Sicherungsverwahrung: Karlsruhe sägt an der Föderalismusreform
Über die ganze Aufregung über freizulassende Sexbestien und dergleichen gerät ein interessanter Aspekt des gestrigen Urteils aus Karlsruhe ganz aus dem Blickfeld: Wie soll das überhaupt gehen, das Bundesverfassungsgericht jetzt gesetzgeberisch zufriedenzustellen?
Wie die Haftbedingungen für Strafgefangene und Sicherungsverwahrte beschaffen sind, steht im Strafvollzugsgesetz. Das ist vom Bund erlassen, aufgrund des alten Art. 74 I Nr. 1 GG, das dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für das Strafvollzugsrecht gab.
Die ist aber 2006 aus der Verfassung gestrichen worden. Wir erinnern uns: Da gab es die Föderalismusreform, jenes unselige verfassungspolitische Großprojekt, an dem sich Stoiber und Müntefering damals fast die Köpfe kaputtgestoßen hätten. Die Länder sollten wieder mehr eigene Gestaltungsspielräume bekommen und im Gegenzug ihren Griff auf die Bundespolitik lockern, so dass beide Ebenen wieder mehr Handlungsspielräume erhalten.
Das erwies sich als furchtbar schwierig, und was herauskam, stellte kaum jemand zufrieden – aber immerhin: Der Strafvollzug, darin waren sich verfassungsändernde Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat einig, sollte künftig allein in der Verantwortung der Länder liegen.
“Wesentliche Leitlinien”
Und was lesen wir jetzt in dem Urteil aus Karlsruhe?
Aus Sicht des Freiheitsschutzes spielt es insoweit keine Rolle, dass der Bundesgesetzgeber seit der Föderalismusreform im Jahr 2006 nicht mehr über die Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug verfügt.
Öha.
Wenn er sich im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz für das Strafrecht aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG für ein zweispuriges Sanktionensystem und den Einsatz einer so einschneidenden freiheitsentziehenden Maßnahme wie der Sicherungsverwahrung entscheidet, muss er die wesentlichen Leitlinien des freiheitsorientierten und therapiegerichteten Gesamtkonzepts, das der Sicherungsverwahrung von Verfassungs wegen zugrundezulegen ist, selbst regeln und sicherstellen, dass diese konzeptionelle Ausrichtung der Sicherungsverwahrung nicht durch landesrechtliche Regelungen unterlaufen werden kann.
Die “wesentlichen Leitlinien” festlegen? “Sicherstellen”, dass die Länder schön auf Linie bleiben und nichts “unterlaufen”?
Was immer man von den Ländern und ihren gesetzgeberischen Fähigkeiten/Möglichkeiten im Einzelnen hält: Das ist, sage ich mal, doch ein sehr robuster Umgang eines Verfassungsgerichts mit dem glashart dokumentierten Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers. Zu diesem Willen gehörte, apropos “wesentliche Leitlinien”, beispielsweise auch, die Rahmengesetzgebung abzuschaffen.
Bundes- und Landesgesetzgeber stehen gemeinsam in der Pflicht, ein normatives Regelungskonzept zu schaffen, welches den dargelegten Anforderungen genügt. Ihre Aufgabe ist es, unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Kompetenzgefüges ein freiheitsorientiertes und therapiegerichtetes Gesamtkonzept der Sicherungsverwahrung zu entwickeln,
heißt es in dem Urteil weiter.
Gemeinsam ein normatives Regelungskonzept entwickeln? Die JuMiKo als kollektives Gesetzgebungsorgan?
Ich bin ja immer sehr dafür, dass Frau Merk und Frau Schnarrenberger sich vernünftig zusammensetzen und gemeinsam an legislativen Konzepten feilen (wünsche viel Vergnügen). Aber ich spiele ja keine Rolle. Die letzte große Verfassungsreform in Deutschland galt dem Bemühen, diesem ständigen “gemeinsam” ein Ende zu bereiten. Dass der Zweite Senat dafür nur ein Achselzucken übrig hat, ist schon bemerkenswert.
Als Nicht-Jurist hatte ich das Urteil so verstanden, dass die Sicherungsverwahrung generell nicht als “Strafe”, also im Rahmen des Strafvollzugs vorgenommen werden darf, sondern nur als Therapie mit keinem definierten Ende. Meine Schlussfolgerung wäre daher, dass es auch nicht im Strafvollzugsgesetz, welches Ländersache ist, geregelt werden kann.
Aber auch dann hat der Bund dafür keine Kompetenz mehr. Soweit man das als Gefahrenabwehr sieht, ist das schon sowieso Ländersache. Wobei es ja nach wie vor so ist, dass es um den Vollzug von nach dem StGB verhängten Sanktionen geht, auch wenn man das nicht unter “Strafe” subsumieren mag.
Ein vergleichbarer Kompetenzbruch findet sich auch im Vorratsdaten-Urteil, in dem dem Bund detaillierte Vorgaben dazu gemacht werden, unter welchen Voraussetzungen die bevorrateten Daten abgerufen werden dürfen, obwohl für die Regelung des Abrufs zT die Länder zuständig sind. Die Länder können dann im Wesentlichen zu der bundesgesetzlich vorgeformten Abrufmöglichkeit nur noch ja oder nein sagen.
Solche Anforderungen sind m.E. dann unvermeidbar, wenn ein Grundrechtseingriff sich erst im Zusammenwirken von sachlich eng miteinander verzahnten, kompetenzrechtlich aber getrennten Regelungsmaterien ergibt (also hier: Sanktionensystem-Strafvollzug, im Vorratsdatenfall: Telekommunikation-Gefahrenabwehr/Verfassungsschutz). Ansonsten könnten sich schlimmstenfalls Bund und Länder hintereinander verstecken, indem sie für Missstände die jeweils andere Stelle verantwortlich machen; dementsprechend fehlte es an einem klaren Adressaten für verfassungsrechtliche Beanstandungen.
Ein Ansatz zur Legitimation dieser Kompetenzverschleifung ergibt sich, wenn man berücksichtigt, dass die bundesstaatliche Kompetenzordnung gerade auch der Freiheitssicherung durch Machtverteilung dient, hier aber ein striktes Beharren auf den Kompetenzgrenzen genau den gegenteiligen Effekt haben könnte.
So dramatisch ist das Dramatisierte doch gar nicht:
Laut BVerfG soll der Bundesgesetzgeber doch nur die Voraussetzungen der SiV so eindeutig regeln (und als Strafe / Therapie klassifizieren), dass nicht auf Vollzugsseite, etwa durch weite Ermessensvorschriften, das ganze wieder in Richtung undefinierbarer Strafe/Therapie-Mischmasch kippt. Dass der Vollzug seit der FR auf Länderseite geregelt wird, macht eine solche Kompetenzabgrenzung (die nimmt das BVerfG an der Stelle nämlich vor!) wegen grundrechtssensibler Materie wichtig, weil diese Gefahr vor der FR nunmal nicht bestand.
Die “gemeinsame Entwicklungsaufgabe” ist doch pure Verfassungs(gerichts)poesie. Natürlich haben Bund und Länder aufgrund ihrer Bindung an die Grundrechte des GG grundsätzlich den Auftrag gemeinsam solche Probleme zu regeln, nicht nur bezogen auf die SiV. Ob die sich dann tatsächlich abstimmen oder im Gegenteil ihre Kompetenzen im Wege des Bund-Länder-Streits zu klären versuchen, ist letztlich wurst. Entscheidend fürs BVerfG ist, ob die aufgeteilte Regelungsmaterie insgesamt (und auch nach der FR) den grundrechtlichen Verfassungsgeboten gerecht wird, und da ist der Bundesgesetzgeber als derjenige, der die Tatbestandsvoraussetzungen der SiV normiert, nunmal als erster am Zug. Das von Dir beschriebene Hinweggehen über den Willen des verfassungsändernen Gesetzgebers sehe ich im Urteil an keiner Stelle.
Der Vergleich ist gut, auch wenn ich die Schlußfolgerung nicht ganz teile.
Im einzelnen: http://blog.delegibus.com/965 (“Nochmal der Bund, nochmal die Hooligans”)
Auf der EU-Ebene gibt es Verträge, Vorschriften und Richtlinien. Könnte das Bund nicht ähnlich verfahren ? Richtlinien geben den Rahmen in dem die jeweilige Landesgesetzen halten muss, ob es am Abend ein Abendbrot oder eine Suppe gibt (Art der Therapie) bleibt den Länder überlassen.
Da hat sich das Bundesverfassungsgericht selbst aber auch in einige schwierige Lage gebracht. Es hätte schlicht 2004 nicht urteilen sollen, dass die Sicherungsverwahrung in die Kompetenz des Bundes fällt, nur weil sie an die Strafttat anknüpft. Dann gäbe es das Dilemma nicht. Denn wie sie schon richtig im aktuellen Fall ausführen, dient sie allein präventiven Zwecken. Dennoch würde ich die Ausführungen ebenfalls nicht so dramatisch sehen. Das BVerfG probiert hetzt nur abzugrenzen, was noch Sicherungsverwahrung und was schon Vollzug ist. Dabei sind in der Tat ein paar irreführende Formulierung, doch macht es im Fortgang doch sehr deutlich, was damit gemeint ist, in dem es präzise ausführt, wer was zu tun hat.
Ihr Kommentar ist juristisch natürlich völlig zutreffend; es ist erstaunlich, wie da das eher aus der Sphäre der Politik bekannte “Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?” hier Einzug zu halten scheint.
Gleichwohl ist den Karlsruhern nicht verborgen geblieben, dass in der politischen Klasse im Bund und den Ländern niemand so recht glücklich ist mit der Föderalismusreform. Insofern liegt das BVerfG POLITISCH im Trend, wenn es die Bundeskompetenz für dieses Politikfeld (und auch für andere?) fordert. Ich sehe jedenfalls außerhalb der Verfassungsdogmatik niemanden, der sich gegenwärtig darüber aufregen würde. Und wen interessiert schon Verfassungsdogmatik? Karlsruhe selbst war nach meiner Kenntnis noch nie bekannt als der Hort der reinen Lehre.
Die Passage zum Föderalismus ist mir auch aufgefallen. Allerdings hat sie mir gefallen. Denn es ist wirklich ein Unding, dass der Bund gar keine Kompetenz mehr in der Frage der Menschenrechte von Gefangenen haben sollte. Vielleicht muss die Föderalismusreform da ein wenig nachgebessert werden.