Back to Bush? Die US-Luftschläge in Syrien gegen die „Chorasan-Gruppe“ im Lichte vorbeugender Selbstverteidigung
Am Abend des 6. November 2014 verbreitete sich auf den ersten Blick eine weitere von vielen Meldungen aus dem Anti-Terror-Kampf in Syrien. „Mysteriöse Chorasan-Gruppe: USA bombardieren mutmaßliche Qaida-Zelle in Syrien“ hieß es etwa bei Spiegel Online. Inzwischen haben wir uns daran gewöhnt, über Militärschläge gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) und seine Sympathisanten in Syrien und im Nordirak zu lesen; allzu zahlreich sind die Mitteilungen aus dem aktuellen Brandherd im Nahen Osten, die im Einzelnen oft kaum gewürdigt werden. In der öffentlichen Debatte wird lieber das „große Ganze“ betrachtet. Aus weltanschaulicher oder ethischer Perspektive scheinen die Schläge gegen das Terrorregime des IS ein gerechtes Mittel, um die Zivilbevölkerung in den betroffenen Regionen zu schützen – und erst recht, um einen Völkermord an religiösen Minderheiten wie den Jesiden zu verhindern. Der Kampf gegen den IS ist ganz im Geiste des großen Rechtsgelehrten Hugo Grotius (1583 – 1645) ein bellum iustum par excellence. Dem weltpolitisch interessierten Zeitungsleser dürfte dies einleuchten – ganz gleich, ob als Ziel der Luftschläge der IS selbst oder die „mysteriöse Chorasan-Gruppe“ ausgemacht wird.
Allerdings ist der als gerecht empfundene Krieg in der heutigen Zeit nicht zwingend auch ein rechtmäßiger. Daher bemühen sich die Staaten stets, eine völkerrechtliche Rechtfertigung für bewaffnete Interventionen zu geben, die ihnen grundsätzlich wegen des global geltenden Gewaltverbots (verbrieft in Artikel 2 Ziffer 4 der UN-Charta) verwehrt sind. Gerade der Kampf gegen den IS und seine Splittergruppierungen ist völkerrechtlich vielschichtig. Eine einfache internationalrechtliche Schablone, die ihn plakativ als legal oder illegal kennzeichnet, gibt es nicht. Kritiker verweisen gleichwohl gern auf eine fehlende Billigung durch die Vereinten Nationen, während für Befürworter der Kampfeinsätze finden, dass die abstoßend-menschenfeindlichen Auswüchse des IS-Terrors schier unerträglich und deshalb mit allen Mitteln zu verhindern sind.
Doch so einfach macht es das Völkerrecht beiden Seiten nicht. Stattdessen ist eine differenzierte Betrachtung des diffusen Kampfgebiets geboten – auch wenn dies für so manchen pragmatischen Politiker unangenehm sein mag. Ein Mandat des UN-Sicherheitsrats existiert nicht, gewiss. Aber zumindest auf dem Gebiet des Irak handelt die Staatenkoalition auf Einladung der Regierung in Bagdad. Dieses völkerrechtliche Einverständnis legalisiert – ohne hier ins Detail gehen zu können – den Einsatz auf irakischem Territorium, und zwar gegen sämtliche Ableger des islamistischen Terrors.
Anders ist dies in Syrien. Hier möchte sich niemand auf ein mögliches Einverständnis der Regierung Assads berufen – dem Tyrann als Helfer beizustehen, passt den gerechten Kriegern verständlicherweise nicht ins Konzept. Doch glücklicherweise gibt es einen robusten Rechtfertigungsgrund zur Gewaltanwendung im Völkerrecht, nämlich das in Artikel 51 der UN-Charta verbriefte Recht auf Selbstverteidigung. Dieses existierte schon lange vor den Vereinten Nationen und reicht (mindestens) bis ins Jahr 1837 zurück, als britische Truppen zur Verteidigung der damaligen Kolonie Oberkanada das von Rebellen genutzte US-amerikanische Dampfschiff Caroline angriffen und in den Niagara-Fällen versenkten. In der völkerrechtlichen Aufarbeitung dieses Zwischenfalls hat sich die nach dem damaligen US-Außenminister Daniel Webster benannte Formel etabliert, wonach Selbstverteidigung rechtmäßig ist, um einen andernfalls zu erleidenden Angriff abzuwehren. Dies gelte stets, wenn sich die Situation als „instant, overwhelming, leaving no choice of means, and no moment for deliberation“ darstellt. Zumindest dieser Kern des Caroline-Zwischenfalls steckt auch heute noch in besagtem Artikel 51.
Eben dieses etablierte völkerrechtliche Institut der Selbstverteidigung führt uns vom Jahr 1837 ins Jahr 2014 – oder auch von den Niagara-Fällen ins syrische Krisengebiet. Der Kampf gegen den IS in Syrien ist einer, der als Ausübung von Selbstverteidigung charakterisiert werden kann. Die Einzelheiten dazu sind diffizil und völkerrechtlich durchweg umstritten, beispielsweise: Ist Selbstverteidigung auch gegen private Akteure wie den IS (der trotz seines anmaßenden Namens natürlich kein Staat ist) überhaupt zulässig? Dies wird man wohl bejahen müssen – zumal dies bereits 1837 anerkannt war. Wer soll gegen den IS verteidigt werden? Die USA und ihre Verbündeten selbst wohl nicht. In Betracht kommt aber – jeweils als sogenannte kollektive Selbstverteidigung – zum einen der Irak, der ja bereits IS-Angriffen auch von syrischem Gebiet ausgesetzt ist. Dies ließe sich gut vertreten. Zum anderen könnte aber auch die gepeinigte Zivilbevölkerung gemeint sein. Doch ist diese, weil sie kein Staat ist, überhaupt vom Selbstverteidigungsrecht begünstigt? Diese Frage führt unweigerlich zum nächsten, hochumstrittenen völkerrechtlichen Problemkreis, nämlich der Rechtmäßigkeit einer humanitären Intervention. Mit deren Aufarbeitung ließen sich ganze Monographien füllen.
Aus diesem Dickicht friedenssicherungsrechtlicher Fragestellungen sticht die Meldung über den Militärschlag gegen die „Chorasan-Gruppe“ hervor. Denn diese hat von Syrien aus nicht etwa irakisches Territorium ins Visier genommen. Stattdessen soll sie, so bereits am 23. September 2014 die US-amerikanische Botschafterin Samantha Power gegenüber dem UN-Sicherheitsrat, eine Bedrohung für die USA und ihre Verbündeten selbst sein. Ähnlich wurden die eingangs erwähnten Luftschläge gerechtfertigt: „Dieses Netzwerk plante Anschläge in Europa und den USA. Wir haben entschlossen gehandelt, um unsere Interessen zu schützen und ihre Handlungsfähigkeit zu beenden“ (zitiert nach Spiegel Online). Im Schatten des großen Konflikts gegen den IS geht diese vermeintliche Randnotiz leicht unter. Doch bei genauerem Hinsehen ist dies nicht eine Meldung von vielen, sondern eine, die aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Denn der Schlag gegen die „Chorasan-Gruppe“ war weder zur Verteidigung des Iraks noch zum Schutz der Zivilbevölkerung gedacht; sie galt dem Schutz der eigenen (und alliierten) Unversehrtheit. Da aber noch keine Anschläge der „Chorasan-Gruppe“ in der westlichen Welt zu verzeichnen sind (kaum jemand bei uns hat wohl überhaupt nur Kenntnis ihres Namens gehabt), kann der Militärschlag völkerrechtlich nur einer Fallgruppe sogenannter vorbeugender Selbstverteidigung zuzuordnen sein.
Es ist heute anerkannt, dass kein Staat einen Angriff abwarten muss, bis er sich militärisch verteidigen darf; auch insoweit lebt Caroline fort. Hoch umstritten ist aber, wie weit der drohende Angriff zeitlich in der Zukunft liegen und wie wahrscheinlich seine Manifestierung sein darf. Verwirrende, weil teils willkürliche, Klassifizierungen als z.B. „präventive“, „präemptive“ oder „antizipatorische“ Selbstverteidigung helfen zur Lösung des Problems nicht weiter. Die Auslegung von Artikel 51 UN-Charta sowie die einschlägige Staatenpraxis führt aber zu dem (hier verkürzten) Ergebnis, dass Selbstverteidigung auch vorbeugend legal ist, wenn bei ungehindertem Geschehensablauf entweder in naher Zukunft ein Angriff sicher eintritt oder jederzeit ein Angriff mit hinreichender Wahrscheinlichkeit stattfinden könnte. (Für Details sei an dieser Stelle auf meine Dissertation „Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht“ verwiesen.) Ganz sicher nicht mehr rechtmäßig ist jedenfalls eine als Verteidigung gedachte Gewalthandlung, wenn sie nur auf Grundlage einer latenten Gefahr erfolgt. Dies postulierte aber die sogenannte Bush-Doktrin, die der ehemalige US-Präsident George W. Bush in seiner Nationalen Sicherheitsstrategie 2002 bzw. 2006 durchzusetzen versuchte, damit aber am Widerstand der Staatenwelt scheiterte.
Nach dessen Amtszeit wurde Barack Obama allgemein als Antipode zu seinem Vorgänger wahrgenommen und formulierte konsequenterweise seine Sicherheitsstrategie anders. Inzwischen dürften sich jedoch die Zweifel an Obamas außenpolitischen Paradigmenwechsel verhärten. Der jüngste Schlag gegen die „Chorasan-Gruppe“ kann durchaus als Rückbesinnung zur Bush-Doktrin verstanden werden, wenn man die Aktivitäten dieser zweifellos islamistisch-terroristischen Zelle als bloß latente Gefahr versteht. Jedenfalls sind es die USA bislang schuldig geblieben, belastbares Beweismaterial für konkrete Angriffsvorbereitungen vorzulegen, die auf einen unmittelbar bevorstehenden Anschlag schließen lassen. Nach derzeitigem Kenntnisstand sprechen daher nicht die schlechtesten Gründe dafür, die Luftschläge gegen die „Chorasan-Gruppe“ als völkerrechtswidrig einzustufen. Ein solcher Befund mag auch die zurückhaltende Nachrichtenlage um diesen Militäreinsatz erklären. Versteht man nämlich dieses einzelne Manöver – wie in der Öffentlichkeit suggeriert werden mag – als bloßen Teil der Offensive gegen den IS, werden die USA wohl kaum auf Widerspruch stoßen. Ein völkerrechtlicher Protest gegen den als Selbstverteidigung deklarierten Schlag gegen die „Chorasan-Gruppe“ wäre ein politischer Verrat an der grotianisch-gerechten Sache. Wenn die Obama-Administration auf diese Weise wirklich eine Reanimation der Bush-Doktrin vollziehen wollte, ist ihr taktischer Winkelzug im Schatten der IS-Bekämpfung gelungen.
Bei aller Schwarzmalerei ist aber auch eine andere Interpretation des hier bemühten vorbeugenden Selbstverteidigungsrechts denkbar. In einer völkerrechtlichen Grauzone bewegt sich nämlich die Ansicht, dass militärische Gewalt auch früher als bei einem unmittelbar bevorstehenden Angriff legal sein soll. Dies gelte namentlich dann, wenn bei ungehindertem Geschehensablauf in absehbarer Zeit ein Angriff sicher eintreten würde, wobei der frühestmögliche Zeitpunkt eines darauf beruhenden Militärschlags in abgestuftem Verhältnis zu dem Schädigungsausmaß des abzuwehrenden Angriffs zu bestimmen ist. D.h. mit anderen Worten: Wenn sich die „Chorasan-Gruppe“ tatsächlich in der Vorbereitungsphase massiver Terroranschläge in Europa oder den USA befand, wäre, um eine Vorbereitungsfortsetzung, deren Ergebnis schwieriger zu bekämpfen wäre, zu verhindern, auch frühzeitig verteidigende Gewalt gerechtfertigt. Wenn also die USA sichere Kenntnis solcher Aktivitäten hatten und sich im Rahmen der IS-Bekämpfung die Gelegenheit ergab, diese möglichst effektiv und verhältnismäßig schonend zu unterbinden, wäre der Luftschlag ganz ohne Rekurs auf die viel offenere Bush-Doktrin zu rechtfertigen.
Ob die Obama-Administration aber „back to Bush“ strebt oder doch eher an der völkerrechtlichen Praxis zu einer moderateren Ausweitung des Rechts zu vorbeugender Selbstverteidigung interessiert ist, wird erst die Zukunft zeigen. Jedenfalls aber offenbart die Notiz zum Schlag gegen die „Chorasan-Gruppe“ bei näherem Hinsehen, dass 2014 – wie schon in den Folgejahren von 1837 – an der Konturierung eines etablierten Völkerrechtsinstituts geschliffen wird. Dies wird speziell in Syrien weiter zu beobachten sein.
Ich will ja ungern Verschwörungstheorien verbreiten, aber es gibt erhebliche Zweifel ob Chorasan überhaupt existiert. U.a. intercept.org (Greenwald und Co.) und National Review haben Artikel veröffentlicht, in denen vertreten wird, dass die Gruppe eine Erfindung ist und es hauptsächlich um die Eröffnung des Anwendungsbereiches des AUMF ging.