Bosnien und die Schwierigkeit, verallgemeinerbare Maßstäbe des Menschenrechtsschutzes zu schaffen
Es klingt ein bisschen weit hergeholt. Aber als Gedankenexperiment hat es durchaus was: Wenn man die Maßstäbe, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte an die Verfassung von Bosnien-Herzegowina anlegt, beim Wort nimmt, dann hat die Verfassung der Europäischen Union ein ernsthaftes Problem.
In Bosnien besteht die Legislative aus zwei Kammern, einem Repräsentantenhaus und einer Repräsentation der drei Ethnien, die 1992-95 im Bürgerkrieg miteinander lagen: Bosniaken, Serben und Kroaten. In diese zweite Kammer kann nur gewählt werden, wer einer dieser drei Ethnien angehört.
2009 hatte der EGMR dies als Diskriminierung u.a. von Roma und Juden bewertet. Seither weigert sich zum wachsenden Zorn des Europarats und auch der EU Bosnien beharrlich, dies zu korrigieren. Im Oktober wird es erneut Wahlen geben, doch wer sich nicht zur bosniakischen, serbischen oder kroatischen Ethnie bekennt, ist von Verfassungs wegen weiterhin nicht wählbar.
Besonders bizarr an dieser Situation ist, dass diese Verfassungslage nicht nur Minderheiten diskriminiert, sondern auch Bürger von Bosnien-Herzegowina als solche: Im Fall Zornić hatte der EGMR jetzt über die Situation einer Bürgerin zu urteilen, die sich nicht als Angehörige einer der drei Ethnien klassifizieren wollte, weil sie sich als Bürgerin eben jenes Landes empfindet, um dessen Verfassung es geht. Jetzt hat der EGMR entschieden und, wenig überraschend, erneut einen Verstoß gegen das Verbot festgestellt, beim passiven Wahlrecht nach ethnischen Kriterien zu diskriminieren.
Der polnische Richter Krzysztof Wojtyczek stimmt dabei aber gegen die Mehrheit und fordert, bei der Zweiten Kammer die Anforderungen an die Wahlrechtsgleichheit geringer zu halten.
In einer Seitenbemerkung macht Richter Wojtyczek dabei folgende Beobachtung:
According to the case-law of the Court, Article 3 is applicable to the legislature of the European Union (…). The European Union has a Parliament which is elected through universal but unequal suffrage and an unelected Council which enjoys wide legislative powers. In this context, serious doubts may arise as to whether the constitutional system of the European Union would pass the test implicitly laid down in the Sejdić and Finci case.
Der Test, dem der EGMR die bosnische Verfassung unterzieht, ist dieser: Wenn es sich um eine Kammer handelt, die über umfassende legislative Kompetenzen verfügt und deren Mitglieder direkt oder indirekt gewählt werden, dann gilt das Diskriminierungsverbot. Wenn es keine objektiv gerechtfertigte Grundlage für die Ungleichbehandlung gibt, dann ist das ein Verstoß.
Beim Europäischen Parlament (wie auch beim deutschen Bundesrat) könnte man einwenden, dass die legislativen Kompetenzen nicht so umfassend sind. Aber beim Rat?
Nun wäre es natürlich völlig abwegig zu vermuten, dass auf dieser Basis irgendein Urteil in Straßburg ergehen könnte, das der Unionsverfassung irgendwelche Mängel dieser Art attestiert. Der interessante Punkt hier scheint mir eher zu sein, dass hier zu greifen ist, wie schwer sich der EGMR gelegentlich tut, aus der Konvention Maßstäbe zu entwickeln, die tatsächlich über alle ihr angehörigen Verfassungsordnungen hinweg verallgemeinerbar sind.
Was Bosnien betrifft, so maße ich mir kein Urteil darüber an, ob es richtig oder falsch ist, diese bizarre Ethnienverfassung aufzuknacken und auf ihrer Änderung zu bestehen. Nach einem Bürgerkrieg mit 100.000 Toten und 1,3 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen ist womöglich auch nach 20 Jahren eine fehlerhafte, aber immerhin leidlich funktionierende Verfassung immer noch das geringste Übel, selbst wenn sie zu solchen No-Brainern führt, dass Staatsbürgerschaft ohne ethnisches Bekenntnis zum Ausschluss vom passiven Wahlrecht führt. Andererseits kann es auch gut sein, dass sich in dem Ethnienproporz mittlerweile bestimmte Machteliten so bequem eingerichtet haben, dass sie es sind und nicht die Sorge vor erneuten ethnischen Spannungen, die eine Verfassungsreform blockieren. So oder so lohnt es sich, Bosniens verfassungspolitisches Schicksal weiter im Auge zu behalten.
“Wenn es sich um eine Kammer handelt, die über umfassende legislative Kompetenzen verfügt und deren Mitglieder direkt oder indirekt gewählt werden, dann gilt das Diskriminierungsverbot.” Der Rat ist überhaupt kein Parlament. Schon deswegen hat das nichts mit der Argumentation des EGMR zu tun. Oder lass es mich so sagen: Der Wenn-Teil des Satzes enthält der Bedingungen: (1) Kammer, (2) umfassende legislative Kompetenzen, (3) Wahl. Davon sind im Falle des Rates NULLL Bedingungen erfüllt. Der Dann-Teil des Satzes braucht also niemanden zu beunruhigen.
Don’t feed the troll
@Elshorst: Liefern Sie doch mal Kontext für Ihren ständig gleichen Kommentar. Der Rat hat wirklich keine umfassende legislative Kompetenz, man nennt das im Europarecht bei den Juristen “Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung”. Er wird wirklich nicht gewählt (da sitzen Vertreter der Mitgliedstaaten drin) und er ist wirklich keine Kammer. So what?
Seit dem man weiß, wer der “Aufmerksame Leser” – Dank seiner identifzierenden Posts – ist, sind seine und die auf ihn bezogenen Einwürfe doch recht amüsant.
@Porsmörk: Grüße nach Island :-)