28 September 2017

Bewunderung ohne Liebe und die Kunst des Übertreibens: die italienischen Reaktionen auf die deutsche Bundestagswahl

Deutschland ist der größte Handelspartner Italiens, und auch auf politischer und kultureller Ebene sind die Beziehungen sehr innig. Die Schicksale der beiden Länder sind seit jeher sehr eng miteinander verwoben. Gleichzeitig hat man wenig Verständnis füreinander und die gegenseitige Wahrnehmung ist sehr von Stereotypen geprägt. Dies gilt beidseits der Alpen. Um bei einem viel zitierten Spruch zu bleiben: Die Italiener schätzen die Deutschen, lieben sie aber nicht. Die Deutschen lieben die Italiener, schätzen sie aber nicht.

Die Reaktionen der italienischen Politik auf die Ergebnisse der Bundestagswahl vom 24. September haben sich vorrangig auf die möglichen innenpolitischen Folgen konzentriert. Die offizielle Stellungnahme des Ministerpräsidenten Gentiloni war sehr vorsichtig, wie es von seiner institutionellen Funktion, aber auch von ihm als Person nicht anders zu erwarten war: Gentiloni wünsche sich eine Fortsetzung der erfolgreichen Zusammenarbeit mit Angela Merkel im Zeichen der Verstärkung der europäischen Integration((ANSA, 25.9.2017.)). Die Vertreter der verschiedenen politischen Lager haben wie immer versucht, das Wahlergebnis in Deutschland zu ihren Gunsten auszulegen, und sich in der Analyse mehr auf den Wahlkampf in Italien fokussiert, der praktisch bereits im Gange ist, als auf jenen, der in Deutschland gerade beendet wurde. Der Parteiobmann der Lega Nord Salvini hat den Erfolg der AfD gefeiert, während Berlusconi Merkel seine völlige bedingungslose Unterstützung zugesichert hat((La Repubblica, 26.9., S. 8.)), und dies obwohl ihre Beziehung in Vergangenheit nicht wirklich mit Harmonie gesegnet war. Aber schließlich muss er sich ja von der Lega Nord distanzieren, die auf dem Papier als sein theoretischer Bündnispartner gehandelt wird und mit der er sich gerade um die Rolle als Zugpferd des (Mitte-)Rechts-Lagers streitet. Die 5-Sterne-Bewegung rühmt sich damit, der Deich gegen den Rechtsextremismus in Italien zu sein. Die Linke hingegen schämt sich alle im Stillen für das bescheidene Abschneiden der SPD. Einzige Ausnahme ist der ehemalige Staatspräsident Giorgio Napolitano, der kein Blatt vor den Mund nimmt und die Schuld an der allgemeinen Krise der sozialdemokratischen Politik in Europa frank und frei den – im Vergleich zur Vergangenheit – schwachen Leitfiguren zuschiebt.((Interview in der Tageszeitung Corriere della Sera, 26.9., S. 11: „es ist eine sichtliche Verschlechterung des Niveaus in der Führungsriege innerhalb der Links-Parteien im Gange”.))

Die Kommentare in den großen Zeitungen der meistgehörten wirtschaftlichen und intellektuellen Elite kann man in drei Kategorien und Haltungen einteilen.

Die erste Kategorie ist die Dramatisierung. Italien ist bekanntlich das Land der Übertreibungen, vor allem der verbalen. Für viele ist die AfD wie aus dem Nichts aufgetaucht, als hätte sich der Erfolg nicht schon seit den letzten Landtagswahlen angebahnt. Selbstverständlich ließen verbale Ausschweifungen von Seiten einiger erbärmlicher, ideologischer und nationalistischer Zeitungen nicht lange auf sich warten. Dabei wurde einerseits versucht, den Lesern weiszumachen, dass alle Deutschen zu Nazis mutiert seien, andererseits wurde die Souveränität des Volkes lobgepriesen((Il Giornale, 25.9., titelt in einem Kommentar zur Wahl: „Deutschland: Diese Deutschen, die allergisch auf die Demokratie sind”, Untertitel „Proteste und Beschimpfungen in verschiedenen deutschen Städten gegen den Aufstieg der AfD. Alle gegen die „schwarze” Welle, niemand respektiert die Entscheidung des Volkes.”.)), und gleichzeitig wurden Klischees unterster Schublade bedient((Ein Artikel der rechtsextremen Tageszeitung „Libero“ vom 27.9. trägt den Titel: „Blond, lesbisch, teuflisch: mit wem Alice, die Frau, die Merkel terrorisiert, ins Bett steigt” (sic).)). Aber selbst seriöse Blätter haben sich über das Abschneiden der AfD überrascht gezeigt und dabei wohl verdrängt, dass der rechtsextreme Populismus in Europa einen konstanten Marktwert zwischen 10 und 15% einnimmt.((Eine der wenigen Ausnahmen bildet der Kommentar von M. Serra, L’amaca, La Repubblica, 26.9., S. 1.)) Allgemein überwogen die Sensation und die Verwunderung darüber, dass zum ersten Mal seit Bestehen der Bundesrepublik eine rechtsextreme Partei in den Bundestag einzieht. Von einer politischen Analyse über eine Strategie, wie diese Kräfte (auch in Italien) bekämpft werden könnten, ist in den Medien keine Spur. Soll man sie besser einfach ignorieren und sich nicht von ihnen den Takt vorgeben lassen (und damit Merkels Beispiel folgen) oder ist es vorteilhafter, in ihre Richtung zu rücken, in der Hoffnung, damit ihren Zuspruch einzubremsen (wie dies in Österreich gerade der Fall ist)? Eine Antwort auf diese Fragen ist Fehlanzeige.

In einer zweiten Kategorie kann man die Reaktionen rund um die Angst vor einem raueren Klima und vor schärferen Tönen Italien gegenüber zusammenfassen. Vielerorts wurde betont, dass eine Regierungskoalition ohne Beisein der SPD eine noch strengere Interpretation der europäischen Verpflichtungen zu Lasten von Italien zur Folge haben könnte. Häufig wird davon ausgegangen, dass es mit der Ablöse von Mario Draghi an der Spitze der EZB vermutlich durch Jens Weidmann zu einer Abrechnung kommen werde. Als ob Ersterer selbstverständlich die Interessen Italiens vertreten würde und Letzterer jene Deutschlands: soviel zum europäischen Verständnis… Der frühere Wirtschaftsminister Giulio Tremonti hat diese Sorge klar zum Ausdruck gebracht und prophezeit, dass harte Zeiten auf Italien zukommen werden, was die Reduzierung seiner Staatsverschuldung anbelangt.((La Stampa, 26.9., S. 7.)) Auch hat man Angst, dass sich die Positionen in Sachen Einwanderungspolitik verschärfen könnten. Man befürchtet, dass ein Deutschland, das mehr nach rechts rückt, die Grenzen dichter machen würde und somit bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise Italien und Griechenland alleine dastehen ließe.((„Einwanderer und Wirtschaft: das neue Deutschland wird ein Feind Italiens sein”, il Giornale, 26.9.)) Man glaubt also, dass Italien mit seinen Problemen noch mehr alleine gelassen werden könnte, und dass die Deutschen egoistischer sein würden.((Interview des Politikwissenschaftlers Gian Enrico Rusconi, Alto Adige, 27.9., S. 12: „Wir werden mehr alleine dastehen. Die Deutschen werden noch verärgerter über unsere Unfähigkeit sein, unsere Probleme zu bewältigen.”))

In der dritten Kategorie finden sich hingegen die politikspezifischen Reaktionen, die man unter den Titel „GroKo-Besessenheit” stellen könnte. Nahezu alle politischen Vertreter in Italien sprechen sich gegen große Koalitionen aus. Das Modell, das sowohl das rechte als auch das linke Lager immer gerne an den Mann bringen möchte, ist das Westminster-Modell, wenngleich die Regierungen fast immer zu (großen) Koalitionen gezwungen werden, die aber sogar von den jeweiligen Koalitionspartnern selbst abgelehnt werden. Dadurch verstärkt sich der Eindruck, dass die Politik ein schmutziges Geschäft sei, in dem nur die Interessen der Elite auf Kosten der Bürger vertreten werden. Infolgedessen wachsen das Misstrauen gegenüber den Institutionen sowie der Eindruck der Verantwortungslosigkeit in der Politik zunehmend. Positive Kommentare über große Koalitionen sind höchst selten. Im Italienischen spricht man von larghe intese (wörtlich: breite Einvernehmen), und der Terminus hat einen abwertenden, abschätzigen Beigeschmack. Ein weiteres Klischee… Wiederholt wurde geschrieben, dass die großen Koalitionen jene Parteien bestrafen würde, die sie bilden (was zweifelsohne stimmt). Die Kernbotschaft, die damit aber vermittelt wurde, ist jene, dass große Koalitionen grundsätzlich schlecht seien.

Zu guter letzt noch ein paar Gedanken aus einer verfassungsjuristischen Perspektive. Ständig ist im politischen Diskurs in Italien vom „Deutschen Modell” die Rede, vor allem, wenn mal die Verfassungsreform bzw. das Wahlgesetz auf der Agenda stehen. Dies sind zwei Dauerbrenner der italienischen Politik, bei denen wohl nie das letzte Kapitel geschrieben sein wird. Und vielleicht liegt der Grund für die Unendlichkeit der Geschichte auch in der strikten Abneigung gegenüber den großen Koalitionen. In der Diskussion rund um die Verfassungsreform von 2016, die der damalige Ministerpräsident Renzi auf Biegen und Brechen durchbringen wollte und die schließlich am 4. Dezember per Referendum abgelehnt wurde, wurde immer wieder (und meistens fälschlicherweise) der Bundesrat erwähnt. Einerseits wurden ihm vielversprechende, fast wundersame Kräfte zugesprochen. Andererseits ist es nie gelungen, seine Funktion und seine Zusammensetzung auf Italien zu übertragen, und zwar schlicht deshalb, weil das regionale System in Italien sich stark vom Föderalismus in Deutschland unterscheidet – und viel weniger kooperationsbereit ist. Zurzeit befasst sich das italienische Parlament (zum dritten Mal in dieser Legislaturperiode!) mit dem neuen Wahlgesetz. Auch hier wurde das deutsche Wahlrecht häufig als Musterbild hergenommen. Es wurde sogar versucht, eine leichte Nachahmung zu finden, die in den Zeitungen als „Tedescum” bezeichnet wurde und im Juni dieses Jahres gleich bei der ersten geheimen Abstimmung in der Abgeordnetenkammer über Bord geworfen wurde. Wie bereits beim Beispiel des Bundesrates hat man sich auch beim Wahlgesetz nur auf die Form, nicht aber auf den Inhalt fokussiert. Tatsächlich könnte das deutsche Wahlrecht in Italien nämlich nie funktionieren, solange es kein Parteiengesetz gibt.

Südlich der Alpen schaut man also weiterhin mit viel Bewunderung und Neid, aber wenig Kenntnis, noch weniger Liebe und zunehmender Angst in Richtung Norden. Eigentlich wie in den letzten zwei Jahrtausenden auch schon…


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