge. Übersetzt bedeutet dies: Die Bundesrepublik soll den USA nicht in die völkerrechtliche Suppe spucken – schließlich stehe es den USA frei, eine entgegengesetzte Völkerrechtsauffassung zu vertreten. Dies mag grundsätzlich stimmen. Allerdings geht es gerade nicht nur um die Völkerrechtsauffassung eines anderen Staates, sondern um die völkerrechtliche Beurteilung seines Handelns im Lichte des territorialen Bezugs zur Bundesrepublik (Ramstein).
Hier weiß das BVerwG einen vermeintlichen Ausweg: So fehle es an dem erforderlichen qualifizierten Bezug zum deutschen Staatsgebiet, da sich die grundrechtsbeeinträchtigenden Handlungen der USA in einem rein technischen Übermittlungsvorgang ohne Entscheidungselemente erschöpften. Aber auch dies überzeugt nicht. Denn der qualifizierte Bezug ist dadurch gegeben, dass die Bundesrepublik die Air Base Ramstein den USA als Standort der Relaisstation zur Verfügung gestellt hat. Es ist auch kein Zufall, dass die USA die erforderliche Relaisstation gerade in Deutschland aufgestellt haben, sondern ein Produkt der geografischen Lage (die vergleichsweise Nähe zur arabischen Halbinsel und die Verbindung per Glasfaserkabel in die USA) und des Status der Bundesrepublik als politischer Bündnispartner.
Der angebliche Vorrang der Außenpolitik gegenüber implementiertem Völkerrecht
Auf den ersten Blick scheint es, als würde das BVerwG den Völkerrechtsauffassungen der USA Vorrang vor der territorialen Souveränität der Bundesrepublik einräumen. Dies täuscht: Schließlich ist es im außenpolitischen Interesse der Bundesregierung, keine diplomatischen Verstimmungen mit den USA zu riskieren. Entsprechend hat sie auch während des gesamten Verfahrens die Auffassung vertreten, die Drohnenangriffe der USA seien nicht völkerrechtswidrig. Wenn es also nicht um einen zwischenstaatlichen Konflikt geht, worum geht es dann?
Zunächst geht es um die kompetenzielle Frage, welche innerstaatliche Gewalt implementiertes Völkerrecht letztverbindlich auslegen soll. Hier reiht sich das BVerwG ein in eine altbekannte Rechtsprechungslinie, die auf den Heß-Beschluss des BVerfG zurückzuführen ist: Selbst, wenn Gerichte Völkerrechtsfragen grundsätzlich letztverbindlich beantworten dürften, ändere sich dies im außenpolitischen Kontext; insofern verbiete nämlich der außenpolitische Entscheidungsspielraum der Bundesregierung der Rechtsprechung eine strikte Kontrolle.
Begründet wird dies vor allem mit einem Argument, das sich als „Wahrung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit der Bundesregierung“ zusammenfassen lässt. Auch das BVerwG greift auf diese Erwägung zurück. So heißt es in der Pressemitteilung von Mittwoch:
„Weitergehende Schritte […] musste die Bundesregierung wegen der massiven nachteilhaften Auswirkungen für die außen-, bündnis- und verteidigungspolitischen Belange der Bundesrepublik Deutschland nicht in Betracht ziehen.“
Mit der Beantwortung dieser kompetenziellen Frage zugunsten der Bundesregierung geht noch eine weitere, grundlegendere Entscheidung einher: die Entscheidung, außenpolitischen Interessen gegenüber einer völkerrechtlichen Bindung der Bundesrepublik Vorrang einzuräumen, selbst wenn das Völkerrecht in die innerstaatliche Rechtsordnung implementiert worden ist.
Bunderegierung als Richterin in eigener Sache
Eine solche außenpolitische Vormachtstellung der Bundesregierung und der hiermit einhergehende bzw. hieraus folgende Vorrang der Außenpolitik lassen sich jedoch nur schwer rechtlich begründen. Weder sind sie ausdrücklich verfassungsrechtlich verankert, noch lassen sie sich aus dem Rechtsstaats- oder Demokratieprinzip ableiten.
Vor allem aber erscheinen sie aus Gründen der Gewaltenbalance mehr als zweifelhaft. Zum einen prägt die Bundesregierung die außenpolitische Agenda und personifiziert insofern die außenpolitischen Interessen. Zum anderen übernimmt sie völkerrechtliche Legislativfunktionen, indem sie völkerrechtliche Verträge mit anderen Staaten aushandelt und die für das Völkergewohnheitsrecht erforderlichen Staatenpraxis (zumindest aus deutscher Sicht) prägt. Gleichzeitig ist die parlamentarische Kontrolle der Bundesregierung bei diesem Handeln eingeschränkt. So kann der Bundestag bspw. die Implementierung bestimmter völkerrechtlichen Verträge lediglich verhindern (§ 59 Abs. 2 S. 1 GG); inhaltlich ändern kann er einen völkerrechtlichen Vertrag nicht. Die Verhinderung der Implementierung erscheint in einem parlamentarischen Regierungssystem außerdem eher unwahrscheinlich, da die parlamentarische Mehrheit die Regierung trägt. Schränkt man nun auch noch im außenpolitischen Kontext die judikative Kontrolle gubernativer Völkerrechtauffassungen ein, wird die Bundesregierung vollends zur Richterin in eigener Sache.
Die Vorstellung einer außenpolitischen Vormachtstellung der Gubernative basiert zudem auf einem überkommenen Verständnis der internationalen Sphäre als anarchischem und chaotischem Ort, in dem staatlicher Egoismus zum Schutz der jeweiligen Souveränität unabdingbar ist. Die Völkerrechtsordnung mag alles andere als perfekt sein. Allein ihre Existenz und Fortentwicklung sprechen jedoch gegen die Annahme einer chaotischen internationalen Sphäre. In letzter Konsequenz ist eine solche Entscheidung nur möglich, wenn man situationsbedingt die Rechtskraft völkerrechtlicher Normen negiert.
Eine politische Entscheidung gegen das Völkerrecht
Insofern ist die Entscheidung für oder gegen das Primat der Außenpolitik eine politische, aber keine rechtliche.
Vor allem im außenpolitischen Kontext wird oftmals vor der politischen Einmischung der Gerichte gewarnt. Dabei ist gerade die aktuelle Entscheidung des BVerwG politisch. Mit einer rechtlich fragwürdigen Begründung vermeidet das Gericht, in die Verlegenheit zu kommen, Völkerrecht entgegen den außenpolitischen Interessen der Bundesregierung durchsetzen zu müssen.
Dabei vergibt das Gericht die Chance, die innerstaatliche Bindung an das Völkerrecht zu stärken. Schließlich liegt es in der Hand der Rechtsprechung, ihre eigene Passivität in dieser Sache aufzugeben – eindrucksvolles Beispiel ist das nun hinfällige vorinstanzliche Urteil des OVG Münster. Indem es sich mit einer passiven Rolle begnügt, bedient das BVerwG nicht nur das Klischee vom Völkerecht als „zahnlosem Tiger“, sondern hat sich nebenbei auch selbst als solcher entlarvt.
Innerstaatlich bleibt den Kläger*innen nun nur noch die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG. In dieser Hinsicht besteht allerdings mit der Varvarin-Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2013 ein kleiner Lichtblick. Die Vorinstanz in dieser Sache hatte die dort zugrundeliegende völkerrechtliche Frage wegen eines vermeintlich bestehendem außenpolitischen Spielraum der Bundesregierung lediglich einer Willkürkontrolle entzogen. Auch wenn die Entscheidung der Vorinstanz aus anderen Gründen bestehen blieb, rügte das BVerfG, dass die völkerrechtliche Frage intensiver hätte geprüft werden müssen.
Dies ist die bislang letzte Befassung des BVerfG mit dieser Thematik. Insofern ist zu hoffen, dass Karlsruhe seine zaghaft angedeutete Rechtsprechungsänderung weiter vorantreiben wird und die den Gerichten obliegende völkerrechtliche Auslegungskompetenz auch im außenpolitischen Kontext wahrnimmt.