27 August 2013

“Colorblindness ist herrschende Meinung”

Prof. Haney-López, wie, denken Sie, würde der Supreme Court die New Yorker StopandfriskPraxis beurteilen?

Zunächst ist unklar, ob der Supreme Court eine Berufung überhaupt annehmen würde. Unabhängig davon unterstreicht der Fall die grundlegende Widersprüchlichkeit – oder Scheinheiligkeit – der gängigen rechtlichen „colorblind“-Argumentation. Die konservativen Stimmen am Supreme Court behaupten beharrlich, sie seien ganz klar gegen jeden Gebrauch von race als Unterscheidungskategorie. Faktisch nutzt der Staat race aber immer wieder, vor allem im Polizei-Kontext und bei der Durchsetzung des Einwanderungsrechts. Dabei ist race allzu oft die Basis für Verdächtigungen nicht-weißer Personen. Und das führt regelmäßig zu der erniedrigende Erfahrung, von der Polizei angehalten und kontrolliert zu werden. Die konservativen Apostel der „Farbenblindheit“ wechseln in diesen Fällen plötzlich ihren Ton und wollen nichts Schlimmes darin sehen, dass der Staat auf race rekurriert, um Menschen verschieden zu behandeln. Das beste Beispiel ist Johnson v. California (2004): Der Supreme Court hatte die rassistische Segregation in kalifornischen Gefängnissen für rechtswidrig erklärt. Erstaunlicherweise stimmten Clarence Thomas und Antonin Scalia dagegen. Sie wandten ein, das colorblindness-Prinzip würde in der speziellen Situation von Gefängnissen nicht greifen. Konservativen Richter_innen gilt colorblindness also immer dann als unverletzliche Doktrin, wenn sie zum Abbau von Integrationsmaßnahmen ins Feld geführt wird. Geht es dagegen um repressive Maßnahmen gegen rassifizierte Minderheiten, betrachten sie es als unpassendes Prinzip.

Können Sie Bedeutung und Herkunft des Begriffs “colorblindness” erklären?

Es ist ein sehr machtvoller Begriff. Er stammt aus der Entscheidung des Supreme Court von 1896 im Fall Plessy vs. Ferguson. Das Gericht musste zum ersten Mal darüber entscheiden, ob Bundesstaaten rassistische Segregation im öffentlichen Leben, also in öffentlichen Verkehrsmitteln, Schulen, Gerichten, Theatern, Restaurants und so weiter, anordnen können. Neun der Richter entschieden, rassistische Segregation sei verfassungsmäßig. Nur einer, John Marshall Harlan, votierte dagegen. Er argumentierte, unsere Verfassung sei »farbenblind« und kenne keine gesellschaftlichen Kasten. Das war damals eine absolute Minderheitenposition. Der Begriff colorblindness erhielt dann seine Bedeutung als generelle Ablehnung rassistischer Segregation und wurde in den vierziger und fünfziger Jahren von der Bürgerrechtsbewegung übernommen.

Farbenblindheit war damals also ein politisches Ziel der Bewegung?

Ja. Colorblindness ist aber nur so lange eine radikale Forderung wie der Staat per Gesetz segregiert. Wenn er es nicht mehr tut, hat colorblindness keine emanzipatorischen Auswirkungen mehr. Das Konzept besagt nämlich, dass der Staat race nicht berücksichtigen darf. Dann kann er aber auch nicht mehr auf Ungleichheit reagieren.

Wie äußerte sich das in der Praxis?

1954 begann der Supreme Court mit dem Verfahren Brown vs. Board of Education die US-amerikanische Apartheid zu demontieren. Kurz darauf übernahmen Konservative die Rede von colorblindness. Sie argumentieren: »Die Verfassung ist farbenblind, der Staat darf also nicht auf race zurückgreifen, um zu diskriminieren, aber auch nicht, um zu integrieren.« Die heute vorherrschende Auffassung des Supreme Court lautet entsprechend: Der Staat verstößt gegen das verfassungsrechtliche Gleichheitsprinzip, wenn er versucht, race als Basis für Inklusionsmaßnahmen, etwa an vorher segregierten Schulen zu verwenden.

2009 ging das Gericht bei der Bewertung eines Beförderungsverfahrens der städtischen Feuerwehr von New Haven in der Entscheidung Ricci vs. De Stefano sogar soweit zu sagen, das Prinzip der Farbenblindheit sei verletzt, wenn der Staat race berücksichtigt, um der Diskriminierung von Schwarzen und Hispanics vorzubeugen. Fünf konservative Richter entschieden, dass dadurch weiße Anwärter benachteiligt würden.

Welche Rolle spielte colorblindness in der jüngsten Supreme-Court-Entscheidung Fisher vs. University of Texas?

Colorblindness war der blinde Fleck in der Entscheidung. Vier Richter – Roberts, Scalia, Thomas, and Alito – warteten darauf, colorblindness zu nutzen, um positive Maßnahmen gegen Rassismus, wie affirmativ action, zu erledigen. Kennedy, der das Urteil verfasste, ist auch Gegner von affirmative action. Er zögerte aber, die radikale Version der colorblindness-Doktrin zu übernehmen, nach der positive Maßnahmen auf der Basis von race niemals einen verfassungsmäßig gerechtfertigten gesellschaftlichen Nutzen haben können. Kennedys Urteilsbegründung gefährdet einerseits affirmative action, weil sie erschwerende Beweisregeln dafür aufstellt, dass es keine Alternativen zu der getroffenen Maßnahme gab. Trotzdem hat er kurz davor Halt gemacht, affirmative action in allen Fällen als verfassungswidrig zu erklären. In anderen Worten: Ein Tod auf Raten, statt eines schnellen Todes.

Ist das der aktuelle Stand im US-Anti-Diskriminierungsrecht?

Ja. Colorblindness ist die herrschende Norm. Immer, wenn jemand explizit auf race Bezug nimmt, gilt das als Diskriminierung. Das gilt auch für staatliche Maßnahmen gegen Rassismus. Heutzutage ist das Verfassungsrecht gegen rassistische Diskriminierung in den USA in sein Gegenteil verkehrt. Der Supreme Court hat seit 1979 keine Diskriminierung rassifizierter Minderheiten, egal ob Afroamerikaner oder Latinos, festgestellt, aber zahlreiche affirmative-action– Programme für verfassungswidrig erklärt. Nach Auffassung der Gerichte gibt es keine Diskriminierung gegen Minderheiten, aber Indizien für eine um sich greifende Diskriminierung von Weißen.

Welche Vorstellung von Rassismus in der US-amerikanischen Gesellschaft liegt dieser Rechtsprechung zugrunde?

Es ist die Behauptung, wir würden nunmehr in einer post-racial society leben. Sie ist als konservative Antwort auf die Bürgerrechtsbewegung entstanden, und geht so: »Wir haben das Problem mit dem Rassismus gelöst und müssen uns deshalb auch nicht mehr damit befassen.« Das ist nicht mehr der alte Konservatismus, der die rassistische Hierarchisierung der Gesellschaft prima findet und weiße Vorherrschaft verteidigt. Jetzt heißt es: »Wir glauben auch an racial equality, wir sind natürlich auch gegen Jim-Crow-Gesetze und Apartheid, aber die Bürgerrechtsgesetze haben die rassistischen Probleme bereits erledigt.« Die Konservativen behaupten also »Race is over« und sagen dann: »Und ihr Linken und Liberalen, ihr seid die wirklichen Rassisten, weil ihr die ganze Zeit versucht, die Gesellschaft zu spalten, indem ihr euch immer noch über Rassismus beschwert.« Was hier als so colorblindness ausgegeben wird, ist tatsächlich ein sehr wirkungsvoller Angriff auf die Thematisierung von Rassismus.

Wie sollte eine progressive Antwort darauf lauten?

Wir müssen wieder über die rassistische Spaltung der Gesellschaft reden. Die Angst und das Schweigen der Liberalen haben den Konservativen erlaubt, den Begriff Rassismus zu kapern und neu zu definieren. Zu Zeiten der Bürgerrechtsbewegung haben wir erkannt, dass Rassismus nicht nur ein persönliches Ressentiment ist, sondern auch tief in der Kultur und den institutionellen Strukturen unserer Gesellschaft verankert ist, etwa beim Zugang zu Bildung und Jobs. Dieses Bewusstsein unterschiedlicher Dimensionen von Rassismus ist in den letzten 40 Jahren verloren gegangen. Inzwischen lassen wir zu, dass Konservative Rassismus nur noch als persönliches Ressentiment definieren. Wenn Liberale darauf keine Antwort haben, haben wir keine Sprache mehr, um darüber zu reden, in welchen Dimensionen Rassismus weiter ein gesellschaftliches Problem ist.

Heißt das, man drückt sich einfach etwas subtiler aus?

Genau. »Rasse« ist im Grunde eine Erzählung, die Kultur, Verhaltensmuster und Biologie verknüpft. Die ältere Version von Rassismus setzt primär auf Biologie: Jemand ist schwarz, dann sagt uns die schwarze Hautfarbe, dass die Person dumm, kriminell und schmutzig ist. Wenn jemand Latino ist, dass die Person feige, kriminell und faul ist. Der neue Rassismus verzichtet auf explizite biologistische Bezüge, aber behält die alten Stereotype. Der neue Diskurs in den USA dreht sich daher um angeblich faule Sozialhilfeempfänger, Kriminelle, die angebliche »Invasion illegaler Ausländer« – all diese Formulierungen rufen die alten rassistischen Vorurteile ab, ohne das race explizit erwähnt wird. Solange Konservative nicht von »dem Schwarzen« reden oder gar beleidigende Ausdrücke benutzen – wie etwa wetback für Mexikaner – behaupten sie, es könne sich dabei unmöglich um Rassismus handeln.

Das klingt so, als hätte sich Rassismus in den USA grundsätzlich gewandelt. Ist das aus Ihrer Sicht ein Erfolg der Bürgerrechtsbewegung oder haben Konservative durch diese subtile Form des Rassismus letztlich an Boden gewonnen?

Ich denke, das Resultat ist widersprüchlich. Vor 50 Jahren hatte Rassismus die Form gesellschaftlicher Kastenzugehörigkeit, in der fast alle Minderheiten schlechter dran waren als Weiße. Der größte Erfolg ist wohl, dass das heute nicht mehr so ist. Heute gibt es eine viel größere afroamerikanische und hispanische Mittelklasse. Das ist ein echter, messbarer Fortschritt. Obamas Wahl war tatsächlich der Vorbote unglaublicher Veränderung dessen, wie race heute hierzulande funktioniert. Es gibt heute Möglichkeiten der Inklusion derer, die zuvor zu den Ausgeschlossen gehörten.

Aber…?

Aber, es wäre naiv zu denken, dass race verschwunden ist. In jeder beliebigen amerikanischen Stadt sieht man, wie sie mit Armut oder Privilegien korreliert. Oder sehen Sie sich die Zusammensetzung des Kongresses oder amerikanischer Aufsichtsräte an. Es ist offensichtlich: Race ist weiterhin sehr wirkmächtig.

Die Fragen stellen Doris Liebscher und Carl Melchers. Eine gekürzte Version des Interview ist am 22.08.2013 in Jungle World Nr. 34 erschienen. 


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