30 September 2021

Die Chilenische Verfassunggebende Versammlung

Die Praxis zwischen tagespolitischen Machtansprüchen und dem sozialökonomischen Kontext

Die Verfassunggebende Versammlung in Chile hat am 28. und 29. September 2021 die grundsätzlichen Verfahrensregeln ihrer Arbeit verabschiedet. Dies geschah, nachdem sie am 4. Juli zum ersten Mal zusammengekommen war und im Mai 2021 155 Mitglieder – vor allem unabhängige Kandidaten – gewählt wurden. In dem Zeitraum ist auch klargeworden, dass die Verfassunggebende Versammlung zwar eigentlich Tabula rasa machen und eine Verfassung auf einem weißen Blatt Papier schreiben sollte, sich dies in der Praxis jedoch als schwierig gestaltet. Der politische und sozialökonomische Kontext hat einen erheblichen Einfluss auf ihre Arbeit und gleichzeitig erhebt die Versammlung gewisse Machtansprüche im aktuellen politischen Diskurs.

Verfahrensregeln

Auf dem vermeintlich weißen Blatt Papier sind Einflüsse und Machtansprüche von verschiedener Seite schon in den ersten Monaten der Arbeit deutlich sichtbar. Ein Beispiel dafür war die Debatte um das Abstimmungsquorum. Im November 2019 wurde noch von der Mehrheit der Legislative festgelegt, dass die Verfahrensregeln und die Verfassungsnormen in der Versammlung mit einer 2/3-Mehrheit beschlossen werden sollen. Diese große Mehrheit diente dem Ziel, einen gewissen Grundkonsenz und Stabilität innerhalb der Verfassunggebenden Versammlung zu erreichen. Nun wurde am 14. September 2021 die vorher vereinbarte 2/3-Mehrheit allerdings aufgehoben und für die Abstimmung der Verfahrensregeln durch eine einfache Mehrheit ersetzt. Gleichzeitig entstand in den letzten Wochen auch die Diskussion, ob die 2/3-Mehrheit für Verfassungsnormen durch eine 3/5-Mehrheit ersetzt werden sollte. Das Ergebnis dieser Debatte schien bis zur Abstimmung nicht eindeutig zu sein. Letztendlich wurde am 29. September die 2/3-Mehrheit doch mit 93 Stimmen angenommen. Damit wurde eine Botschaft an die Regierung geschickt, dass die Verfassunggebende Versammlung sehr wohl bereit ist, vorherige Absprachen einzuhalten; dies jedoch nicht selbstverständlich ist.

Diese Selbstverständlichkeit wurde weiterhin während der Abstimmung über die Verfahrensregeln in Frage gestellt. In diesen Vorschriften wurde nämlich auch das vage Instrument einer Volksabstimmung verankert, die laut Artikel 95 der Verfahrensregeln in dem Fall durchgeführt werden kann, wenn eine Verfassungsnorm durch die 2/3-Mehrheit abgelehnt wird. Es entsteht daher der Eindruck einer Aushebelung der 2/3-Mehrheit durch die Hintertür.

In den letzten Wochen war auch eine Diskussion darüber entstanden, ob die Verfassunggebende Versammlung originären oder derivativen Charakter hat. Mit Artikel 1 der Verfahrensnormen scheint das Verfassungskonvent darauf klar Bezug zu nehmen: Es versteht sich als eine repräsentative, paritätische und plurinationale Versammlung, die vom chilenischen Volk einberufen wurde, um die verfassungsgebende Gewalt auszuüben. Dieser originäre Anspruch steht im Gegensatz zu dem Vorschlag der konservativen Kräfte im Konvent, die unter anderem die Bezeichnung als staatliches Organ und einen direkten Bezug zum Kapitel XV der aktuellen Verfassung einforderten. Auf diese Weise macht die Verfassunggebende Versammlung ihren klaren Machtanspruch deutlich. Dieser ist auch durch die vorangegangenen Einflüsse der letzten Monate geprägt.

Politische und soziale Einflüsse

Der Einfluss des sozialen und politischen Kontextes wurde bereits am Tag der ersten Zusammenkunft der Verfassunggebenden Versammlung am 4. Juli sichtbar. Dabei wurde die Veranstaltung aufgrund von Protesten und Ausschreitungen mit der Polizei für mehrere Stunden unterbrochen, sodass die seit dem Oktober 2019 aufgeheizten Diskussionen der verschiedenen politischen Sektoren unter den Mitgliedern wieder aufbrachen. Ein weißes Blatt für das Schreiben der Verfassung und die Suche nach Konsens zwischen den Gruppen schien weit weg zu sein. Nachdem im Anschluss eine Akademikerin und Mitglied der Mapuche, Elisa Loncon, mit 96 Stimmen zur ersten Präsidentin der Verfassunggebenden Versammlung gewählt wurde, ging von dieser Wahl eine starke Symbolkraft aus. Gleichzeitig wurde damit ein neuer Machtanspruch der indigenen Völker erkennbar, der aufgrund der jahrhundertelangen Unterdrückung des Volkes und der Konflikte in der Region Araucanía – in der heute vor allem Mapuche leben – besonders aufgeladen ist.

Die Schwierigkeit, eine Verfassung auf weißem Papier zu schreiben, wurde auch in der ersten Amtshandlung deutlich. Unmittelbar am 4. Juli wurde gefordert, die politischen Gefangenen der Proteste ab Oktober 2019 und die Inhaftierten des bereits angesprochenen Konflikts mit dem indigenen Volk der Mapuche zu begnadigen. Diese Forderung war nicht neu und wurde bereits seit einigen Wochen von Abgeordneten im Kongress diskutiert. Allerdings handelt es sich dabei um ein aktuelles politisches Thema, sodass die Forderung nach Freilassung die Diskussion um Grenzen der Verfassunggebenen Versammlung wieder entfachte. Diese Debatte und der Machtanspruch über den aktuellen tagespolitischen Diskurs ist gefährlich, da das Verfassungskonvent damit Gefahr läuft, sich in diesen Debatten zu verlieren und letztendlich nur Politik für ihre Wählerschaft zu machen, anstatt einen möglichst großen gesellschaftlichen Konsens zu finden. Der Versuch der Einflussnahme führte in der Bevölkerung teilweise zu der Auffassung nun lediglich eine weitere staatliche Institution geschaffen zu haben, die keine konkreten Veränderungen bewirkt und auf dem weißen Papier probiert, ihre Klientelpolitik zu verschriftlichen.

Ein Glaubwürdigkeitsproblem tauchte Anfang September mit einem größeren personellen Skandal in der Versammlung auf. Das Mitglied Rodrigo Rojas, der ab dem 29. Juli 2021 auch zu einem der zusätzlichen sieben Vizepräsidenten gewählt worden war, wurde von einer Zeitung der Lüge und des möglichen Betrugs staatlicher Behörden überführt. Vor der Enthüllung hatte er immer wieder seine Forderung nach einem Recht auf ein würdiges Gesundheitssystem hervorgehoben, da er angeblich unter Krebs litt. Da dies nicht der Fall war, legte er nach der Aufdeckung sein Amt als Vizepräsident der Versammlung nieder. Gleichzeitig wurden auch Stimmen laut, dass er aus Mangel an Integrität aus der Verfassunggebenden Versammlung als solcher ausscheiden sollte. Für den Schritt sind jedoch bisher keine Regeln vorgesehen, sodass der Ausgang der Personalie noch ungewiss ist, was den Eindruck von „business as usual“ in der Öffentlichkeit geprägt hat. Diese Haltung wurde unterstrichen, als die Präsidentin des Verfassungskonvent erklärte, dass die Versammlung reagieren würde, aber „alle nur Menschen und keine Götter sind, sodass Fehler gemacht werden können“. Vorher hatten Teile der Bevölkerung unter anderem monatelang Geld für seine Behandlung gesammelt, sodass dieses etwas ambivalente Verhalten für Unmut sorgte.

Auf der anderen Seite ist auch der Einfluss der aktuellen Regierung in Zusammenarbeit mit dem Verfassungskonvent spürbar. Als die Verfassunggebene Versammlung am 5. Juli ihre Arbeit in den zugewiesenen Räumen beginnen wollte, waren weder die technischen Voraussetzungen noch gesundheitsrechtliche Sicherheitsmaßnahmen bezüglich der Pandemie gegeben, obwohl die verantwortliche Regierung Monate Vorbereitungszeit hatte. Dieses Verhalten machte unmissverständlich die Position der Regierung deutlich, dass die Verfassunggebende Versammlung und der Verfassungsprozess im Grunde genommen nur wirtschaftliche Unsicherheit bringt. Nach dem fehlerhaften Einstieg trat der Verantwortliche für die Verfassunggebende Versammlung in der Regierung von seinem Posten zurück und eine Politikerin wurde stattdessen ernannt, die vorher bei den Regionalwahlen eine Niederlage erlitten hatte. Eine derartige Personalentscheidung offenbart noch einmal das mangelnde Interesse der Regierung an dem Prozess.

Ausblick

Die letzte Umfrage eines Meinungsforschungsinstitut im September lässt erkennen, dass die meisten Chilenen glauben, die Verfassunggebende Versammlung würde dabei helfen, die Probleme im Land zu lösen. Gleichzeitig ist diese Erwartungshaltung im Vergleich zum Dezember 2019 rückläufig. Die hier dargestellten Diskussionen zeigen, dass die Verfassunggebende Versammlung die neue Verfassung inmitten von politisch, sozial und wirtschaftlich angespannten Momenten schreiben muss. Die gewisse Widersprüchlichkeit im Agieren der Verfassunggebenden Versammlung und ihr Machtanspruch werden den Verfassungsprozess auch weiter begleiten.  Nun soll mit der inhaltlichen Ausarbeitung der Verfassung begonnen werden.


2 Comments

  1. Christian Schmidt Thu 30 Sep 2021 at 17:32 - Reply

    Vielen Dank für diesen exzellenten Bericht!

  2. Uwe Kranenpohl Thu 7 Oct 2021 at 08:31 - Reply

    Vielen Dank für die Analyse, die vor allem deutlich macht, dass der Rawlssche “Schleier der Unwissensheit” halt ein Gedankenexperiment ist.
    Eine gewisse ‘Interessenentfremdung’ scheint besser zu gelingen, wenn ein Gremium Vorschläge erarbeiten muss, die von einem anderen Gremium dann ratifiziert werden müssen (das scheint die Orientierung an problem solving in ersterem zu stärken). Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob Volksabstimmungen ein geeignetes Instrument für diese Ratifikation sind, m.E. besteht die Notwendigkeit, dass sich auch das Ratifikationsgremium für die getroffene Entscheidung rechtfertigen muss (was bei einer geheimen Abstimmungen nun mal nicht gegeben ist).

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