Blockierte Mehrheit
Warum die Vetomacht des Bundesrates ein Demokratieproblem ist
Während SPD, Grüne und FDP über einen Koalitionsvertrag verhandeln, steht die Union als stiller Regierungsteilhaber schon fest. Auch wenn sie im Bundestag künftig auf der Oppositionsbank sitzt, wird sie über den Bundesrat mitregieren. Sie kontrolliert dort so viele Stimmen, dass sie die Ampel-Koalition zu Kompromissen zwingen kann. Es gehört zu den kaum hinterfragten Grundkonstanten des politischen Systems der Bundesrepublik, dass die Opposition mit Hilfe des Bundesratsvetos mitregieren kann. Dabei ist offensichtlich, dass dies ein parteipolitisches Minderheitenveto darstellt, das kaum zu rechtfertigen ist. Durch die zunehmend fragmentierten Parteiensysteme in den Ländern hat sich das resultierende Demokratieproblem schleichend vergrößert. Eine Reform des Abstimmungsmodus im Bundesrat könnte das Problem lindern, ohne die Berücksichtigung von Länderinteressen zu schmälern.
Neben eigenen Initiativrechten kann der Bundesrat reaktiv an der Bundesgesetzgebung mitwirken. Er kann einerseits Entscheidungen verzögern, indem er einen Einspruch einlegt oder den Vermittlungsausschuss anruft. Andererseits muss er vielen Gesetzen und Rechtsverordnungen explizit zustimmen. Zwar ist der Anteil dieser zustimmungspflichtigen Entscheidungen (die sogenannte Zustimmungsquote) nach der Föderalismusreform I aus dem Jahre 2006 zurückgegangen, er rangiert aber immer noch im jährlichen Durchschnitt zwischen 25 und 45 Prozent und umschließt vor allem wichtige Themen. Im Parlamentarischen Rat hatte man eine Zustimmungsquote von 10 Prozent erwartet und für angemessen erachtet. CDU und CSU verfügen im Bundesrat (ebenso wie SPD und Grüne) über so viele Stimmen, dass ohne sie keine zustimmungspflichtigen Entscheidungen möglich sind.
Aus der „Bundesrepublik Kenia“ wird eine „Bundesrepublik Simbabwe“
Die Vetomacht einer Partei kann man sich anhand der Bundesratsstimmen der Bundesländer zusammenzählen, an deren Regierung sie beteiligt ist. Je nach Bevölkerungsgröße besitzt ein Land zwischen drei und sechs Stimmen. Das Prinzip der degressiven Proportionalität, das dem Saarland drei und dem etwa 18-mal bevölkerungsreicheren Nordrhein-Westfalen nur doppelt so viele Stimmen zuteilt, soll verhindern, dass kleinere Länder einfach majorisiert werden.
Die Grünen haben so im Bundesrat aktuell Zugriff auf 41, die Union auf 51 und die SPD auf 42 Stimmen. Der machtpolitische Realwert dieser Zahl liegt darin, dass eine Partei alle diese Stimmen blockieren kann. Dazu beruft sie sich auf die sogenannten Bundesratsklauseln, in denen die Koalitionspartner in den Ländern für den Konfliktfall eine Enthaltung vereinbaren. Die “Enthaltung” ist indes nur geschicktes politisches Framing, um nicht als “Neinsager” dazustehen. Im Plenum des Bundesrates wird nur nach der Zustimmung durch Handzeichen gefragt. Bleibt die Hand der Vertreter eines Landes unten, zählt dies wie ein “Nein”. Alle Stimmen des Bundeslandes fehlen dann für die im Bundesrat notwendige absolute Mehrheit von 35 Stimmen. Erreicht eine Partei diese Vetogrenze, kann sie das Bundesratsveto praktisch im Alleingang auslösen.
Die Vetomacht hat sich in den letzten Jahren deutlich vervielfältigt. Über Jahrzehnte hielten es Union oder SPD abwechselnd in der Hand, heute tun sie es gleichzeitig und gemeinsam mit den Grünen. Die Vetomacht führt freilich nicht dazu, dass im Bundesrat reihenweise Gesetze der Bundesregierung zu Fall gebracht werden. Für echtes Zustimmungsversagen des Bundesrates finden sich zwar prominente, aber wenige Beispiele. Vielmehr werden Kompromisszwang und leiser Stillstand begünstigt. Die Bundesregierung holt die Vetomächte des Bundesrates an den Verhandlungstisch. Aus einem Kompromiss zwischen den Koalitionspartnern der Bundesregierung muss so ein noch breiterer Kompromiss werden. Scheitert eine Einigung, lässt die Regierung die Gesetze eher in der Schublade, um nicht später als handlungsunfähig vorgeführt zu werden. Simone Burkhart und Philip Manow konnten diese gesetzgeberische Selbstbeschränkung der Bundesregierung in einer empirischen Analyse der Bundesgesetzgebung nachweisen.
Natürlich folgt nicht jede Abstimmung im Bundesrat einer parteipolitischen Logik. Bei vielen Themen dominieren genuine Länderinteressen und die Länder bringen dort ihre Erfahrungen aus dem Gesetzesvollzug konstruktiv in die Bundesgesetzgebung ein. Auch ist die Parteigeschlossenheit im Bundesrat geringer als im Bundestag. Zahlreiche Autobahnabschnitte, Bahnstrecken und Sportstätten der Republik bezeugen still, dass der Bund einzelne Ministerpräsidenten aus einer möglichen Blockadefront im Bundesrat herauskaufen kann. Bei vielen wichtigen und bundespolitisch polarisierten Entscheidungen heißt es im Bundesrat aber oft: Erst die Partei, dann das Bundesland.
Dass SPD oder Union als Opposition im Bundestag über den Bundesrat mitregieren, kam in der bundesrepublikanischen Geschichte seit dem Ende der ersten großen Koalition (1966-1969) häufig vor. In der von Robert Roßmann in der SZ so getauften “Bundesrepublik Kenia” musste die vierte große Koalition zuletzt in vielen Fragen auf die Grünen zugehen, die über föderale Bande beispielsweise das Klimapaket verschärften. Völlig neu ist nun, dass künftig eine informelle Viererkoalition aus SPD, Grünen, FDP und Union begründet wird. Viele Entscheidungen sind nur mit Ampel plus Union möglich – aus der “Bundesrepublik Kenia” wird gemäß der eingeübten koalitionspolitischen Flaggenkunde eine “Bundesrepublik Simbabwe”.
Undemokratisch wie 300 Überhangmandate
Zahlreiche Mängel der Politik im Schatten des Bundesratsvetos sind bekannt. So ist die föderal verflochtene Kompromissfindung wenig transparent und verwischt politische Verantwortlichkeiten. Welche Partei nun welche Änderung im Bundesrat durchgesetzt oder blockiert hat, bleibt für die Wählerschaft oft im Dschungel des kooperativen Föderalismus verborgen. Auch die Qualität der Gesetze kann leiden. Wenn nicht nur für jede Regierungs- sondern auch noch für einige Oppositionsparteien oder eine bestimmte Landesregierung etwas dabei sein muss, ist Politik aus “einem Guss” schwierig und bleibt kleinteilig und inkrementell.
Bisher kaum beachtet wird, dass sich das Bundesratsveto immer mehr zu einem handfesten Demokratieproblem auswächst. In der Demokratie sollte die Mehrheit über die Richtung der Politik bestimmen dürfen. Unser Verhältniswahlsystem und die Verrenkungen beim Ausgleich von Überhangmandaten sollen gerade gewährleisten, dass hinter einer Regierungsmehrheit im Bundestag möglichst eine Wählermehrheit steht. Minderheiten gilt es natürlich in ihren Grundrechten zu schützen. Dass sie ihre politischen Vorstellungen etwa bei Steuersätzen oder Klimapolitik gegen eine Mehrheit durchsetzen können, verletzt jedoch politische Gleichheit.
Es braucht daher eine besondere Rechtfertigung, wenn die Regierungsmehrheit im Bundestag in ihrem Handlungsspielraum beschränkt wird. Eine Idee der Konstruktion des Bundesrates war zwar, dass er als Gegengewicht zum Parteienwettbewerb im Bundestag funktionieren sollte. Das Gegengewicht sollte jedoch weniger als ein antimajoritäres Veto im Sinne James Madisons wirken. Vielmehr sollte sich der Bundesrat über den alltäglichen Parteienkonflikt im Bundestag erheben, eine sachorientierte Lösungsfindung befördern und territorialen Interessen zur Berücksichtigung verhelfen. Auch unabhängig von den Ideen der Mütter und Väter des Grundgesetzes ist es heute kaum zu rechtfertigen, dass der Bundesrat eine zweite Arena für parteipolitische Interessendurchsetzung bietet. Schon gar nicht rechtfertigbar erscheint ein föderal vermitteltes parteipolitisches Minderheitenveto.
Indes, Minderheitenherrschaft ist schon lange präsent und schleicht sich im Gefolge des zersplitterten Parteiensystems noch weiter in den Bundesrat ein, da immer mehr und immer kleinere parteipolitische Minderheiten das Bundesratsveto auslösen können. Als Angela Merkel 2005 erstmalig zur Bundeskanzlerin gewählt wurde, waren 27 Landesparteien an 16 Landesregierungen beteiligt. In fünf Ländern regierte die Union alleine, anderswo gab es Zweierkoalitionen. Inzwischen wurden in den Ländern Kenia-, Jamaika- und Ampelkoalitionen gebildet. Heute zählen wir 40 Landesparteien in Regierungsverantwortung auf Landesebene. Seit 2005 hat also nahezu in jedem Bundesland eine zusätzliche Partei Zugriff auf die Bundesratsstimmen. Da sich heute mehr und kleinere Parteien zu einer Koalition in den Ländern zusammenfinden müssen, sind zudem die Wählerstimmen deutlich geschrumpft, die man für den Besitz des Bundesratsvetos einsammeln muss.
Der demokratisch bedenkliche Preisverfall von föderaler Vetomacht lässt sich quantifizieren, indem die Landtagswahlergebnisse auf die Bundesebene umgerechnet werden. Das fiktive Wahlergebnis einer Partei summiert sich dann aus ihren Einzelergebnissen bei den letzten Landtagswahlen in allen 16 Bundesländern (ein Beispiel: Zum Zeitpunkt der Bundestagswahl vom September 2021 haben die Grünen bei der jeweils letzten Landtagswahl in allen 16 Bundesländern insgesamt 5,5 Millionen Stimmen erhalten. Dies entspricht etwa 12 Prozent der etwa 46 Millionen Wähler, die sich an der Bundestagswahl 2017 beteiligt haben.)
Beim Blick auf diese Zahlen muss jedem schwindlig werden, der sich um Fairness und politische Gleichheit in der Bundesrepublik sorgt. In den 1990er Jahren sammelten Union und SPD jeweils mindestens 30 Prozent Wählerunterstützung auf Landesebene, bevor sie in den Genuss des Bundesratsvetos kommen konnten. Heute erreichen sie dies bereits mit etwa 20 Prozent. Die Grünen kommen derzeit mit 12 Prozent der bundesweiten Wählerunterstützung besonders günstig an föderale Vetomacht. Diese Unwuchten kommen zustande, da die Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen niedriger ist und Parteien unterschiedlicher Größe an Landesregierungen beteiligt sind. Beispielsweise verfügt die SPD in Sachsen, mit 7,7 Prozent kleinster Partner der dortigen Kenia-Koalition, über die vier Stimmen des Bundeslandes ebenso, wie die SPD über die vier Stimmen Brandenburgs, wo sie mit 26,2 Prozent den Ministerpräsidenten stellt.
Dies ist keine akademische Zahlenspielerei, sondern Nachweis eines eklatanten Demokratieproblems: Die Union wird künftig kraft 20 Prozent Wählerunterstützung auf Landesebene die Ampel zu vielen Kompromissen zwingen können, die selbst wiederum fast 50 Prozent Wählerunterstützung hinter sich weiß. Für einen ähnlich disproportionalen Einfluss im Bundestag müsste die Union über 300 unausgeglichene Überhangmandate vereinnahmen. Bevor auch nur jemand “Bundesverfassungsgericht” raunen könnte, würde eine solche Verzerrung umgehend korrigiert werden. Im Bundesrat akzeptieren wir sie, weil sie verschleiert ist und im Gewand vermeintlich überparteilicher Länderinteressen daherkommt.
Entmachtet die parteipolitischen Vetomächte im Bundesrat
Angesichts großer Gegensätze in der Umwelt-, Steuer- und Sozialpolitik ist die Bildung einer funktionierenden Ampelkoalition auf Bundesebene bereits eine Mammutaufgabe. Wenn die Union als Mitregent im Bundesrat hinzutritt, ist schwer vorstellbar, wie die Bundespolitik die anstehenden Aufgaben etwa bei Dekarbonisierung und Digitalisierung zügig angehen soll. Hinzu kommt, dass die demokratische Legitimität der Vetomacht im Bundesrat aufgrund der gesunkenen Wählerstimmengewichte in Frage steht – egal welche Partei das Veto nun in der Hand hält und einsetzt.
Wenn sich das Vielparteiensystem nicht selbst hemmen und die Handlungsfähigkeit der Politik in Deutschland nicht auf einen noch kleineren gemeinsamen Nenner schrumpfen soll, muss der Bundesrat reformiert werden. Für seine eigentliche Kernaufgabe, der Vertretung von Länderinteressen, braucht es keine Zuteilung von Vetomacht an einzelne Parteien. Wer verhindern oder verändern möchte, was von einer Bundestagsmehrheit beschlossen wurde, sollte nicht bloß vermeintliche Enthaltungen in der Länderkammer durchsetzen müssen. Er sollte selbst gezwungen sein, eine Mehrheit an expliziten Nein-Stimmen zu organisieren. Über eine solche Vetomacht verfügt im Bundesrat aktuell keine Partei und kein politisches Lager. Nur echte überparteiliche Länderinteressen könnten sich kollektiv gegen einen möglicherweise übergriffigen Bund wenden.
Das parteipolitische Blockadepotential des Bundesrates könnte auf denkbar einfache Art entschärft werden. Wie im Bundestag sollte im Bundesrat anstelle der absoluten Mehrheit die einfache Mehrheit gelten (siehe auch Best 2018). Einer Vorlage wird dann zugestimmt, wenn sie mehr Ja- als Neinstimmen auf sich vereint. Enthaltungen zählen dann nicht mehr automatisch gegen eine Vorlage. Anstatt sich auf vetobewehrte rote Linien zurückziehen zu können, müssten die Parteien dann offener und flexibler miteinander verhandeln, wenn sie Politik über den Bundesrat beeinflussen möchten. Wer auf Stillstand und maximale Kompromisse drängt, könnte einer Mehrheit nicht mehr so einfach im Wege stehen. So könnte Politik in der Bundesrepublik auch mit einem Vielparteiensystem funktionieren.
M.E. muss nicht der Bundesrat muss reformiert werden.
Vielmehr muss dafür gesorgt werden, dass die Landesverfassungen nicht im Bundesrat ausgehebelt werden.
So hat nach den Landesverfassungen nicht etwa die Landesregierung, sondern das Landesparlament das Gesetzgebungsrecht.
Der Regelung des Art. 51 Abs. 1 GG ist m.E. keine Regelung, die diesen Parlamentsvorbehalt der jeweiligen Landesverfassungen aufhebt (so auch BVerfG vom 18.12.2002, 2 BvF 1/02, Leitsatz 3: “Das Grundgesetz erwartet die einheitliche Stimmenabgabe und respektiert die Praxis der landesautonom bestimmten Stimmführer, ohne seinerseits mit Geboten und Festlegungen in den Verfassungsraum des Landes überzugreifen.”).
Hier wird lediglich die praktische Umsetzung geregelt.
Deshalb müsste m.E. jede Bundesratsentscheidung zuvor von allen Landtagen abgestimmt werden, die Bundesratsmitglieder sind an diese Entscheidungen dann gebunden und haben sie umzusetzen.
Parteipolitische Kungelei wäre so unmöglich.
Ebenso müsste sich nicht das Bundesverfassungsgericht (a.a.O.) mit Auslegungsproblemen bei der Abstimmung beschäftigen, denn es wäre klar, wie das jeweilige Land abgestimmt hat.
Was ist, wenn Nichtwählen eine politische Meinungsäußerung ist und wie würde sich das auswirken bei den unterschiedlichen Wahlbeteiligungen bei Bundestags- und Landtagswahlen?
“Wie im Bundestag sollte im Bundesrat anstelle der absoluten Mehrheit die einfache Mehrheit gelten (siehe auch Best 2018). ”
Das wäre eine sinnvolle Reform; alternativ könnte man auch die erzwungene Einheitlichkeit der Stimmenabgabe aufheben, sodass in jeden Land die Koaltionspartner unabhängig voneinander abstimmen könnten. Aber beides würde eine Grundgesetzänderung erfordern, die Zweidrittelmehrheiten im Bundestag und im Bundesrat bedarf – und natürlich hat die Union aktuell kein Interesse, ihrer eigenen bundespolitischen Entmachtung zuzustimmen, genausowenig wie bisher die Grünen (oder früher die SPD).
Die Diagnose teile ich, die Therapie halte ich jedoch nicht für wirksam: Geht man davon aus, dass die SPD, Grüne und FDP in ihren Landeskoalitionen mit CDU oder Linken wie bisher ihr Veto gegen ein Nein zu Gesetzen der künftigen Ampel im Bundestag einlegen, enthalten sich 13 von 16 (!) Ländern im Bundesrat. Allein Rheinland-Pfalz (Ampelkoaltion, 4 Stimmen, 4,1 Mio. Einwohner:innen) und Hamburg (Rot-Grün, 3, 1,8 Mio.) überstimmen das mehr als doppelt so große Bayern (CSU-FW, 6, 13,0 Mio.) mit einfacher Mehrheit. Kommt in einem zweiten Bundesland eine zweite Anti-Ampel-Koalition zustande (z.B. eine reine CDU-Regierung im Saarland im nächsten Frühjahr), hätten umgekehrt nur zwei Länder (9 Stimmen, 14 Mio. Einwohner:innen) eine einfache Blockademehrheit im Bundesrat.
Die Mehrheitsfindung im Bundesrat hängt an einigen wenigen Landesregierungen, deren Koalitionen allein aus Bundesregierungs- bzw. Oppositionsparteien bestehen. Dies führt eher zu zufälligen Entscheidungen als zu vernünftiger Berücksichtigung der Länderinteressen.