11 May 2020

Carl Schmitt und die Pandemie. Teil I

Unsere gegenwärtigen Corona-Zeiten werden weithin alltagssprachlich als große Katastrophe, Krise und „Ausnahmezustand“ wahrgenommen. Deshalb verwundert es nicht, dass in den Debatten gelegentlich auch der Name Carl Schmitts fällt. Sein Werk steht vor und nach 1933 für die extensive Rechtfertigung diktatorischer „Maßnahmen“ im „Ausnahmezustand“. Mit seiner Theorie und „Verfassungslehre“ verbindet sich die Erwartung, grundbegriffliche Orientierung in den Lücken des Gesetzes, rechtsfreien Räumen und im unübersichtlichen Gelände zu finden. Das liegt umso eher nahe, je weniger sich das gegenwärtige Staatshandeln auf juristisch gesichertem Boden befindet. 

Wer in Schmitts einschlägigen Schriften nachschlägt,((Vgl. dazu Verf., Carl Schmitt zur Einführung, 5. Aufl., Hamburg 2017; ders., Carl Schmitt: Denker im Widerspruch, Freiburg 2017; zum Forschungsstand Verf., Vom Umgang mit Carl Schmitt. Die Forschungsdynamik der letzten Epoche im Rezensionsspiegel, Baden-Baden 2018.)) der Politischen Theologie von 1922, dem Hüter der Verfassung von 1931 oder anderen Schriften, die die Maßnahmen des Präsidialsystems auf der Grundlage der Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 erörtern, wird buchstäblich keine Ausführungen zum medizinischen oder gar pandemischen Notstandshandeln finden. Die grundbegrifflichen Unterscheidungen von Normal- und Ausnahmezustand, Gesetz und Maßnahme haben aber aktuelle Relevanz. Bevor man jedoch eine solche grundbegriffliche Adaption und Transposition vornimmt, ist es sinnvoll, historisch-biographisch an die „konkrete“ Betrachtungsweise und Analyse der „Lage“ zu erinnern, auf die Schmitt antwortete und die er methodisch zu erfassen suchte. Der folgende Beitrag gliedert sich deshalb in zwei Teile, die in kurzem Abstand getrennt erscheinen. Der erste argumentiert historisch-biographisch und der zweite skizziert Schmitts Ansatz und adaptiert ihn mit einigen Kategorien für die gegenwärtige Corona-Lage.

Schmitts erste Studien zur Diktatur entstanden seit 1915 im militärischen Auftrag und Rahmen des damaligen Kriegsnotstandsrechts. Schmitt war nach seinem 2. juristischen Staatsexamen als kriegsfreiwilliger Verwaltungsjurist in das I. Stellvertretende Generalkommando München eingetreten und begann damals bald mit begriffs- und verfassungsgeschichtlichen Studien zur Diktatur, aus denen 1916 eine erste größere Abhandlung Diktatur und Belagerungszustand hervorging, auf die Anfang 1921 die Monographie Die Diktatur folgte. Seine bekannte Broschüre Politische Theologie war 1922 dann ein Fazit und Auftakt. Sie schloss die früheren Arbeiten zur Entwicklung der „Diktatur“ ab und übersetzte sie in einen Souveränitätsbegriff und eine „Lehre von der Souveränität“, die über den Begriff des Politischen von 1927 zur ausgearbeiteten Verfassungslehre von 1928 führte, die Schmitt dann in seine Apologie des Präsidialsystems und des Nationalsozialismus übersetzte. Rückblickend bezeichnete er sein Werk, mit dem Titel seiner Aufsatzsammlung von 1940 gesprochen, als „Positionen und Begriffe im Kampf im Kampf mit Weimar, Genf, Versailles“. Als politisches Basisfaktum betrachtete er demnach „Versailles“. Die Wirtschaftskrisen der Weimarer Republik, Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise nach dem „Schwarzen Freitag“ von 1929 sah er nicht als isolierte Ereignisse an, die relativ unabhängig von den politischen Entwicklungen wären. Gegen Walther Rathenaus Wort von der Wirtschaft als „Schicksal“ setzte er explizit die Politik als „totale“, totalisierende Macht und „Schicksal“. Von der medizinischen Gesundheitspolitik sprach er dabei nicht.

Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs war demnach für Schmitts Sicht der Verfassungsgeschichte und Tendenz zur exekutivstaatlichen Diktatur prägend. Ernst Rudolf Huber, ein Bonner Schüler Schmitts, stellte die Entwicklung in seiner monumentalen Verfassungsgeschichte detailliert dar. Unter Berufung auf Schmitt betonte er die „epochale Bedeutung des Kriegs-Ermächtigungsgesetzes“ vom 4. August 1914 als „Verfassungsereignis von epochemachendem Rang“ und „Ende des Zeitalters des ‚gewaltenteilenden Konstitutionalismus’“((Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. V: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914-1919, Stuttgart 1978, S. 62 ff.)) und führte im Einzelnen aus, welche Grundrechte im „einfachen“ und „verschärften“ Kriegszustand ausgesetzt werden durften.((Huber, ebd., S. 42 ff.)) Schutzhaft und Aufenthaltsbeschränkungen, Einschränkungen der Versammlungsfreiheit und eine weitreichende Presse- und Briefzensur wurden zulässig. Die Kriegsverfassung organisierte die „Kriegswirtschaft“: die Ernährungsverwaltung, Rüstungswirtschaft, Energie- und Rohstoffwirtschaft und viele andere Aspekte in bis dahin ungeahntem Ausmaß. Von spezifischen hygienepolitischen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Spanischen Grippe spricht Huber in seiner detaillierten Darstellung nicht. Die „zweite Welle“ der Herbstepidemie 1918 fiel mit dem Kriegsende, Sturz des Wilhelminismus und Übergang zur Verfassungsrevolution zusammen, so dass damals statt weitergehender Beschränkungen vielmehr ein „Abbau des Kriegszustands“((Huber, ebd., S. 606 ff., 733 ff.)) erfolgte. Am 12. November 1918 wurde der seit Kriegsbeginn herrschende „Belagerungszustand“ förmlich aufgehoben.

Von Schmitts damaliger Tätigkeit im Generalkommando sind uns nur wenige Quellen bekannt. Es fehlen für die Jahre 1917 bis 1921 auch starke biographische Quellen. Schmitt unterbrach seine Studien zur Diktatur 1917/18 für die Abfassung seiner Monographie Politische Romantik, die Anfang 1919 erschien. Bis Sommer 1919 verblieb er im Münchner Militärdienst und wechselte dann zum Wintersemester 1919/20 an die Handelshochschule München. 1921 wurde er Ordinarius an der Universität Greifswald.

Schmitt erlebte Krieg und Kriegsende, Revolution, Reichsexekution und Gegenrevolution also in München.((Dazu jetzt Verf., Offene Anfänge? Carl Schmitts frühe Option für die Gegenrevolution, in: Annette Meyer/Julia Schreiner (Hg.), Wissenschaft Macht Politik. Die Münchener Revolution und Räterepublik als Experimentierfeld gesellschaftspolitischer Theorien, Göttingen 2020, S. 174–198.)) Die Spanische Grippe erörterte er in seinem Werk nirgends näher. Eckard Michels hat ihre Ausbreitung gut dargestellt und dabei auch militärische Quellen berücksichtigt. Die Ankunft der Grippe war für die militärischen Planungen in der Endphase des Krieges von erheblicher Bedeutung. Michels führt aus, dass sie im März 1918 vermutlich über französische Kriegsgefangene nach Deutschland kam, bildeten die Kriegsfronten doch gewissermaßen Quarantänegrenzen. In bayerischen Heeren gab es im Juli 1918 den höchsten Krankenstand mit etwa 10 %. Es gab eine Diskrepanz zwischen der internen militärischen Einschätzung und der öffentlichen Kommunikation der Grippe durch die Presse. Für die strategischen Planungen des Militärs spielte die Grippe niemals eine entscheidende Bedeutung; sie wurde als eher geringer Faktor erachtet, demoralisierte aber die Truppe, wurde unter Zensurbedingungen eher marginalisiert und erst nach der militärischen Niederlage als Ausrede dramatisiert. Dabei war Deutschland infolge der verzögerten Ankunft der Pandemie und des relativ funktionierenden medizinischen Systems weniger betroffen als andere Nachbarstaaten. Die medizinische Kenntnis der Grippe war damals noch sehr unvollkommen. Erst 1933 wurde der Influenzavirus entdeckt. Kriegsentscheidend war die Spanische Grippe nicht, die schwere zweite Herbstwelle erreichte Deutschland auch erst nach der Kapitulation. 

Michels betont, dass gerade die Militärverwaltung über die Entwicklung der Pandemie gut informiert war und mit den Befunden strategisch umging. Die Grippe wurde medizinisch in ihren Folgen nicht überschätzt, obgleich die jüngeren Jahrgänge, anders als heute bei Covid-19, weit stärker als die älteren betroffen waren. Die Presse wurde zensiert und nur sehr wenige behördliche Eindämmungsmaßnahmen wurden beschlossen, um die Moral der Bevölkerung nicht weiter zu schwächen. So wurde die Gastronomie nicht geschlossen, obgleich die Krankenhäuser überfüllt waren und nicht alle Patienten betreut werden konnten. Wirksame Medizin gab es nicht. Michels schreibt (hier auf S. 23):

Die Berichte der Stimmung in der Bevölkerung der drei stellvertretenden bayerischen Generalkommandos im Herbst 1918 jedenfalls erwähnen nur einmal die Grippe: ‚Der Abfall Bulgariens, der Zerfall der Donaumonarchie, der Rücktritt Ludendorffs, die Preisgabe der nordfranzösischen Städte an der flandrischen Küste, die Bargeldknappheit und die Ernährungsschwierigkeiten, sowie die Furcht vor einer feindlichen Invasion haben bei der Bevölkerung großen Schrecken und große Sorge ausgelöst; das Auftreten der Spanischen Grippe mit zahlreichen Todesfällen mehrt die Ängstigung.’“

Der Bericht stammt aus dem II. bayerischen Armeekorps. Schmitt war damals im I. Generalkommando tätig, dort auch für die Presseüberwachung und ähnliche Aufgaben zuständig,((Dazu die Dokumente in Ernst Hüsmert/Gerd Giesler (Hg.), Carl Schmitt. Die Militärzeit 1915 bis 1919, Berlin 2005, S. 191 ff.)) und es ist anzunehmen, dass man sich in München besprach. 1978 schrieb Schmitt, fast 90 Jahre alt, seinem Bonner Schüler Huber zum Erhalt des fünften Bandes Verfassungsgeschichte, der die Jahre 1914 bis 1919 behandelt: 

Sie haben Recht, wenn Sie vermuten, dass ich diese Geschichte des ersten Weltkriegs und der anschliessenden Nachkriegsjahre als Zeitgeschichte mit autobiographischem Interesse lesen kann: denn ich war vier Jahre lang Referent für Kriegszustandsrecht (nach dem bayerischen Kriegs-Zustands-Gesetz) der Abteilung P beim Stellvertretenden Generalkommando I beim Armee-Korps in München in der Herzog-Max-Burg, anschliessend Objekt der Eisner- und Niekisch-Republik und dann wieder beim Stabe der Regierungstruppen (Hauptmann Roth, der spätere bayerische Justizminister) – alles Abschnitte Ihrer verfassungsgeschichtlichen Darstellung, die ich persönlich verifizieren kann.“((Schmitt am 10. März 1978 an Huber, in: Ewald Grothe (Hg.), Carl Schmitt/Ernst Rudolf Huber. Briefwechsel 1926–1981, Berlin 2014, S. 384 f.))

Von der Spanischen Grippe spricht Schmitt hier nicht. Sie flaute nach 1918 auch langsam ab. Eine dritte Welle gab es im Frühjahr 1919, danach folgten noch „Trailerwellen eines sich erst langsam abschwächenden Virus“ (Michels, S. 25). Michels spricht insgesamt von einer „Exzessmortalität von etwa 320000 bis 350000 Personen“ (S. 27) und einer Ansteckungsquote von „etwa 20 bis 25 Prozent“ allein in 1918. Es ist nicht bekannt, ob Schmitt damals erkrankte. Sicher kam er aber im Frühjahr 1920 mit einem späten Opfer der Grippe in Kontakt. Er gehörte nämlich im Sommersemester 1920 zu den wenigen exklusiven Teilnehmern von Max Webers Dozentenseminar. Ende Mai befiel Weber die Grippe, die zunächst nur als Bronchitis diagnostiziert wurde, da die Wellen seit dem Frühjahr eigentlich abgeklungen waren. Anfang Juni wurde dann eine Lungenentzündung diagnostiziert. Nach dem Bericht von Marianne Weber intonierte Max dem Arzt gegenüber mit einer Figaro-Arie noch eine Art Totentanz und verfiel dann in Delirien: 

In der vorletzten Nacht wähnt er den Schüler an seinem Bett. Er prüft ihn und lobt ihn mit ergreifender Stimme. […] Er disputiert manchmal in verschiedenen Sprachen, offenbar politisch mit seinen Feinden. […] In der letzten Nacht nennt er den Namen Catos und sagt mit unergründlichem Geheimnis in der Stimme: ‚Das Wahre ist die Wahrheit.’“((Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, 2. Aufl., Heidelberg 1950, S. 752 ff, hier: S. 754; an die Parallele zur Corona-Gegenwart erinnerte Hans-Christof Kraus, Grausame Stunde. Die Spanische Grippe, in: FAZ (2020), Nr. 78 v. 1. April, S. N3.))

Hat Marianne sich hier nicht einfach verhört? Rief Weber nicht eher den Namen Platos? Er verstarb jedenfalls als spätes Opfer der Grippe am 14. Juni. Schmitt hat sich nur selten zu seiner Bekanntschaft mit Weber geäußert. Von näheren Begegnungen sprach er nicht. 1973 schrieb er einmal: 

Max Weber habe ich erst 1919 persönlich kennengelernt, in München als Hörer seiner damaligen Vorlesungen und Mitglied seines Dozenten-Seminars (Kurt-Eisner-Zeit); Eisner ist als Modell des ‚Charisma’ und der ‚charismatischen Legitimität’ in Webers Soziologie eingegangen.“((Schmitt am 31. Juli 1973 an Hansjörg Viesel, in: Viesel, Jawohl, der Schmitt. Zehn Briefe aus Plettenberg, Berlin 1988, S. 20.))

Stets zielte Schmitt in seinen späten Bemerkungen auf Weber als Ahnherr seiner Konzeption vom plebiszitären Führerstaat; er sprach vom „Charisma“, nicht vom Grippe-Virus. 

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Schmitt den medizinischen Ausnahmezustand in seinen Schriften nicht thematisierte, obgleich er dem Problem vor und nach 1918 in München begegnete. Medizinisch war der Virus aber noch nicht identifiziert. Irrtümlich wurde er deshalb auch mit der Mangelernährung bei Kriegsende verbunden und also partiell mit der politischen und ökonomischen Notlage erklärt. Auch deshalb erschien er nicht prioritär. Als Verwaltungsjurist im Generalkommando hatte Schmitt damals spezifische Einsichten in die Virus-Politik. Die Spanische Grippe wurde medizinisch, militärisch und strategisch aber nicht priorisiert. Als die Weimarer Verfassung im Sommer 1919 dann in Kraft trat, war die Grippewelle bereits abgeklungen. 

Nach wenigen Abschlussbemerkungen in der Monographie von 1921((Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum Proletarischen Klassenkampf, 2. Aufl., München 1927, S. 201 ff.)) begann Schmitt erst 1924 mit der näheren verfassungsrechtlichen Analyse des Art. 48 WRV. Seine Auslegungen griffen nicht auf die Zeit des Wilhelminismus zurück. Schmitt konzipierte seine Souveränitätslehre auch nicht mit Blick auf den medizinisch-pandemischen Ausnahmezustand der Spanischen Grippe, die überwunden schien. Auch die Wirtschaftskrisen der Weimarer Republik thematisierte er primär als Folgen von „Versailles“, lehnte marxistische Erklärungen der Krisen des „Kapitalismus“ ab und verstand den „Ausnahmezustand“ primär als Folge von Politik. 


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