18 July 2020

Beyond Economics

Soziale Menschenrechte als Wegweiser in der EU-Wirtschaftskrise

Im April 2020 schnürte die EU ein Maßnahmenpaket gegen die unmittelbaren Folgen der Coronavirus-Pandemie. Es bestand aus drei Haupt-Komponenten: dem europäischen Kurzarbeitergeldprogramm „SURE“, EIB-Krediten für kleine und mittelständische EU-Unternehmen sowie Krediten für EU-Staaten unter dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, um Corona-bedingte Ausgaben zu decken. Im Mai folgte dann der Vorschlag der EU-Kommission für einen Europäischen Wiederaufbaufonds, um den EU-Binnenmarkt wieder anzukurbeln. Aufgrund der divergierenden Ansichten zwischen den Ländern Nord- und Südeuropas zu Höhe und Konditionen des Fonds, präsentierte EU-Ratspräsident Charles Michel am 10. Juli 2020 seinen Kompromissvorschlag. Ein wichtiges Element dieses Vorschlags ist Konditionalität: Die Gelder sollen nur Staaten zugutekommen, in denen Rechtsstaatlichkeit sichergestellt ist. Das beinhaltet auch die konsequente Berücksichtigung und Umsetzung von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten (wsk-Rechte)  â€“ gerade angesichts der  Herausforderungen, die sich im Zuge der Coronavirus-Pandemie zum Beispiel in Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Arbeit, Wohnung, Ernährung, Familie, soziale Sicherheit sowie Wasser und Sanitärversorgung in nahezu allen EU-Ländern ergeben haben. Dieser Beitrag beleuchtet zwei Kernanforderungen an den EU-Wiederaufbauplan aus Sicht der wsk-Rechte: die Staatenpflicht zur Ausschöpfung aller verfügbaren Ressourcen sowie das Prinzip der Nichtdiskriminierung und der Gleichheit aller Menschen.

Wsk-Rechte sind in der EU-Grundrechtecharta sowie in der Europäischen Säule der Sozialen Rechte verankert; ein entsprechender Aktionsplan zur Umsetzung wird Anfang nächsten Jahres erwartet. Diese Instrumente müssen die EU-Institutionen und ihre Mitgliedsstaaten auch in der Fiskalpolitik berücksichtigen. Zudem sind alle EU-Länder Mitglied im Europarat und haben flächendeckend die (revidierte) Europäische Sozialcharta sowie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Während die Europäische Sozialcharta explizit wsk-Rechte verbürgt, kodifiziert die Europäische Menschenrechtskonvention primär bürgerliche und politische Rechte.((Bürgerliche und politische Menschenrechte sowie wsk-Rechte werden im rechtswissenschaftlichen Diskurs noch häufig in unterschiedliche „Generationen“ unterteilt, was weder rechtshistorisch noch rechtsdogmatisch haltbar ist und dem Gedanken der Unteilbarkeit der Menschenrechte zuwiderläuft. Es reflektiert vielmehr eine Universalisierung abendländischer und nordamerikanischer Rechtsphilosophie und -traditionen.)) Allerdings hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer Reihe von Entscheidungen auch wsk-bezogene Anliegen behandelt und zum Beispiel das Recht auf Gesundheit unter das Recht auf Familie und Privatsphäre (Artikel 8 der EMRK) subsumiert. Außerdem sind alle EU-Mitgliedstaaten auch Vertragsstaaten des UN-Sozialpaktes sowie weiterer internationaler Menschenrechtskernverträge wie der UN-Frauenrechtskonvention, der UN-Kinderrechtskonvention, der UN-Anti-Rassismus-Konvention oder der UN-Behindertenrechtskonvention, in denen wsk-Rechte verbrieft sind.

Alle verfügbaren Ressourcen für die Menschenrechte

Der UN-Sozialpakt verlangt von Staaten nichts Unmögliches, sondern legt das Prinzip einer progressiven Verwirklichung der wsk-Rechte fest (Artikel 2 (1)). Demnach müssen Staaten alle Möglichkeiten ausschöpfen, um die Verwirklichung der wsk-Rechte fortschreitend für alle zu erreichen. Dazu sollen sie zweckmäßige, konkrete und gezielte Schritte unternehmen, um so schnell und effizient wie möglich wsk-Rechte umzusetzen. Staaten sollen sich dabei gegenseitig unterstützen, d.h. internationale Hilfe anbieten und annehmen. Der UN-Sozialpakt enthält damit eine explizit extra-territoriale Dimension. Aus dem UN-Sozialpakt ergibt sich also auch eine Einstandspflicht unter den EU-Ländern, um innerhalb – und im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit auch außerhalb – der EU Verletzungen von wsk-Rechten abzuwenden und zu ihrer Gewährleistung beizutragen. In Zeiten begrenzter Ressourcen sind Mindeststandards, sogenannte „Kernverpflichtungen“, die jedem wsk-Recht zugrunde liegen, zu priorisieren. EU-Staaten müssen also auch in Krisenzeiten einen diskriminierungsfreien Zugang zur Grundversorgung für ihre Bevölkerung sicherstellen.

Gemäß dem vom UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte entwickelten Prinzip der „Non-Retrogression“, also der Vermeidung von Rückschritten, müssen die EU-Staaten darauf achten, nicht hinter bisher verwirklichte Rechtsgarantien zu fallen. Nur unter strengen Voraussetzungen der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit kann von der Pflicht zur progressiven Verwirklichung abgewichen werden. Ob die Haushaltsdisziplin der sogenannten „sparsamen Vier“ (Niederlande, Österreich, Dänemark, Schweden) diese Voraussetzungen erfüllen, ist fraglich. Indem diese Staaten Einschnitte in Arbeitsmarkt und Rentensystem zur Auflage für EU-Hilfen machen wollen, tragen sie potentiell dazu bei, das Risiko für Verletzungen von wsk-Rechten in den Empfängerländern zu erhöhen. Die Austeritätsmaßnahmen der EU gegen die Wirtschaftskrise von 2008 haben erst dazu geführt, dass Gesundheits- und Sozialsysteme in EU-Ländern wie Spanien und Italien nicht angemessen auf die Corona-Krise reagieren konnten und zu viele Menschenleben gekostet haben. Zudem wurden dadurch soziale Ungleichheiten innerhalb und zwischen den EU-Ländern weiter befördert, was neben der menschenrechtlichen Problematik auch das soziale und wirtschaftliche Gefüge der EU schädigt und letztlich die Stabilität des EU-Binnenmarktes gefährdet.

Statt Haushaltsdisziplin und Reformauflagen sollten andere Wege gegangen werden, um den EU-Haushalt zu stabilisieren und zu erhöhen. Die Staatenpflicht zur Ausschöpfung von Ressourcen erstreckt sich nicht nur auf bereits vorhandene Haushaltsmittel, sondern erfordert auch das Erschließen neuer Einnahmequellen, um wsk-Rechte zu verwirklichen.

Wirtschaftliche Transformation zum Ausgleich struktureller Diskriminierung nutzen

Die Corona-Pandemie als „great equalizer“, der große Gleichmacher, der alle Menschen unabhängig von Rassifizierung, sozialer Herkunft, Geschlecht, Behinderung oder anderen Merkmalen treffen kann – dieses Narrativ zu Beginn der Krise wurde seither vielfach als falsch entlarvt. Im Laufe der vergangenen Monate hat sich weltweit gezeigt, dass auch diese Krise soziale Ungleichheiten verstärkt. Während das Virus potentiell alle Menschen anstecken kann, hatten die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung vor allem Auswirkungen auf Gruppen, die bereits vor der Krise struktureller Diskriminierung ausgesetzt waren. Sie sind in mehrfacher Hinsicht die Leidtragenden der Pandemie: gesundheitlich, wirtschaftlich und mit Hinblick auf die Auswirkungen der Corona-Eindämmungsmaßnahmen.

Erstens besteht bei Menschen mit Diskriminierungserfahrungen eine erhöhte gesundheitliche Vulnerabilität, sodass sie in den Risikogruppen überrepräsentiert sind. Gesellschaftlich vulnerabilisierte Gruppen haben also ein erhöhtes Risiko zu erkranken oder schwer zu erkranken. Lange vor Corona haben sozialepidemiologische Studien, insbesondere aus dem angelsächsischen Raum, zum einen gezeigt, dass Diskriminierungserfahrungen physische und psychische Belastungen darstellen und damit klinische Erkrankungen auslösen oder verstärken können. Zum anderen ist der Zugang zur Gesundheitsversorgung und -prävention für genau diese Gruppen strukturell erschwert. Kurz gesagt: Ausgrenzung und Diskriminierung machen potentiell krank und wirken als Hürde für den Zugang zu Gesundheitsdiensten.

Zweitens sind vulnerabilisierte Menschen stärker den wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Pandemie ausgesetzt. Migrant*innen und Frauen arbeiten überdurchschnittlich in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen sowie im informellen Sektor und fallen so regelmäßig aus der staatlichen Unterstützung für Arbeitnehmende heraus. Auch in Deutschland setzt das erleichterte Kurzarbeitergeld ein versicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis voraus. Arbeitsmigrant*innen, wie zum Beispiel in der Pflege, Landwirtschaft und fleischverarbeitenden Industrie, haben durch irreguläre Arbeitsverhältnisse oder Scheinselbstständigkeit oft keinen Zugang zu sozialer Absicherung. Diese Menschen und ihre Familien trifft die Rezession damit besonders hart.

Drittens werden marginalisierte Gruppen durch Corona-Eindämmungsmaßnahmen stärker belastet. Hygiene- und Abstandsregeln sind für Menschen in beengten Wohnverhältnissen kaum umzusetzen. Dazu gehören unter anderem Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften, Menschen in Haftanstalten oder Familien mit geringem Einkommen, die auf kleinstem Wohnraum zusammenleben. Die coronabedingten Kita- und Schulschließungen in vielen EU-Ländern setzte für Kinder und Jugendliche de facto ihr Recht auf Bildung aus; Lernende aus einkommensschwachen Haushalten ohne Computer oder Internetverbindung konnten dies kaum kompensieren und werden unter Umständen ohne gezielte Unterstützung die Folgen dieser Zeit für Jahre zu tragen haben. Und schließlich machte es die Schließung von Gaststätten, Schwimmbädern und Hilfseinrichtungen für wohnungslose Menschen unmöglich, ihr Recht auf Sanitärversorgung wahrzunehmen.

Diese disproportional starken Auswirkungen der pandemiebedingten Gesundheits- und Wirtschaftskrise auf benachteiligte Gruppen müssen auch im Rahmen von Konjunkturprogrammen angegangen werden. Das menschenrechtliche Prinzip der Nichtdiskriminierung und Gleichheit aller Menschen erfordert, wirtschaftspolitische Entscheidungen ex-ante und ex-post auf ihre Auswirkungen auf Menschenrechte zu überprüfen. Ziel einer solchen Prüfung ist, die am meisten betroffenen Gruppen zu identifizieren und negative Auswirkungen auf sie abzufedern und auszugleichen. Aus den Menschenrechten ergibt sich nicht nur ein Unterlassungsgebot der Diskriminierung, sondern auch die Pflicht, substantielle Gleichheit in der Bevölkerung herzustellen, indem historische und strukturelle Formen der Ausgrenzung und Marginalisierung vorübergehend oder dauerhaft durch gezielte Maßnahmen überwunden werden.

Das bedeutet zum einen, dass fiskalpolitische Maßnahmen Diskriminierung vermeiden müssen, z.B. belastet eine Erhöhung der allgemeinen Mehrwertsteuer einkommensschwache Haushalte relativ zu ihrem Einkommen stärker. Stattdessen könnten auf nationaler und EU-Ebene die staatlichen Handlungsspielräume durch progressive Steuerformen wie der Finanztransaktionssteuer, CO2-Steuer oder Digitalabgaben vergrößert werden. Zum anderen müssen Haushaltsmittel dezidiert für die Unterstützung benachteiligter Gruppen bereitgestellt werden. Öffentliche Investitionen im Gesundheits- und Bildungswesen, wie sie zuletzt auch die Wirtschaftsweisen für Deutschland empfahlen, sollten mit dem Ziel getätigt werden, wsk-Rechte für alle Menschen zu verwirklichen und einen diskriminierungsfreien Zugang zu öffentlicher Infrastruktur sicherzustellen.

Fazit: Statt „Wiederaufbau“ wirtschaftliche und soziale Transformation

Transformation statt Wiederaufbau – das forderten Menschenrechtler*innen bereits nach der Wirtschaftskrise von 2008. Wenn ein widerstandsfähigeres, sozial gerechteres und nachhaltigeres Europa das Ziel des EU-Wiederaufbauplans sein soll, wie das EU-Parlament und die EU-Kommission in den letzten Wochen immer wieder betonten, muss eine menschenrechtsbasierte Fiskalpolitik der neue Modus Operandi werden. Die Bewältigung der Coronavirus-Pandemie bietet der EU und ihren Mitgliedstaaten erneut die Chance, wsk-Rechte konsequent in die Fiskalpolitik zu integrieren, statt die Fehler nach der letzten Wirtschaftskrise zu wiederholen. Die Sicherung und Verwirklichung von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten muss diesmal Leitgedanke der wirtschaftlichen Erholung werden. Nicht zuletzt müssen sich die Mitgliedstaaten des Europarates nächstes Jahr im Staatenberichtsverfahren vor dem Europäischen Komitee für Soziale Rechte verantworten, das 2021 überprüft, inwiefern die nationale Umsetzung der in der Charter festgeschriebenen Rechte im Bereich Gesundheit und soziale Sicherheit mit der Europäischen Sozialcharta konform sind.


2 Comments

  1. Weichtier Sun 19 Jul 2020 at 14:10 - Reply

    „Die Austeritätsmaßnahmen der EU gegen die Wirtschaftskrise von 2008 haben erst dazu geführt, dass Gesundheits- und Sozialsysteme in EU-Ländern wie Spanien und Italien nicht angemessen auf die Corona-Krise reagieren konnten und zu viele Menschenleben gekostet haben.“

    Das kann man auch anders sehen. Die Staatsquote war in Spanien und Italien nicht niedrig. Es gab neben den Ausgaben für Gesundheits- und Sozialsysteme auch noch andere Ausgaben, von denen nicht alle aufgrund gesetzlicher Regelungen festgeschrieben waren. Auch diese anderen Ausgaben hätten im Zuge der Austeritätsmaßnahmen in Spanien und Italien gekürzt werden können. Es steht für mich dahin, ob die Austeritätsmaßnahmen zu den Kürzungen in den Gesundheits- und Sozialsysteme geführt haben oder die politische Entscheidung, andere Ausgaben nicht zu kürzen.

    Aber das im Beitrag kolportierte Narrativ hört sich gut an (wird für mich aber durch Wiederholung nicht überzeugender).

    • Lê Phan-Warnke Mon 20 Jul 2020 at 10:01 - Reply

      Natürlich gab es auch Fehler bei der nationalen Prioritätensetzung; das bestreite ich nicht. Aber gerade deswegen argumentiere ich, dass im Rahmen der jetzt disktuierten menschenrechtlichen Konditionalität auch darauf geachtet werden muss, dass Mindeststandards im Bereich der sozialen Rechte eingehalten werden und es bei der nationalen Umsetzung der Reformauflagen nicht zu diskriminierenden Ergebnissen kommt.

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