Bayern first, Deutschland second?
Zur Möglichkeit einer landesrechtlichen Impfpflicht gegen das Corona-Virus
Angesichts der vierten Welle werden die Forderungen nach einer allgemeinen Impfpflicht((Dabei wird vorliegend von einer Impfpflicht für Erwachsene und nicht für Kinder ausgegangen; zudem wird in diesem Beitrag nicht auf die Verhältnismäßigkeit oder Ausgestaltung einer solchen Impfpflicht eingegangen.)) gegen SARS-CoV-2 immer lauter. Viele Bundespolitiker:innen schließen eine solche aktuell (noch) aus, in Bayern hingegen ist man sich innerhalb Regierungskoalition und Opposition schon nahezu einig. Wieso also nicht eine allgemeine Impfpflicht auf Länderebene? Nicht zuletzt die großen Unterschiede hinsichtlich der Impfquoten zwischen den einzelnen Bundesländern legen das nahe, selbst wenn Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann die Verantwortung hierfür dem Bund zuweist. Kompetenzrechtlich wäre es jedenfalls möglich, und zwar grundsätzlich auch dann, wenn der Bund eine partielle Impfpflicht einführt.
Impfpflicht als Teil der konkurrierenden Gesetzgebung
Voraussetzung dafür ist zum einen, dass die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gegen SARS-CoV-2 nicht in die alleinige Gesetzgebungskompetenz des Bundes fällt, und zum anderen, dass die Ausübung der Gesetzgebungskompetenz für das Land nicht durch den Bund gesperrt ist.
Die Art. 70 ff. GG regeln die Gesetzgebung des Bundes und der Länder. Grundsätzlich haben die Länder gem. Art. 72 Abs. 1 GG die Gesetzgebungskompetenz, soweit das Grundgesetz selbst nicht dem Bund die Befugnisse verleiht. Eine allgemeine Impfpflicht bewegt sich zwischen zwei Kompetenztiteln der konkurrierenden Gesetzgebung: Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG (Sozialversicherung) und Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG (Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen).
Der Begriff der Sozialversicherung wird im Kontext der Nr. 12 weit verstanden (BVerfGE 75, 108 (146)). Er umfasst „alles, was sich der Sache nach als Sozialversicherung darstellt” (ebenda). Hierunter fällt etwa die Regelung von Ansprüchen gegen Sozialversicherungsträger, also die Frage, wer die Kosten für eine Impfung trägt. Der diesen Anspruch regelnde § 20i Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 2 Nr. 1a SGB V in Verbindung mit der entsprechenden Rechtsverordnung lässt sich daher auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stützen.
Gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten i. S. v. Nr. 19 meint u. a. alle Infektionskrankheiten (BVerwGE 33, 339 (341 ff.) = NJW 1970, 532 (533)). Davon erfasst sind nicht nur Maßnahmen der konkreten Bekämpfung einer Infektionskrankheit, sondern auch prophylaktische wie Schutzimpfungen (Kment, in Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 74 GG Rn. 49; Seiler, BeckOK GG, 1.8.2021, Art. 74 GG Rn. 70). Regelungen über eine Impfpflicht gegen SARS-CoV-2 fallen daher unter diesen Kompetenztitel.
Eine entsprechende Zuständigkeits- und Regelungsaufteilung findet sich auch bei der Masernimpfpflicht, die in § 20 Abs. 8 IfSG geregelt ist: Die Gesetzesbegründung ordnet sie dem Kompetenzkatalog von Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG zu, den entsprechenden Anspruch aus § 20i Abs. 1 S. 1 SGB V ordnet sie hingegen Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu (BT-Drs. 19/13452, S. 17).
Politische Diskussion ohne rechtliche Auswirkung
Eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz ermächtigt die Länder nur dann zu eigenen Regelungen, solange und soweit der Bund von seiner Zuständigkeit nicht Gebrauch gemacht hat (Art. 72 Abs. 1 GG). Dies ist stets dann der Fall, wenn ein Gesetz des Bundes eine Frage hinreichend erkennbar geregelt hat (BVerfGE 98, 265 (301)) oder wenn sich ableiten lässt, dass eine Thematik abschließend geregelt werden sollte (BVerfGE 102, 99 (115)). Dies kann auch durch einen „absichtsvollen Regelungsverzicht” (BVerfGE 98, 265 (300)) geschehen, also beispielsweise durch das bewusste Fehlen einer gesetzlichen Regelung zu einer allgemeinen Impfpflicht. Insbesondere die jüngsten Äußerungen einiger Bundespolitiker könnten den Anschein erwecken, es handle sich bei dem Fehlen einer entsprechenden Impfpflicht um absichtsvolles Unterlassen. Doch genügen Äußerungen im allgemeinen politischen Diskurs noch nicht, um den Willen des Gesetzgebers auszudrücken, da es sich hierbei eben nur um politische, nicht um gesetzgeberische Meinungen handelt. Entscheidend für ein Gebrauchmachen ist nämlich die Verabschiedung eines Gesetzes (Oeter, in von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 72 GG Rn. 54 m. w. N.).
Impfpflicht per Rechtsverordnung gem. § 20 Abs. 6, 7 IfSG
Ob der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz abschließend Gebrauch gemacht hat, ist durch Auslegung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung des Normenkomplexes zu ermitteln (vgl. BVerfGE 7, 342 (347)). Hierfür kommen zwei Ansatzpunkte in Betracht: Zum einen kann man die Diskussionen um die Corona-Schutzimpfungen im Bundestag analysieren, ob in diesen über eine Impfpflicht diskutiert und diese bewusst abgelehnt wurde und damit ein absichtsvoller Regelungsverzicht vorliegt.
Im Rahmen von Schutzimpfungen gegen SARS-CoV-2 wurde (bislang) keine Debatte über eine allgemeine Impfpflicht im Bundestag geführt. Sämtliche Statements haben Politiker:innen lediglich in Interviews oder Talkshows außerhalb des Bundestags abgegeben.
Zum anderen bildet § 20 Abs. 6 IfSG einen zweiten Ansatzpunkt, denn die Vorschrift enthält bereits eine allgemeine Verordnungsermächtigung an das Bundesgesundheitsministerium zur Einführung von Impfpflichten. Diese Ermächtigung könnte ebenfalls ein Gebrauchmachen darstellen. Gem. § 20 Abs. 6 S. 1 IfSG wird das Bundesministerium für Gesundheit ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates anzuordnen, dass bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen teilzunehmen haben, wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist.
Auswirkung einer Verordnungsermächtigung
Ob schon eine Verordnungsermächtigung an die Bundesexekutive eine abschließende Regelung darstellt, ist für die Frage des Gebrauchmachens umstritten (vgl. Oeter, in von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 72 GG Rn. 55 m. w. N.). Im Fall von § 20 Abs. 6 S. 1 IfSG würden mit der Verordnung sowohl Schutzimpfung als auch der im Einzelfall der konkreten Krankheit medizinisch-epidemiologisch zu bestimmende (Gerhardt, IfSG, 5. Aufl. 2021, § 20 IfSG Rn. 28) „bedrohte Teil der Bevölkerung“ festgelegt werden (das Vorliegen ist auch wegen des Parlamentsvorbehalts umstritten, vgl. Gebhard, in Kießling, IfSG 2. Aufl. 2021, § 20 IfSG Rn. 29 m. w. N.; a. A. Rixen, in Huster/Kingreen, HB Infektionsschutzrecht, 2021, § 5 Rn. 25). Daher wird man in diesem Fall nicht von einem abschließenden Gebrauchmachen ausgehen können, da erst mit dem Erlass der Verordnung die konkrete Rechts- bzw. Impfpflicht bestimmt wird (vgl. Jarass, NVwZ 1996, 1041 (1046)). Zudem findet sich in § 20 Abs. 7 IfSG eine weitere Verordnungsermächtigung, nach der die Landesregierungen zum Erlass einer Rechtsverordnung nach Absatz 6 ermächtigt sind, solange das Bundesministerium für Gesundheit noch nicht von seiner Ermächtigung Gebrauch gemacht hat.
Da das Bundesgesundheitsministerium bisher noch nicht von seiner Verordnungsermächtigung Gebrauch gemacht hat und die Tatbestandsvoraussetzungen von Abs. 6 vorliegen, könnten also die Länder mit einer allgemeinen Impfpflicht sogar per Rechtsverordnung voranschreiten.
Gebrauchmachen bei Erlass einer partiellen Impfpflicht durch den Bund
Spannend und kompliziert wird es, wenn die Bundesregierung, wie nun angekündigt, eine partielle Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen einführt.
Dann stellt sich die Frage, ob eine Regelung über eine partielle Impfpflicht eine Sperrwirkung für die Landesgesetzgebung entfaltet. Dafür müsste der Bundesgesetzgeber eine erschöpfende Regelung erlassen (vgl. Degenhart, in Sachs, GG, 9. Auflage 2021, Art. 72, Rn. 25). Eine solche kann jedoch noch nicht allein deshalb angenommen werden, weil die jeweilige Thematik durch das Bundesgesetz – hier die partielle Impfpflicht – kodifiziert wurde; es können nämlich immer noch Bereiche übrigbleiben, deren Regelung offengeblieben ist (BVerfGE 56, 110 (119)) – hier die allgemeine Impfpflicht.
Bei der Einführung einer partiellen Impfpflicht ist zwischen zwei verschiedenen Szenarien zu unterscheiden: die partielle Impfpflicht durch Bundesgesetz und die partielle Impfpflicht durch Rechtsverordnung basierend auf § 20 Abs. 6 S. 1 IfSG.
Handeln des Bundes durch Gesetz
Erlässt der Bund ein Gesetz, das eine partielle Impfpflicht vorsieht, so hat der Bundesgesetzgeber zwar eine Regelung i. S. v. Art. 72 Abs. 1 GG getroffen, jedoch bleiben Bereiche übrig, deren Regelung weiter offen ist (soweit). Theoretisch ist ein Landesgesetz zu einer Impfpflicht für alle Personen, die noch nicht von der partiellen Impfpflicht erfasst sind, dann also möglich. Jedoch ist auch hier – je nach Gesetzesbegründung und Debatte im Bundestag – zu bedenken, dass es sich um einen absichtsvollen Regelungsverzicht handeln könnte, was wiederum eine landesrechtliche Regelung unmöglich machen würde. Die aktuell geführte politische Diskussion scheint aber im Hinblick auf eine allgemeine Impfpflicht noch nicht abgeschlossen. Das spricht eher dafür, dass dieses Thema noch nicht erschöpfend geregelt werden soll.
Handeln des Bundes durch Rechtsverordnung
Problematischer ist die Situation, in der der Bund durch Rechtsverordnung nach § 20 Abs. 6 S. 1 IfSG eine partielle Impfpflicht festsetzt. Eindeutig ist dann, dass die Verordnungsermächtigung für die Länder nach § 20 Abs. 7 IfSG von der Rechtsverordnung des Bundes gesperrt wäre. § 20 Abs. 6, 7 IfSG regelt das Verhältnis zwischen Bundesgesundheitsministerium und Landesregierung als Erstdelegatare mit der Folge, dass das Bundesgesundheitsministerium stets Vorrang hat (vgl. Lutz, IfSG, 2. Auflage 2020, § 20, Rn. 1; a. A. Gebhard, in Kießling, IfSG, 2. Auflage 2021, § 20 Rn. 26). Dies bezieht sich jedoch nur auf den Erlass einer Regelung durch Rechtsverordnung. Erlässt das Bundesgesundheitsministerium also eine Rechtsverordnung mit einer auch nur partiellen Impfpflicht, dann scheidet eine landesrechtliche Impfpflicht durch Rechtsverordnung gem. § 20 Abs. 7 IfSG danach aus.
Ob jedoch ein Landesgesetz weiter möglich wäre, ist unklar. Die kompetenzrechtliche Verfassungsmäßigkeit eines Landesgesetzes richtet sich einzig nach Art. 72 Abs. 1 GG, sodass erneut die Frage gestellt werden muss, ob die Rechtsverordnung des Bundesgesundheitsministeriums abschließend ist. Entscheidend ist dabei die jeweilige Verordnungsbegründung.
Daraus folgt, dass der Erlass eines Bundesgesetzes zu einer partiellen Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen die Landesgesetzgebung nicht sperren würde. Eine landesweite allgemeine Impfpflicht für alle noch nicht von der Rechtsverordnung erfassten Personen kann also möglich sein – zumindest wenn die Gesetzesbegründung nicht für einen absichtlichen Regelungsverzicht spricht.
Handeln statt fordern
Die Länder könnten nach aktueller Rechtslage also eine allgemeine Impfpflicht für alle im jeweiligen Bundesland ansässigen erwachsenen Personen einführen. Wahrscheinlich wäre sie den Ländern auch dann nicht zwingend verwehrt, wenn der Bund eine partielle Impfpflicht verabschieden würde. Statt nur eine Impfpflicht zu fordern, könnte Ministerpräsident Söder sie bereits jetzt einführen. Der bayerische Ministerpräsident könnte so wieder seine so gerne inszenierte Führungsrolle in der Pandemiebekämpfung „einnehmen“ und andere in Zugzwang bringen.
Die Autorinnen danken Christian Rambach für wertvolle Hinweise sowie Prof. Dr. Thorsten Kingreen und Anna Rambach für engagierte Diskussion.