Chiles Verfassungsreform – erfolgreicher Bürgerbeteiligungsprozess?
Chile befindet sich in einem Verfassungsreformprozess. Die aktuelle Verfassung ist aus dem Jahr 1980 und stammt von Diktator Augusto Pinochet und seiner Militärjunta. Auch die vielen Verfassungsänderungen seit 1990 sind nach Alvaro Ramis, Präsident des Zentrums für kulturelle Bürgerstudien, wie das Schälen einer Zwiebel: Obwohl Schale für Schale der Verfassungsnormen verändert oder entfernt wird, bleibt doch der Kern autoritär. Darüber hinaus befinden sich die Institutionen und Parteien Chiles seit langem in einer Vertrauenskrise. Auch die Studentenproteste von 2011 bis 2012 haben gezeigt, dass es an nachhaltigem und grundlegendem Dialog fehlt.
Als Mechanismus zur Überwindung dieser Krise verkündete die noch amtierende Präsidentin Chiles Michelle Bachelet am 13. Oktober 2015 den Beginn des Verfassungsprozesses als eines ihrer zentralen Wahlversprechen mit den Worten: „Chile braucht eine neue Verfassung, die auf den Volkswillen zurückgeht, von allen respektiert wird und die sich zum Motor der nationalen Einigkeit entwickelt.“ Wie sah der Verfassungsreformprozess in Bezug auf die Bürgerbeteiligung bisher aus? Welche Risiken gibt es für die Zukunft?
Bürgerbeteiligungsprozess
In keiner der bisherigen Verfassungen Chiles wurde die Bevölkerung aktiv eingebunden. Dies sollte sich mit dem neuen Verfassungsprozess ändern. Dafür setzte die Regierung verschiedene Mittel ein. Bevor es zu einer aktiven Bürgerbeteiligung kam, wurde die Bevölkerung auf den Prozess durch zivilgesellschaftliche Bildungsmaßnahmen zwischen Oktober 2015 und März 2016 oft etwas sehr vereinfacht vorbereitet. Diese Maßnahmen informierten in der Weihnachts- und Sommerferienzeit durch Broschüren und Fernsehbeiträge – auch in verschiedenen Sprachen der indigenen Bevölkerung – zu den weiteren Schritten im Verfassungsreformprozess. Darüber hinaus wurde ein Begriffswörterbuch mit den wichtigsten Begriffen zur Reformprozess, wie „Gleichheit“, „Identität“, entwickelt und verteilt.
Anschließend diskutierten Bürger auf lokaler, provinzialer und regionaler Ebene über die Verfassungsreform. Die Struktur der Diskussion beinhaltete vier Fragen, bei denen es um Werte, Rechte, Pflichten und die Garantie bestimmter Institutionen ging. Darüber hinaus gab es noch die Möglichkeit, Ideen und Vorschläge frei anzuführen. Die lokalen Runden wurden von Bürgern selbst zusammengerufen, mussten vor dem Treffen online angemeldet werden und bestanden aus 10 bis 30 ortsansässigen Personen. 8113 lokale Treffen fanden statt. Diese Diskussionsrunden waren Grundlage für die 71 Provinztreffen, bei denen Moderatoren den Diskurs leiteten. Dieser Diskurs war wiederum die Basis für Diskussionen in den 15 Gebietshauptstädten auf regionaler Ebene, bei denen den Ergebnissen der Treffen in den Provinzen vollständig, teilweise oder gar nicht zugestimmt wird. Ein beobachtender Bürgerrat, der aus mehreren von der Präsidentin ausgewählten Personen bestand, fasste die durch die Diskussionsrunden gesammelten Informationen in einem abschließenden Bericht zusammen. Darüber hinaus taten 90.804 Bürger auch individuell ihre Meinung über ein Formular im Internet kund. Das Formular enthielt die gleichen Fragen, die auch bei den Diskussionsrunden diskutiert wurden.
Diese Maßnahmen stehen eindeutig im Gegensatz zum Bürgerbeteiligungsprozess für die Verfassung 1980. Da damals lediglich einen Monat vor einem Referendum über den Verfassungsprozess informiert wurde, gab es für die Bevölkerung nur die Möglichkeit, sich oberflächlich zu informieren. Die Beteiligung beim Referendum war darüber hinaus auch zwingend für alle Menschen über 18 Jahren, die einen gültigen Personalausweis hatten. Denjenigen, die nicht wählen gingen, drohten Gefängnisstrafen. Mangelnde Wahlregister führten zudem zu mehrmaligem Abstimmen. Der aktuelle Verfassungsprozess ist hingegen transparent, indem alle Informationen über Abstimmungsverhalten und Berichte der Diskussionsrunden online gestellt wurden.
In dem aktuellen Verfassungsreformprozess beteiligten sich insgesamt 218.689 Menschen im Zeitraum vom 23. April bis zum 06. August 2016 an den Diskussionsrunden und im Internet. Das sind 1,2 % der gesamten Bevölkerung. Als Zeichen der Entwicklung hin zu einer vielfältigen Gesellschaft konnten sich auch Migranten beteiligen. Kritisch anzumerken ist, dass fast die Hälfte der Teilnehmenden aus der Hauptstadt Santiago stammten, gefolgt von der Stadt Valparaíso, die im Umkreis von Santiago liegt, mit über 20.000 Menschen. Das lag teilweise auch daran, dass Menschen Schwierigkeiten hatten, an dem Diskurs aufgrund großer Entfernungen oder fehlendem Internet im ländlichen Gebiet teilzunehmen.
Ein weiterer Kritikpunkt ist die Art und Weise der Diskussion. Die Diskussion und Abstimmung der Bürger über Werte, Rechte und Pflichten, die sie in einer Gesellschaft für elementar halten, ist zwar wesentlich, jedoch wurde sie unter anderem von Francisco Estévez, Direktor des Museums für Erinnerung und Menschenrechte in Santiago de Chile kritisiert. Estévez betont, dass diese Diskussion nicht allein zu grundlegenden Fragestellungen führt, die für eine Verfassung gestellt werden sollten: In welche Richtung soll sich das Land entwickeln? Wo wollen wir als Gesellschaft hin, und in welcher Art von Gesellschaft wollen wir in Zukunft leben? Nachdem das Militär aus seiner dominanten Rolle innerhalb des Landes in den letzten Jahren verdrängt wurde, bestimmen einige wenige Familien aus Wirtschaft und Politik viele Bereiche im lateinamerikanischen Land wesentlich. Eine Diskussion hin zu einer partizipativen Gesellschaftsstruktur als nächste Etappe wäre dabei notwendig gewesen. Die Wertediskussion ist dabei nur ein erster Schritt. Darüber hinaus wird nicht deutlich, was die einzelnen Beteiligten mit den Werten wie „Demokratie“, „Solidarität“ und „Respekt“ konkret meinen. Lediglich Stichworte und einzelne erklärende Sätze sind jedoch nicht ausreichend, um die entscheidenden Fragen zu diskutieren. Letztendlich bleibt es dann doch wieder anderen (staatlichen) Akteuren vorbehalten, diese Worte mit Leben zu füllen. Als weiterer Kritikpunkt ist die Unverbindlichkeit der Bürgerbeteiligung zu nennen. Dies ist vor allem problematisch, da der weitere Verlauf im Präsidialsystem Chiles stark von politischen Wahlen abhängt und die rechtliche Bindung an die Äußerungen der Bürger für politische Akteure in den nächsten Schritten im Verfassungsreformprozess nicht besteht.
Ein besonderer Aspekt im Verfassungsreformprozess ist die Beteiligung der indigenen Bevölkerung Chiles. Teile der indigenen Bevölkerung und staatliche Akteure befinden sich in einem jahrelangen – teils gewaltsamen – Konflikt. Daher ist das medienwirksame Vorbringen ihrer gesonderten Forderungen im Verfassungsreformprozess ein wichtiger Schritt hin zu einer Form der Zusammenarbeit. Neun indigene Bevölkerungsgruppen nahmen an Dialogrunden von August 2016 bis Januar 2017 teil. Ihre wichtigste Forderung ist die verfassungsrechtliche Anerkennung als indigenes Volk und somit auch die ihrer Kultur und Sprache, neben politischen, sozialen und kulturellen Rechten. Die Anerkennung der indigenen Bevölkerungen fand in anderen Ländern Lateinamerikas wie Kolumbien, Bolivien, Mexiko und Peru erst in den letzten Jahren statt und war umstritten, brachte aber diesem Teil der Bevölkerung auch weitere Rechte wie teilweise politische und juristische Autonomie.
Zukünftiges Verfahren
Der weitere Verlauf des Verfassungsprozesses ist fraglich, seitdem am 17. Dezember 2017 der konservative Kandidat Sebastian Piñera die Präsidentschaftswahlen gewonnen hat. Dieser hatte im Jahr 2016 noch geäußert, dass Bürgerbeteiligung in diesem Prozess nur zu Unsicherheit führe und die stabile Wirtschaftslage negativ verändern könne. Im zweiten Halbjahr 2017 hatte die damalige Präsidentin Bachelet den Verfassungsentwurf noch im Kongress eingereicht, sodass nun vier verschiedene Möglichkeiten für das weitere Verfahren in Frage kommen: Eine verfassunggebende Versammlung bestehend aus Bürgern, ein Volksentscheid, eine gemischte Versammlung aus ausgewählten Abgeordneten und Senatoren oder eine gemischte Versammlung aus Abgeordneten und Bürgern. Laut dem Institut CEP favorisieren 45 % der Bevölkerung die verfassungsgebende Versammlung. Der Wille zur einer Bürgerbeteiligung würde nach der fehlenden Verbindlichkeit der vorherigen Etappen durch diese Alternative gestärkt werden. Die Entscheidung zwischen den vier Möglichkeiten trifft jedoch 2018 eine für viele als elitär und nicht vertrauenswürdig angesehene Institution: der Kongress.
Für weitere Schritte bis zur Verabschiedung der Verfassungsreform gibt es keinen politischen Konsens. Die politische Veränderung – wie der Regierungswechsel – könnte dazu führen, dass der Bürgerbeteiligungsprozess mangels bindender Ergebnisse tatsächlich keine Auswirkungen mehr auf die folgenden Etappen im Verfassungsreformprozess hat. Der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses in Politik und in staatliche Institutionen ist somit nicht abschließend gesichert.
Estimada Svenja, saludos afectuosos, querida y destacada ex alumna de nuestro Curso Electivo en el INAP de la U de Chile: “Participación ciudadana para una gestión pública de calidad: participar para transformar”, realizado entre octubre y diciembre 2017.
Felicitaciones por tu magnífico artículo, gran aporte y muy7 valorable que mencionaras a Francisco Javier Estévez, Director Nacional del Museo de la Memoria y los Derechos Humanos y profesor titular de nuestro curso electivo.Un abrazo grande de nuestra parte.