Brave New World
“Can I see your ID?” Inzwischen liegt die Vollendung meines 21. Lebensjahres schon so lang zurück, dass mich diese Frage nicht schmeichelt, sondern nur noch irritiert. Dabei will ich an diesem Nachmittag bei “Wholefoods” in Ann Arbor gar keine harten geistigen Getränke erwerben, sondern nur eine Flasche toskanischen Rotwein, den man den Nachbarn zum Abendessen in ihren Waldgarten mitbringen kann. Zugegeben, bei 35 Grad Celsius ist auch ein Antinori mit 13,5 Prozent schweres Geschütz, und es ist ohnehin höchst fragwürdig, Lebensmittel aus einer mehr als 7000 Kilometer entfernten Weltgegend zu konsumieren. Aber in diesen Zeiten schadet ein wenig Werbung für die italienische Weinwirtschaft nicht, wenn sie amerikanische Bildungsbürger an den Arno lockt. Dafür interessiert sich die junge Frau mit der durchdringenden Stimme an der Kasse aber nicht im Geringsten. Umso mehr für meinen Personalausweis, den sie mit kritischem Blick inspiziert.
“Is this an ID from a foreign country?” Ja, Deutschland ist irgendwie schon sehr fremd. “I’m not sure we accept IDs from foreign countries”. Mein Einwand, dass es hier wohl eher um das Geburtsdatum als um die Staatsangehörigkeit gehe, wird geflissentlich ignoriert. Ach, wie einfach wärs, wenn mein Geburtsdatum auf meiner Kreditkarte vermerkt wäre. Global credibility. Schon ist die Kassierin in ein wortreiches Telefonat mit ihrem Backoffice verwickelt, das meinen Ausweis zum Gegenstand hat. Ich krame meinen Führerschein aus der Tasche, immer noch fast so rosa wie im Ausstellungsjahr, und kaum zerfleddert. Das macht schon mehr Eindruck, aber doch nicht genug. Ich weise darauf hin, dass ich auch noch einen Reisepass dabei hätte, falls weitere Identifikation erforderlich sei – und lege das Dokument vorsorglich auf den Tresen. Inzwischen ist ein älterer Kollege von der nächsten Hierarchiebene des Biosupermarkts hinzugekommen, der meine diversen Personaldokumente nun einer gestrengen Prüfung unterzieht. Langsam werde ich nervös. Prüfende Blicke, offenbar kommen hier selten Europäer vorbei, die Alkohol erwerben wollen und dabei exotische weinrote Pässe vorlegen müssen. Kassiererin und Marktleiter mustern minutenlang suchend die Papiere. Ich zeige schließlich auf das Geburtsdatum. “OK, fine.“
Im Land der Freien geht man gern auf Nummer sicher. Immer wieder erstaunt mich in diesen Tagen, dass selbst selbst eingefleischte Liberale den NSA-Überwachungsskandal nicht besonders diskussionswürdig finden. Klar, ganz koscher ist die ganze Sache nicht – aber wenn’s der Wahrheitsfindung dient? Sensiblere Geister registrieren zumindest, dass hier die globale Glaubwürdigkeit der USA auf dem Spiel steht – und sehen, dass jene “public diplomacy”, die unter F. D. Roosevelt eine Säule amerikanischer Außenpolitik wurde (dazu lese ich gerade ein sehr spannendes Buch des Historikers Justin Hart, “Empire of Ideas: The Origins of Public Diplomacy and the Transformation of U.S. Foreign Policy“), inzwischen ziemlich auf den Hund gekommen ist.
Vorbei die goldenen Zeiten, als die Ford Foundation mit dem Segen des State Department großzügig ihre Schatullen öffnete, um hohe Beamte der EWG-Kommission nach Michigan einzuladen. Walter Hallstein schickte seine Bürokraten gern auf die Reise in die Neue Welt, wo sie im mittleren Westen an der University of Michigan Law School amerikanisches Wirtschaftsrecht studierten und anschließend in Dearborn bei Ford am Fließband den neusten Stand der Automatisierung in Augenschein nahmen. Seit Donnerstag ist das einst boomende Detroit nun pleite, nachdem die Stadt schon jahrzehntelang dahinsiechte: Die Heimatstadt der amerikanischen Autoindustrie hat offiziell Konkurs angemeldet. Es ist, wie die FAZ meldet, der größte Insolvenzfall einer Kommune in der Geschichte der Vereinigten Staaten.
Stehen öffentliche Institutionen vor dem Niedergang? Hier in Ann Arbor (wo ich bei diversen Studienaufenthalten in den vergangenen Jahren von den festen Mauern einer ökonomisch soliden Universitätsstadt aus den graduellen Abstieg einer seit langem kränkelnden Region miterleben konnte, der die Wirtschaftskrise den Rest gegeben hat) hat Noam Chomsky in der vergangenen Woche in deutlichen Worten die “Korporatisierung” der amerikanischen Universitäten und die Privatisierung öffentlicher Güter im Bereich von Bildung und Wissenschaft kritisiert. (“Korporatisierung” klingt im Deutschen seltsam, ich finde aber keinen treffenderen Begriff – mehr zu dieser und anderen Begriffsfragen findet sich hier). Tatsächlich ist auch eine staatliche Universität wie die University of Michigan, die keinen Vergleich mit den großen privaten Konkurrenten an der Ostküste zu scheuen braucht (Andreas Eckert hat darüber neulich sehr anschaulich in den “Geisteswissenschaften” der FAZ geschrieben), zunehmendem Kommerzialisierungsdruck ausgesetzt. Die hohen Studiengebühren bereiten Studierenden schlaflose Nächte. “Werde ich nach meinem Abschluß mit dieser erdrückenden Schuldenlast überhaupt noch frei sein, meinen Arbeitsplatz und meine Lebensumstände frei zu wählen? So wie es jetzt aussieht, werde ich bis in mein sechstes Lebensjahrzehnt erstmal damit beschäftigt sein, meine Ausbildungskosten abzuzahlen”, sagt mir eine Studentin der unter Archivaren international angesehenen School of Information. Dass ihre Universität ihr E-Mail-System im vergangenen Jahr durch Gmail ersetzt hat, (nun: M+Google) findet sie indes nicht besonders problematisch.
In Ann Arbor lobte Noam Chomsky Deutschland als Beispiel für die staatliche Förderung des Zugangs zu universitärer Bildung. Des umtriebigen Großintellektuellen Wort in Gottes Ohr. Ein kommunaler Schuldenstand, der in einigen deutschen Großstädten nicht geringer ausfällt als in Detroit, motiviert derzeit auch zuhaus forsche Politiker, Wissenschaftsstandorte von Weltrang schnell mal aushungern zu wollen – dabei werden sich ohne kluge Köpfe auf Dauer auch keine smarten Unternehmer in einer Großstadt ansiedeln lassen.
Transatlantische Begegnungen bleiben spannend. Das ist einer der Gründe, warum es in diesem Herbst zum zweiten Mal einen ASIL-ESIL-Rechtskulturen Workshop on International Legal Theory geben wird. Im vergangenen Jahr trafen sich dazu Juristen und Politikwissenschaftler von dies- und jenseits des großen Teichs (und dies- und jenseits desselben ist ja irgendwie die ganze Welt) am Lauterpacht Centre der Universität Cambridge. Diesmal wird die University of Michigan Law School Gastgeber sein, in Ann Arbor. Bis Sonntag läuft die Bewerbungsfrist.