Befangen?
Zur Ablehnung der Bundesverfassungsrichterin Astrid Wallrabenstein im PSPP-Verfahren
Verfahrensbeteiligte im Gerichtsprozess können eine Richterin wegen der Besorgnis der Befangenheit ablehnen. Dieses Institut dient dazu, innerhalb eines gerichtlichen Verfahrens Zweifel an der Unvoreingenommenheit des erkennenden Gerichts artikulierbar zu machen. Gestützt werden kann die Ablehnung nach der Formulierung der Prozessordnungen auf Gründe, die geeignet sind, “Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen” (§ 42 ZPO, § 54 Abs. 1 VwGO, § 24 Abs. 2 StPO). Dass Richterinnen eine Auffassung haben, ist selbstverständlich, es darf aber nicht der “böse Schein” entstehen, ein Richter könne in der Urteilsfindung ganz unabhängig von allem rechtlichen und tatsächlichen Vorbringen der Parteien schon festgelegt sein. Ob auch Meinungsäußerungen von Richtern zu entscheidungserheblichen Rechtsfragen in juristischer Literatur oder in der Öffentlichkeit die Besorgnis der Befangenheit begründen, ist dabei seit längerer Zeit umstritten. Die von der richterlichen Zurückhaltung diktierten Grenzen zwischen akademischer Betätigung und politischem Engagement sind fließend.
Anerkannt ist aber auch, dass für die Richterinnen des Bundesverfassungsgerichts gerade in dieser Hinsicht nicht dieselben Maßstäbe gelten können wie für die der Fachgerichte. Deswegen erklärt § 18 Abs. 3 BVerfGG die vorherige Mitwirkung an Gesetzgebungsverfahren sowie wissenschaftliche Äußerungen ausdrücklich für irrelevant. Anderenfalls wären Politiker und politische Professorinnen nach ihrer Wahl an das Verfassungsgericht auf Jahre hinaus kaum arbeitsfähig. Das demokratische Mandat von Bundestag und Bundesrat, auf die weitere Entwicklung der Rechtsprechung gerade auch durch die Wahl von Personen Einfluss zu nehmen, die sich zu ihr prononciert verhalten haben, wäre empfindlich in Frage gestellt. Und überhaupt ist Verfassungsrecht politisches Recht, seine “Klärung und Fortbildung” nicht immer leicht von politischen Vorverständnissen zu trennen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Befangenheitsgründe daher mit Recht bisher äußerst restriktiv gehandhabt, etwa im Falle des Bundesverfassungsrichters Peter M. Huber im NPD-Verbotsverfahren oder im Fall des damaligen Vizepräsidenten Stephan Harbarth wegen seiner parlamentarischen Mitwirkung am Gesetz gegen Kinderehen.
Umso mehr Anlass zu Nachfragen gibt der Beschluss des Zweiten Senats vom 12. Januar, den das Gericht inzwischen nach einem Bericht der F.A.Z. veröffentlicht hat. Danach ist die Richterin Astrid Wallrabenstein von der weiteren Mitwirkung an dem PSPP-Verfahren ausgeschlossen, in dem der Beschwerdeführer Peter Gauweiler inzwischen versucht, das Gericht zum Erlass einer Vollstreckungsanordnung zu veranlassen. Diese Möglichkeit der Fortführung des Verfahrens besteht, weil das BVerfG seit jeher im Widerspruch zum Wortlaut des § 35 BVerfGG davon ausgeht, Vollstreckungsanordnungen auch nach der eigenen Sachentscheidung und damit nach dem Ende seiner Zuständigkeit in einem weiteren, selbständigen Beschluss treffen zu können. Das Gericht behandelt die Vollstreckungsanordnung als neuen Verfahrensschritt, der noch immer unter dem alten Aktenzeichen geführt wird. § 15 Abs. 3 BVerfGG, wonach ein nach Beginn der Beratungen in den Senat eintretender Richter schon aus diesem Grunde am Verfahren nicht mitwirken darf, gilt in diesem Fall daher nicht. In der Sache geht es bei diesem Wiederaufgreifen des Verfahrens darum, ob die Bedingungen eingetreten sind, unter denen das BVerfG der Bundesbank im viel diskutierten PSPP-Endurteil vom Mai 2020 der EZB erlaubt hatte, an den Anleihekäufen weiter mitzuwirken, bzw. ob Bundesregierung und Bundestag den Pflichten zur “Einwirkung” auf die EZB hinreichend nachgekommen sind, die ihnen das Gericht aufgegeben hatte. Der Zweite Senat bindet auf diese Weise eine im Juni 2020 – also wenige Wochen nach dem PSPP-Urteil vom 5. Mai – gewählte Richterin in sehr extensiver Weise an die bisherigen Rechtsauffassungen des Senats. Das wirft schwierige verfassungsprozessuale Fragen auf.
Die neue Kollegin
Die Richterin Wallrabenstein war vor ihrem Amtsantritt nicht in anderer Eigenschaft mit dem Streitfall befasst, hatte sich politisch zu den Anleihekäufen nicht geäußert und auch keine unvorsichtige Bewertung verfahrenserheblicher Tatsachen entlocken lassen. Es ging alleine um ihre Äußerungen in einem Interview mit der F.A.S. zum damals wie heute schwelenden Konflikt um die rechtlichen und institutionellen Folgerungen aus dem PSPP-Urteil, Äußerungen, die im jetzigen Beschluss nachzulesen sind. Es sei, so bemerkte sie in dem Interview, das ihr der Senat nun vorhält, vielleicht letztlich nicht so wichtig, ob der EZB-Rat durch Beschluss neu entscheide, solange die EZB sich in der Sache noch einmal ernsthaft mit den Einwänden gegen das PSPP-Programm befasse.
Nun sind solche Interviews frisch gekürter Richter ein seltsames Genre, bei dem man sich mitunter etwas mehr Skepsis gegenüber dem medialen Interesse an der eigenen Person wünschen würde. Auch sonst mutet vieles an den Hintergründen des Beschlusses schon äußerlich seltsam an. Seit Jahren geben manche Richter des Zweiten Senats freimütig Interviews zur Rechtsprechung ihres Senats und zum richtigen und falschen Umgang mit ihr. So hat sich besonders der Berichterstatter des Urteils und auch des Beschlusses, Peter M. Huber, in vielen Interviews – etwa mit der Süddeutschen Zeitung – nicht nur in den engen Grenzen verfassungsgerichtlicher Exegese geäußert.
Neben feinsinnig diplomatischen Empfehlungen an die EZB, sie solle sich nicht als “Master of the Universe” betrachten, findet man auch öffentliche Überlegungen speziell zu den Vollstreckungsmodalitäten des PSPP-Urteils. In einem Webinar der grünen Europagruppe am 18. Juni 2020, bis heute bei Youtube archiviert, skizzierte der frühere Generalanwalt Miguel Maduro eine Lösung, wonach die Bundesbank sowie das Europäische Parlament von der EZB jeweils im Rahmen ihrer Möglichkeiten zusätzliche Informationen erbitten sollten. Huber antwortete darauf: „Was den konkreten Fall angeht, sehe ich das ähnlich wie Herr Maduro. Ich glaube, das ist ein relativ naheliegender Ausweg. Wenn ich Frau Lagarde richtig verstanden habe auf ihrer Pressekonferenz letzte Woche, deutet sich da auch was in diese Richtung an.”
Auch er stellte also, und zwar drei Tage vor dem Wallrabenstein-Interview, jene Möglichkeit einer Beilegung des Konflikts ohne neuerliche Entscheidung des EZB-Rates in den Raum, die jetzt Astrid Wallrabensteins Befangenheit begründen soll. Auch wenn es darauf rechtlich nicht ankommt, mutet all dies schon deswegen bedenklich an, weil hier einer Richterin, und zumal in einem ihrer ersten großen Verfahren, offenbar nicht dieselbe Redefreiheit zugestanden wird, die die führenden Richter des Senats selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen.
Die schweigende Minderheit …
Der Beschluss vom 12. Januar endet mit der lakonischen Mitteilung, dass er “mit Gegenstimmen ergangen” sei (Rn. 39). Das ist ungewöhnlich, da das Gericht zur Mitteilung von Stimmenverhältnissen nicht verpflichtet ist (§ 30 Abs. 2 S. 2 BVerfGG), sie im Falle der Offenlegung aber in der Regel auch benennt. Welche Gründe die Überstimmten bewogen haben, ihre Auffassung nicht in einer abweichenden Meinung nach außen zu tragen, lässt sich nur mutmaßen. Aufwand und Kollegialität mögen wie in jedem anderen Fall darunter gewesen sein. Immerhin: Die rechtlich nicht gebotene Mitteilung der Zahl von Gegenstimmen, deren Gründe man nicht erfährt, ist nur dann eine erfolgreiche Kommunikationsstrategie, wenn die Botschaft der Minderheit gerade darin bestehen soll, dass man sich ihre Gründe denken kann.
Gleichwohl liegt der Fall hier anders als bei einem Senatsurteil. Nicht umsonst gibt es zu der Formulierung “Die Entscheidung ist mit Gegenstimmen ergangen” nur einen einzigen Parallelfall, und zwar ebenfalls eine Befangenheitsentscheidung. Der Erste Senat hat Ende 2019 in seinem schon erwähnten Beschluss über die Ablehnung Harbarths nur die Existenz, nicht aber die Zahl von Gegenstimmen mitgeteilt. Der Ablehnungsantrag blieb damals freilich erfolglos. Im Fall der begründeten Ablehnung wirft die Mitteilung ohne Angabe des Stimmverhältnisses schwerwiegende Fragen auf, die sich hier wohl zum ersten Mal überhaupt stellen. Warum? § 19 Abs. 1 S. 1 BVerfGG sieht vor, dass ein Senat über Befangenheitsanträge oder die Selbstablehnung von Richtern unter Ausschluss des Abgelehnten entscheidet, und zwar mit einfacher Mehrheit (§ 15 Abs. 3 S. 2 BVerfGG). Deswegen sind zu einer erfolgreichen Richterablehnung nicht fünf, sondern lediglich vier Ja-Stimmen erforderlich. Die Formulierung “mit Gegenstimmen” lässt nur zwei Mehrheitsvarianten zu: Es kann sich entweder um eine Entscheidung mit 4 : 3 oder mit 5 : 2 Stimmen gehandelt haben.
Für den Erfolg des Ablehnungsantrags ist der Unterschied ohne Bedeutung. Doch nur wenn die Entscheidung mit drei Gegenstimmen getroffen wurde, hatte der Senat allen Grund, die genaue Zahl offen zu lassen. Umgekehrt hätte bei nur zwei Gegenstimmen alles dafür gesprochen, genau das mitzuteilen, um eine höchst bedenkliche Lesart zu vermeiden. Schließlich ist die Zahl drei in der Rechtsprechung des BVerfG zum Integrationsverfassungsrecht keine beliebige. Vor einem Jahr hat das BVerfG das Gesetz zu dem Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht für nichtig erklärt, und zwar mit einer Mehrheit von 5 : 3 Stimmen. Seither war die Rede von einer strukturellen integrationsskeptischen 5 : 3 Mehrheit im Zweiten Senat, mag es ihr auch gelungen sein, zwei der Dissenter im PSPP-Urteil vom Mai 2020 noch einmal auf ihre Seite zu ziehen. Der Befangenheitsantrag war nun nicht gegen irgendein Mitglied des Senats gerichtet, sondern gegen eine neue Richterin, die bislang nicht für eine integrationsskeptische Lesart des Grundgesetzes bekannt geworden ist.
Hier stellt sich das folgende Problem: Eine wortlautgetreue Anwendung des Gesetzes würde es im Falle eines Patts im Senat einer Seite theoretisch ermöglichen, den Ablehnungsantrag zu nutzen, um mit der modifizierten Mehrheit des § 19 Abs. 1 BVerfGG das Patt aufzubrechen, weil die betroffene Richterin nicht mitentscheidet. Zwar können die dann verbliebenen Sieben die Sache nicht einfach alleine durchentscheiden, weil ihnen nach § 19 Abs. 4 S. 1 BVerfGG in diesem Fall ein Mitglied des anderen Senats zugelost wird. Gleichwohl mag es die Mehrheit auf ihr Losglück ankommen lassen oder darauf vertrauen, dass ein senatsfremder Richter schon mangels Einbindung in die kollegiale Solidarität des Senats und die Vertrautheit mit der dortigen Beratungskultur keine entscheidende Rolle spielen wird.
Obwohl also das BVerfG nicht verpflichtet ist, Stimmenverhältnisse mitzuteilen, wäre es in diesem Fall doch im Sinne rechtstaatlicher Transparenz sehr wünschenswert gewesen, um Spekulationen um ein solches Szenario vorzubeugen, das mit der Entscheidung über die Befangenheit nicht nur die Entscheidung über die Sache vorweggenommen hätte, sondern durch einen legalen Coup gegen eine abweichende Meinung auch die Reputation des Gerichts erheblich beschädigen könnte. Dies gilt in diesem Fall umso mehr, als es im Verfahren der Verfassungsbeschwerde keine Antragsgegner und damit strukturell überhaupt nur eine Seite gibt, die Ablehnungsanträge stellen kann.
… und die Begründung der Mehrheit
In der Sache stützt das Gericht seine Überzeugung, dass der Antragsteller Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit Astrid Wallrabensteins hegen durfte, im Wesentlichen auf zwei Erwägungen.
Das Interview lasse, erstens, den Eindruck entstehen, dass sie, Wallrabenstein, möglicherweise das Urteil des Senats aus dem Mai ignorieren könnte. Sie habe zu erkennen gegeben, “dass sie dem Wortlaut des Urteils keine entscheidende Bedeutung” beimesse. Wodurch? Zum einen durch erklärtes Nichtwissen. Im Interview hatte sie erklärt: “Ich weiß nicht, ob es letztlich so wichtig ist, dass die verlangte Erklärung der EZB in einem neuen Beschluss des Rates ergeht”. Das hatte das Urteil zwar im Tenor ebenfalls nicht verlangt, aber in Rn. 235 erwähnt. Zum anderen durch eine spekulative Überlegung, die das Interview nur in indirekter Rede wiedergibt: “Vielleicht habe der Zweite Senat nur sichergehen wollen, dass die Bank sich noch einmal ernsthaft mit den Folgen ihres Anleiheprogramms befasse und ein Minimum an formeller Eindeutigkeit gewährleistet werde. Die ‚technische Form‘ sei vielleicht nicht so wichtig”. Aus beidem, Nichtwissen und Spekulation, ergab sich für die Mehrheit der böse Schein mangelnder Rechtstreue. Man dürfe objektiv befürchten, dass Wallrabenstein das Urteil nicht nur für falsch halte, sondern eine “vollständige Umsetzung – gerade auch im Wege des Erlasses einer Vollstreckungsanordnung – […] von vornherein ablehne”.
Den zweiten Befangenheitsgrund sieht die Mehrheit in einer Verwechslung von Recht und Politik. Man könne das Interview so verstehen, dass Wallrabenstein “das (politische oder institutionelle) ‘Interesse des Gerichts’ über die korrekte Rechtsanwendung” stellen “könnte”. Das freilich wäre selbst bei einem Verfahren, das durch den Beschwerdeführer Gauweiler allein aus politischen Gründen betrieben wird, in der Tat ein fataler Eindruck. Die doppelt vermittelte Möglichkeit des Kategorienirrtums ergibt sich für die Mehrheit aus zwei (wiederum nur indirekt wiedergegebenen) Äußerungen Wallrabensteins. „Es sei halt wie im richtigen Leben: ‚Wenn man sich streitet, sollte man ja auch irgendwann Entschuldigung sagen und Schwamm drüber, lasst uns nach vorne blicken’”. Neben dieser Hoffnung, dass sich im Kooperationsverhältnis mit dem EuGH „irgendwann” wieder ein kooperatives Verhältnis einstellen könnte, stütze sich die Mehrheit auf folgenden hypothetischen Konditionalsatz: „Wenn Politik, Bundesbank und EZB ‚in die richtige Richtung‘ gingen, könnte es im Interesse des Gerichts liegen zu sagen: ‚Das ist schon in Ordnung. Wir sehen, dass unsere Forderungen ernst genommen werden’”. Was man naheliegender Weise eigentlich so übersetzen könnte: Wenn die Verpflichtungsadressaten den Tenor beachten, hat sich das Problem erledigt. In diesem Falle bedürfte es einer Vollstreckungsanordnung überhaupt nicht mehr, so dass Wallrabenstein theoretisch allenfalls bei einer Kostenentscheidung noch politischen Erwägungen vor rechtlichen Gründen den Vorzug geben könnte, auch wenn sie das nie gesagt hatte. Die Mehrheit verstand es anders und stellte fest, der Antragssteller habe dem Gesamtkontext der Äußerungen bei einer „Gesamtbetrachtung zumindest eine gewisse Tendenz im Hinblick auf die Beurteilung” seines Vollstreckungsantrags entnehmen dürfen.
Befangenheit und ihre Gründe
Es ist wichtig, noch einmal an den rechtlichen Maßstab der Befangenheitsprüfung zu erinnern. Sie dient nicht der Durchsetzung eines berufsethischen Verhaltenskodex, sondern der Entscheidung über Mitwirkung an oder Ausschluss von einem gerichtlichen Verfahren. Verfassungsrechtlich ist die Befangenheitsprüfung am Recht auf den gesetzlichen Richter zu messen, das einen allzu freihändigen Ausschluss unliebsamer Kolleginnen verbietet. Es ist eine noble Forderung, dass Richterinnen nur durch ihre Urteile sprechen sollten. Vielleicht ist sie nicht einmal ganz richtig. Ein rechtlicher Maßstab ist sie jedenfalls nicht. Es kommt, wie das Gericht selbst festhält, letztlich darauf an, „ob ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände (objektiv) Anlass dazu hat, an der Unvoreingenommenheit” einer Richterin zu zweifeln.
Unvoreingenommenheit ist indes nicht dasselbe wie rechtliche Unbeschriebenheit. Nicht voreingenommen zu sein, erfordert weder Meinungslosigkeit noch sybillinisches Schweigen. Entscheidend ist allein, ob bei den Verfahrensbeteiligten der Eindruck entsteht, dass Richter von ihrer eigenen Rechtsauffassung derart eingenommen sind, dass es dabei auch bleiben wird, ganz gleich, wie gut die Argumente sein mögen, die die Verfahrensbeteiligten oder ihre Kolleginnen im Spruchkörper auch vorbringen.
Der BGH hat diesen Zusammenhang im für Befangenheitsfragen besonders sensiblen Strafprozessrecht früh so formuliert, dass ein Richter nicht den Eindruck erwecken dürfe, eine innere Haltung einzunehmen, die seine Unparteilichkeit störend beeinflussen könne (BGHSt 1, 34). Nicht dass Rechtsauffassungen erst im Verfahren entstehen, verlangt das Prozessrecht, sondern dass richterliche Überzeugung sich am Ende allein durch das Verfahren bildet. Zwischen Auffassung und Überzeugung aber liegt nicht nur das, was man mit einer abgedroschenen Formel Legitimation durch Verfahren nennt, sondern die eigentliche Bürde des Richterberufs. Auf die Offenheit für Einwände und neue rechtliche Argumente kommt es dabei an. Darin liegt ohnehin die ungleich größere charakterliche Anforderung. Auch wer sich nie äußert, kann doch immer schon entschieden haben.
Worin besteht also das rechtsstaatliche Übel der Befangenheit? Wohl nicht in publizistischem Geschick und Ungeschick oder in der voreiligen Einschätzungen abstrakter Rechtsfragen, sondern im fatalen Anschein innerer Verhärtung gegenüber den konkreten Verfahren und Begründungspraktiken, auf die sich richterliche Macht am Ende allein gründen kann. Maßgeblich ist deswegen nicht, ob sich Richterinnen in bestimmten Rechtsfragen schon eine Auffassung gebildet haben. Das Prozessrecht verlangt an vielen Stellen sogar, dass Richter sich vorläufig eine Rechtsauffassung bilden, wenn sie in den Sach- und Streitstand einführen, Hinweise erteilen oder über die Erheblichkeit von Tatsachenbehauptungen entscheiden sollen. Rechtliche Vorüberlegungen sind daher in aller Regel ebenso wenig ein Befangenheitsgrund wie die rechtliche Vorbefassung. Anders ist es nur dann, wenn Richterinnen im Rechtsmittel über ihre eigenen Urteile befinden müssten. Hier ist es in der Tat naheliegend, dass sie davon so schnell nicht abrücken könnten, selbst wenn sie im Unrecht sind.
Woher ein solcher Eindruck aber im Fall Wallrabensteins rühren könnte, bleibt im Beschluss erstaunlich unklar. Er legt zwar ausführlich dar, dass Wallrabenstein möglicherweise eine Meinung zum PSPP-Urteil, den Motiven des Senats und zu den institutionellen Interessen des Gerichts haben könnte, die sie vielleicht besser für sich behalten hätte. Darauf kommt es indes nicht an. Auch nicht, ob diese Auffassungen, wie die Mehrheit annimmt, rechtlich zweifehlhaft sind. Zu Recht gehen die Fachgerichte in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass das Institut der Richterablehnung keinen Schutz gegen vermeintlich falsche Rechtsauffassungen vermitteln soll. In diesem Fall sehr vorsichtige Auffassungen, die ihre Vorläufigkeit mehr als einmal deutlich zum Ausdruck bringen: Wer „ich weiß nicht”, „könnte” und „vielleicht” sagt, hat kaum zu erkennen gegeben, dass man ihm vom Gegenteil nicht mehr überzeugen kann, zumal das Verfahren nicht einmal begonnen hatte, sondern nur „evident im Raum stand”.
Zu zeigen, dass und wie Wallrabenstein objektiv einen Eindruck der Voreingenommenheit (und nicht nur der plaudernden Vorüberlegung) erweckt hat, wäre die handwerkliche Aufgabe einer guten richterlichen Subsumption gewesen. Der begründungslose Kurzschluss von der Äußerung einer Meinung auf ihre Unverrückbarkeit sagt wohl letztlich mehr über das richterliche Ethos der Mehrheit als über Wallrabenstein. Dass sich Richterinnen zu allerhand rechtlichen Fragen und auch zu den institutionellen Interessen des Gerichts schon einmal Gedanken gemacht haben, rechtfertigt allein kaum den Ausschluss vom Verfahren.
Die Rechtskraft des Senates
Steht die Begründung, auf die sich die Besorgnis der Befangenheit stützt, schon in tatsächlicher Hinsicht auf wackligen Füßen, stellen sich mit Blick auf die beiden tragenden Erwägungen des Gerichts eine Reihe interessanter und schwieriger Rechtsfragen, die der Beschluss nicht thematisiert. Warum genau gerät Wallrabenstein in den befangenheitsbegründenden Verdacht mangelnder Rechtstreue, wenn sie sagt, sie wisse nicht, ob das Urteil einen Beschluss der EZB verlange?
Ganz davon abgesehen, dass sie sich vielleicht in diesem Moment wirklich noch keine Meinung gebildet hatte: Der Tenor des Urteils enthält keinen solchen Rechtssatz. Die unbestimmte Verpflichtung von Bundesregierung und Bundestag, “auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Europäische Zentralbank hinzuwirken”, findet sich nur im Leitsatz Nr. 9, die Unterlassenspflicht der Bundesbank wird in Nr. 10 ausgesprochen, die wiederum auf die Begründung in Rn. 232 und 234 verweisen. An beiden Stellen steht allerdings nichts über einen Beschluss des Rates, der erst in Rn. 235 als auflösende Bedingung für die Unterlassungspflicht der Bundesbank erwähnt wird.
Was hat das mit der Befangenheit zu tun? Wallrabenstein ist gewiss an die Rechtskraft des Urteils gebunden – was sie im Interview auch mit keiner Silbe in Zweifel gezogen hat. Rechtskraft hat indes nach allgemeinen Grundsätzen allein der Tenor eines Urteils, zu dessen Auslegung auf die tragenden Gründe zurückgegriffen werden kann. Zwar kennt das Prozessrecht auch weitergehende Formen der Selbstbindung eines Gerichts. Die Mehrheit gibt jedoch nicht zu erkennen, woraus und in welchem Umfang sich eine solche Bindung hier ergeben soll. Das prozessuale Verhältnis zwischen einer nachfolgenden Vollstreckungsanordnung, die § 35 BVerfGG im Wortlaut gar nicht vorsieht, und einem Urteil, das eine auflösend bedingte Unterlassungspflicht ausspricht, ohne sie zu tenorieren, dürfte alles andere als klar sein. Der Beschluss geht dagegen offenbar nicht nur davon aus, dass das Urteil mitsamt der vollständigen Begründung eine Bindungswirkung entfaltet, die sich ungeachtet des tradierten Auslegungskanons „entscheidend” nach dem Wortlaut bestimmt. Vor allem stützt die Mehrheit die Besorgnis der Befangenheit auf den möglicherweise entstandenen Eindruck, dass Wallrabenstein „andere Maßstäbe anlegen wolle, als es der Senat getan hat” (Rn. 37).
Mit dem Satz droht der Senat die Grenze zwischen der Verbindlichkeit einer Entscheidung und der Inanspruchnahme einer persönlichen Loyalität neu eintretender Richter zu überschreiten. Maßgeblich für die Bindungswirkung kann von Rechts wegen nur der Rechtsakt des Urteils sein, nicht die ihn motivierende Rechtsauffassung des Senats, d. h. der konkreten Personen, die seine damalige oder heutige Mehrheit bilden. Das Gericht postuliert hier implizit eine Bindung an die Rechtsauffassungen eines Spruchkörpers, die nicht nur den Einfluss der Richterwahl neutralisiert, sondern die richterliche Unabhängigkeit eines Senatsmitglieds im Kern in Frage stellt. Wirklich befangen hätte Wallrabenstein sich gemacht, wenn sie sich unbesehen die „Maßstäbe des Senats” zu eigen machte, ohne sich ihre eigene, volle richterliche Überzeugung davon zu bilden, was die Beachtung des Urteils vom 5. Mai 2020 durch die deutschen Verfassungsorgane und die EZB in tatsächlicher Hinsicht verlangt.
Aufgrund eines Versehens wurde zunächst nicht eine vorläufige Fassung dieses Artikels veröffentlicht, der Fehler ist korrigiert.
“Nicht umsonst gibt es zu der Formulierung “Die Entscheidung ist mit Gegenstimmen ergangen” nur einen einzigen Parallelfall, und zwar ebenfalls eine Befangenheitsentscheidung.”
Apodiktische Behauptungen dieser Art überzeugen mehr, wenn ihnen eine Recherche vorausgeht. Die Formulierung findet sich auch in BVerfGE 133, 277 (377) und BVerfGE 141, 220 (353 – das Stimmverhältnis wird nur “insbesondere” für bestimmte Einzelfragen genannt).
Vielen Dank für diese wichtige Ergänzung! Dass der Erste Senat von dieser Möglichkeit auch bei Sachentscheidungen Gebrauch gemacht hat, ändert am exzeptionellen Charakter dieser Praxis aber wohl wenig, zumal ich nicht sehe, wie das mit § 30 Abs. 2 S. 2 BVerfGG vereinbar sein soll, wonach die Senate “das Stimmenverhältnis” mitteilen können. Eine unbestimmte Zahl von Gegenstimmen lässt das Verhältnis Zustimmung und Ablehnung aber gerade offen. – Ihr zweiter Einwand dagegen betrifft wohl eine eher theoretische Möglichkeit. Dass die Bundesregierung, die im Verfahren ja ohnedies gehört wird, allein deshalb beitritt, um ein Mitglied des Gerichts abzulehnen, scheint mir politisch offen gesagt schwer vorstellbar.
Mit der optionalen Zulassung von dem, was das Bundesverfassungsgericht ohnehin schon nach eigenem Ermessen praktiziert hat, wollte der Gesetzgeber wohl kaum die schwächere Variante ausschließen. Allenfalls könnte es einen Konsens im Senat erfordern. Das wird praktisch schon deshalb der Fall sein, weil seither eine Minderheit ihre Stärke ohnehin per Sondervoten offenlegen kann. Bloß schließt dann die BVerfGGO Anonymität aus.
“Dies gilt in diesem Fall umso mehr, als es im Verfahren der Verfassungsbeschwerde keine Antragsgegner und damit strukturell überhaupt nur eine Seite gibt, die Ablehnungsanträge stellen kann. ”
Auch das dürfte so pauschal nicht richtig sein. Wenn ein Verfassungsorgan dem Verfahren gem. § 94 Abs. 5 S. 1 BVerfGG beitritt, ist es Verfahrensbeteiligter und sollte dann auch zur Ablehnung berechtigt sein (so jedenfalls die h.M. im Schrifttum).
Wäre ich der Prozessbevollmächtigte der Bundesregierung, würde ich jetzt den Beitritt erklären (falls noch nicht geschehen) und Herrn Huber ablehnen. Das würde spaßig.
Die Kritik am Befangenheitsbeschluss ist absolut berechtigt. Seit Paul Kirchhof hat sich der zweite Senat in seiner Europarechtsprechung immer weiter vom Regelungsgehalt des Grundgesetzes entfernt, indem er eine Popularklage und ungeschriebene Integrationsschranken erfand. Was ist das anderes als Politik?
Was ist die EuGH-Rechtsprechung denn in weiten Teilen anderes als Politik?
“„Wenn Politik, Bundesbank und EZB ‚in die richtige Richtung‘ gingen, könnte es im Interesse des Gerichts liegen zu sagen: ‚Das ist schon in Ordnung. Wir sehen, dass unsere Forderungen ernst genommen werden’”. Was man naheliegender Weise eigentlich so übersetzen könnte: Wenn die Verpflichtungsadressaten den Tenor beachten, hat sich das Problem erledigt.”
Diese Interpretation der Aussage liegt doch eher fern. Gemeint war angesichts des Wortlauts in die richtige “Richtung” gehen wohl: wenn Politik, Bundesbank und EZB etwas guten Willen zeigen und ein bisschen mehr mit dem BVerfG kooperieren, dann solle es das BVerfG damit bewenden lassen, unabhängig davon, ob der Tenor des konkreten Urteils nun vollständig umgesetzt worden ist.
Oder anders ausgedrückt: maßgeblich solle nicht die -vollständige- Beachtung und Befolgung des Tenors sein, sondern lediglich eine gewisse Bereitschaft zur Kooperation.
Eine derartige Aussage der Richterin gibt aber durchaus Grund zur Befürchtung, dass sie bereits eine “Teil-Compliance” oder etwas “Good Will” ausreichen lassen würde und in dem Fall eine formale Vollstreckung des (dann noch nicht vollständig umgesetzten) Urteils ablehnen würde. Das begründet durchaus eine gewisse Befangenheit.
Liebe Kollegen,
vielen Dank für den spannenden Beitrag, der am Ende mit der Differenzierung zwischen Tenor und Gründen aus meiner Sicht den Kern der Problematik allerdings nicht ganz trifft: Bindung und Befangenheit liegen quer zueinander. Die Frage, ob ein Mitglied des Senats befangen ist, lässt sich also nicht auf die Frage bringen, ob es an eine Entscheidung “gebunden” ist. Ich meine, dass die vielen in der Presse angestellten allgemeinen Überlegungen zur Befangenheit hier durch spezielle Erwägungen ergänzt werden müssen, weil eine besondere Verfahrenskonstellation vorliegt: die der Entscheidungsvollstreckung nach § 35 BVerfGG. Da geht es nicht um ein Wiederaufgreifen des Verfahrens, das ja eine Rückversetzung mit dem Potenzial für eine abweichende Sachentscheidung beinhalten würde, sondern um die Frage der Urteilsbefolgung. Diese Frage stellt sich für das PSPP-Urteil insbesondere deshalb, weil die berühmte Rn. 235 bereits eine Vollstreckungsanordnung enthält, wie es auch einige der Sachverständigen in einer Anhörung des Europaausschusses des Deutschen Bundestages zum PSPP-Urteil betont hatten. Man mag prozessrechtlich finden, dass das in den Tenor gehört, aber die Praxis des BVerfG hat sich anders entwickelt. Damit wird ein Teil der früheren Entscheidung zum (feststehenden!) Maßstab für die anstehende Vollstreckungsentscheidung. Äußerungen zu solchen Entscheidungsbestandteilen sind daher etwas spezifisch anderes als allgemeine Erklärungen, wie eine Entscheidung wohl zu verstehen ist; das will nichts darüber aussagen, ob im konkreten Fall Anlass für eine Besorgnis der Befangenheit der abgelehnten Richterin des BVerfG bestand, sondern nur darauf hinweisen, warum sich das Problem im Rahmen von § 35 BVerfGG etwas anders darstellt als sonst.
Abschließend noch zwei Kleinigkeiten zum BVerfGG: Den Hinweis darauf, dass § 30 II 2 BVerfGG eher nicht die Aussage deckt, dass eine Entscheidung “mit Gegenstimmen” ergangen ist, finde ich berechtigt. Ob die Verfassungsorgane noch im Vollstreckungsverfahren beitreten könnten (zum Kommentar von Herrn Gosman), ist eine spannende Frage, die sich nur auf der Grundlage einer Aufklärung dessen beantworten lässt, was genau das Vollstreckungsverfahren prozessrechtlich eigentlich ist. § 35 BVerfGG klärt das nicht, vielleicht auch deshalb nicht, weil von der Möglichkeit nachträglicher Vollstreckungsanordnungen nicht ausgegangen wurde, worauf die Verfasser ja bereits hingewiesen haben.
Lieber Herr Professor Sauer,
vielen Dank für Ihre konstruktiven Einwände.
1. Den Zusammenhang zwischen Bindung und Befangenheit stellt der Beschluss in den Rn. 34 und 37 selbst ausdrücklich her. Die Besorgnis der Befangenheit ergibt sich aus Sicht der Mehrheit aus dem Eindruck einer möglichen Vorfestlegung Wallrabensteins auf andere Maßstäbe als diejenigen des Senats. Einmal unterstellt, Wallrabenstein hätte tatsächlich zu erkennen gegeben, dass die dem Wortlaut des Urteils „keine entscheidende Bedeutung“ (Rn. 34) beimisst und „andere Maßstäbe“ an die „Umsetzung des Urteils“ anlegen wolle, „als es der Senat getan hat“ (Rn. 37) – dann kann dadurch eine Besorgnis der Befangenheit theoretisch doch nur dann begründet werden, wenn sie an die Maßstäbe des Senats gebunden und methodisch gehalten ist, dem Wortlaut entscheidende Bedeutung beizumessen.
2. Unser Punkt war: diese Bindung wird im Beschluss prozessual nicht ausreichend begründet. Aus allgemeinen prozessualen Grundsätzen ergibt sie sich schwerlich, aus § 35 BVerfGG auch nicht. Sie machen nun die implizite Annahme der Mehrheit, dass sich eine solche Bindung schlicht aus der „besonderen Natur des verfassungsprozessualen Vollstreckungsverfahrens“ ergibt, explizit – eine prozessrechtliche Begründung liegt darin allerdings nicht. Vollstreckungsverfahren haben wie Verfahren generell ja in der Regel keine „Natur“, sondern lediglich eine bestimmte Funktion gegenüber der Sachentscheidung. Dabei gibt es gute rechtstaatliche Gründe, warum in der Regel nur der Tenor vollstreckt werden kann, nicht aber ganze Randnummern. Kurz: Woraus sich eine Bindung ergibt und welchen Umfang sie hat, ist eine komplexe Frage, zu der sich jedes Mitglied des Senats eine eigene richterliche Überzeugung bilden muss.
3. Wiederaufgreifen des Verfahrens war nicht technisch gemeint, sondern nur als Hinweis darauf, dass die Anwendung des § 35 BVerfGG dazu führt, dass das Gericht sich nach Eintritt der Rechtskraft und damit der durch Art. 93 GG begründeten Zuständigkeit noch einmal mit der Sache befasst.
Die Spaltung des BVerfG scheint mir eher ein Produkt der rechtswissenschaftlichen Debatte zu sein. Die Entscheidungen Europäischer Haftbefehl II, OMT-Urteil, PSPP-Beschluss sind ohne bekannte Gegenstimmen und in der gleichen Besetzung des 2. Senats ergangen. Gleich zu Beginn des Patentgerichtsbeschlusses stellten die Dissenter klar, dass die Senats-Rspr. Aus ihrer Sicht von zutreffenden Annahmen ausgeht. Identitäts- und ultra-vires-Kontrolle dienten der praktischen Wirksamkeit der Integrationsschranken. Die ultra-vires-Kontrolle als solche scheint also nicht streitig gewesen zu sein. Einen grundlegenden Konflikt über die Europa-Rspr scheint es im Senat also nicht zu geben.
Korrektur: In Europäischer Haftbefehl II und im OMT-Urteil hat Landau mitgewirkt, der wohl zu den Integrationsskeptikern zählte (vgl. sein Sondervotum zu Honeywell).
Nachtrag: In Europäischer Haftbefehl III haben drei Integrationsskeptiker (Huber, Müller, Kessal-Wulf) und drei Integrationsfreunde (König, Maidowski und Langenfeld) mitgewirkt. Auch hier keine bekannten Gegenstimmen.
Danke für diesen Exzellenten Beitrag und die Kommentare. Es sollte eine Englische Fassung publiziert werden, denn ausser Deutschland ist diese Sache fast völlig unbekannt, und man glaubt zu oft der PSPP Fall sei nun erledigdt.
D.U. Galetta und ich hatten dies schon geanht als wir im Juno den Artikel geschrieben hat, der neulich in der Revue Trimestrielle de Droit Européen veröffentlicht worden ist https://www.dalloz-revues.fr/RTDeur-cover-93834.htm Wenn es so weiter geht wird das Risiko eines Verletzungsverfahren ziemlich gross.
Das Obergericht EuGH ?
Bevor man mit Eifer über Maßnahmen der EZB und über die Differenzen zwischen BVerfG und EuGH debattiert, sollte man sich, obwohl in dieser Runde sicher jedem bekannt, immer wieder vor Augen führen, wie sich der EuGH zusammensetzt, wessen Positionen dort vertreten werden und warum:
Den EuGH bilden 27 Richter (je einer pro EU-Mitgliedstaat), von denen jeweils deren 11 als Spruchkörper an Stelle des Plenums dienen, ferner 11 Generalanwälte, die nach der mündlichen Verhandlung von Streitfällen einen Vorschlag für ein Urteil in Form von begründeten Schlussanträgen stellen, soweit ihre Mitwirkung nach der Satzung des EuGH erforderlich ist. Dabei verfügen Deutschland, Frankreich, Italien, Polen, Spanien und – früher – auch GB je über einen ständigen Generalanwalt. Der Rest der Mandate wird nach einem Rotationsprinzip durch die weniger kopfstarken Mitglied-Staaten besetzt.
Bei Auswahl und Entsendung wird jede Regierung sicherlich sorgsam darauf achten, dass „ihr/e Richter/in“ und Generalstaatsanwalt/-anwältin die Interessen des eigenen Landes bei Gericht tatkräftig unterstützt. Im Zweifel auch gegen die anderer Mitglieder. Denn spätestens bei der Verteilung der vielen Milliarden Euro hört auch in der EU die Freundschaft auf. Es geht im Zweifel nur um die Vor- bzw. Nachteile für das eigene Land. Insofern konnte etwa die Entscheidung des EuGH gegen die deutschen Maut-Pläne eigentlich nicht überraschen. Worüber hierzulande seltsamerweise niemand diskutiert.
Wenn nach den Grundsätzen der EU Rechtsstaatlichkeit nur gewährleistet ist mit unabhängigen Richtern und Staatsanwälten, muss sich der EuGH selbst dieser Anforderung stellen. Derzeit erfüllen die Richter und Generalanwälte des EuGH diesen Anspruch eher nicht. Richterliche Unabhängigkeit und Objektivität sieht anders aus. In Wahrheit handelt es sich bei den Richtern und Generalanwälten des EuGH drastisch formuliert um juristische Lobbyisten des jeweiligen Entsende-Landes. Die Entscheidungen in der EZB laufen nach vergleichbaren „Spielregeln“ ab.
Jeder weiß das, scheut aber die Konsequenzen.
Für GB war diese Problematik eine Frage der eigenen Souveränität und als solche ein wesentliches Argument für den Brexit.
Herr Marquardt sollte einmal sorgfältig Durchsuchen wie oft Generalanwälte sich eigentlich gegen ihr Herkunfstland ausgesprochen haben – meines erachtens viel mehr als dafür, und wie in jedem EU Fall die Kammern zusammengesetzt sind: meistens ist ja der Richter aus dem jeweiligen EU Mitgliedsstaat nicht dabei.
Sehr geehrter Herr Ziller,
können Sie ihre Vermutungen belegen?
Jegliche menschliche und politische Erfahrung spricht gegen Ihre These.
Und sofern eine Kammer ohne den Richter des betroffenen EU-Mitglieds tagen sollte (mit welcher Begründung?), macht das ein Urteil gegen dessen Interessen noch einfacher.
Die erwähnte Entscheidung gegen eine deutsche Maut (in den meisten EU-Ländern die Regel) lässt kaum einen anderen Schluss zu.
Sehr geehrter Herr Marquardt,
da Sie den sehr harten Vorwurf der Parteilichkeit geäußert haben, sehe ich eher Sie in der Bringschuld für Belege. Gibt es Untersuchungen, auf die Sie Ihre Meinung stützen?
Sehr geehrter Herr Müller,
für leicht nachvollziehbare, offensichtliche Sachverhalte braucht es keine aufwändigen Studien, Statistiken oder Gutachten.
Gerade weil noch gut vor Augen, ist das Urteil des EuGH zur Maut auf deutschen Straßen ein einleuchtendes Beispiel: Mit welchem nachvollziehbar guten Grund verweigert der EuGH Deutschland das Recht auf anderweitig selbstverständliche Abgaben für die Benutzung teurer Autobahnen? Auf derselben „Rechtsgundlage“ müsste der EuGH vice versa allen anderen Ländern das Erheben einer Autobahngebühr untersagen. Quod licet Jovi …..?
Unabhängig von der mehr oder weniger überzeugenden Form der geplanten Maut, Deutschland ist aufgrund seiner geografischen Lage das europäische Transitland par excellence, verbunden mit der stärksten Abnutzung der (ohnehin vernachlässigten) Straßen und Brücken.
Natürlich haben alle unmittelbaren und sekundären Anrainer, also quasi alle anderen EU-Mitglieder, keinerlei Interesse, sich an den Kosten für deutsche Straßen zu beteiligen. Welcher Richter welchen Landes sollte also eine deutsche Autobahnmaut befürworten?
Oder sehen Sie andere, schwerer wiegende Gründe für das Urteil des EuGH? Vielleicht sehe ich die einfach nicht.
Dass eine Mehrheit der Richter am EuGH diesem Vorhaben zustimmen sollte, war allenfalls die Fata morgana naiver deutscher Politiker.
Jede rationale Erfahrung spricht gegen die Illusion, Regierungen würden uneigennützig und ohne Berücksichtigung der heimischen politischen Verhältnisse neutrale und unabhängige Richter an den EuGH entsenden.
Idealerweise hätte auch eine der großen Parteien etwa den ansonsten allseits renommierten Staatsrechtler Prof. von Arnim trotz seiner durchaus berechtigten Kritik am hiesigen Parteienstaat irgendwann für einen Sitz im BVerfG vorschlagen können. Was aber m.W. niemals geschehen ist. Das nur am Rande.
Lieber Herr Marquart
Sie übersehen den zentralen Aspekt der Sache, auf den der EuGH abestellt hat, nämlich die Tatsache, dass die Maut und eine äquivalente Steuererleichterung (nur) für deutsche Steuerinläner im engsten Zusammenhang stehen (siehe C-591/17, dort Rn. 44 – 46). Hierin (!) lag die Grundlage des Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot. Aus diesem Tatbestand haben die deutschen Politiker, die dieses Debakel zu verantworten haben, ja auch nie ein Geheimnis gemacht. Und das ist eben anders als die Maut etwa in Frankreich, bei der es eine solche Diskriminierung nicht gibt.
Sie haben hier Recht starke Worte gewählt und eine sehr große Gruppe von Menschen im Grunde der Rechtsbeugung bezichtigt. Man muss und soll den EuGH durchaus kritisieren – aber erst mal sollte man seine Urteile lesen und sich mit den dort gemachten Feststellungen auseinander setzen. Dann kann man immer noch kritisieren.