Coronaresistenz der Versammlungsfreiheit?
Das Bundesverfassungsgericht ermöglicht eine Versammlung in Gießen
1.
Endlich. Erstmals zu Corona-Zeiten hat das Bundesverfassungsgericht zugunsten der Versammlungsfreiheit entschieden. Erstmals hat es, seit durch die Ausgangsbeschränkungen „der massivste kollektive Grundrechtseingrifff in der Geschichte der Bundesrepublik“ ins Werk gesetzt wurde, ein Grundrecht gegenüber einer damit verbundenen Maßnahme zur Geltung gebracht.
Man konnte zuletzt den Eindruck gewinnen, die Versammlungsfreiheit sei in Deutschland derzeit faktisch vollständig ausgesetzt und damit womöglich in ihrem Wesensgehalt verletzt (vgl. dazu etwa hier und hier) – von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie etwa der Bremer Verordnung (§ 6 II, vgl. hier) einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (9.4.), einer des Verwaltungsgerichts Schwerin (11.4.) oder auch der vermutlich ersten Versammlung mit behördlichem „Vermummungsgebot“ in Münster.
Das Bundesverfassungsgericht hat solchen pionierhaften Regelungen und Gerichtsentscheidungen jetzt den Rücken gestärkt, indem es klargestellt hat, dass die Versammlungsfreiheit auch während der Pandemie gebührende Berücksichtigung verlangt und, jedenfalls in kleineren Gruppen und unter hinreichenden Vorkehrungen für den Infektionsschutz, auch weiterhin ausgeübt werden kann.
2.
Mit seinem Beschluss vom 15. April gab das Bundesverfassungsgericht einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen ein Versammlungsverbot in Gießen teilweise statt.
Für die Versammlung unter dem Motto „Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen – Schutz vor Viren, nicht vor Menschen“ wurden der Anmeldung zufolge etwa 30 Teilnehmer erwartet und Vorkehrungen für die Abstandswahrung auch innerhalb der Versammlung angekündigt.
Das Bundesverfassungsgericht hat die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen das Verbot für die am 16. und 17. April geplanten Versammlungstermine wiederhergestellt und dabei betont, dass die Stadt „nicht gehindert“ sei „unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Kammer nach pflichtgemäßem Ermessen erneut darüber zu entscheiden“, ob die Versammlung von bestimmten Auflagen abhängig gemacht oder, „sofern sich diese als unzureichend darstellen sollten, verboten“ werde (Rn. 15, vgl. auch den Tenor).
Die Stadt hat aber offenbar kein neues Verbot mehr erlassen, sondern lediglich Auflagen verfügt (vgl. hier), das heißt beschränkende Verfügungen erlassen, die (solange und soweit in Deutschland noch Genehmigungsfreiheit für Versammlungen herrscht) mangels Hauptverwaltungsakt nicht mit den gleichnamigen Nebenbestimmungen zu verwechseln sind.
Beim Bundesverfassungsgericht entschied eine Kammer mit dessen Vizepräsidenten, der seit einiger Zeit als Berichterstatter für den Schutz der Versammlungsfreiheit zuständig ist. Die eng zusammengehörenden Grundrechte der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit sind seither, erstmals seit langem, nicht mehr dem selben Dezernat zugeordnet. Die jetzt ergangene Eilentscheidung zeugt in der Sache gleichwohl von Kontinuität.
3.
Das Bundesverfassungsgericht bekräftigte zunächst, dass auch im Eilverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eine offensichtliche Verletzung der Versammlungsfreiheit zum Erfolg führen kann, wenn der Versammlungszweck sonst mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelt würde: Wäre eine Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet, läge dann „in der Nichtgewährung von Rechtsschutz der schwere Nachteil“ nach § 32 I BVerfGG, zu dessen Abwehr das Gericht berufen ist (vgl. Rn. 10 des Beschlusses; BVerfGE 111, 147 [153] – Bochumer Synagoge [2004], sowie – in anderem Kontext – BVerfGE 132, 195 [233] – ESM [2012]).
In versammlungsrechtlichen Eilverfahren bleibt es deshalb auch beim Bundesverfassungsgericht nicht immer bei einer bloßen Folgenabwägung – passend dazu, dass das Gericht seinerseits die Verwaltungsgerichte in solchen Verfahren der grundrechtlichen Anforderung einer hinreichend intensiven Rechtmäßigkeitsprüfung unterworfen sieht, die über eine solche Interessenabwägung hinausgeht (vgl. BVerfGE 69, 315 [364]; 110, 77 [87]).
4.
In der Verbotsverfügung der Stadt Gießen, die sich auf § 15 I VersG stützte, sah das Bundesverfassungsgericht einen offensichtlichen Verstoß gegen die Versammlungsfreiheit.
Die Stadt sei zu Unrecht davon ausgegangen, die Kontaktbeschränkungsregelung in § 1 der entsprechenden hessischen Corona-Verordnung (wohl: hier) verbiete generell alle Versammlungen unter freiem Himmel von mehr als zwei Personen, die nicht dem gleichen Hausstand angehören. Die Verordnung enthalte kein solches generelles Verbot. In diesem Sinne habe sich auch die Hessische Landesregierung in ihrer Stellungnahme gegenüber dem Bundesverfassungsgericht eingelassen (Rn. 12).
Die Stadt habe damit „verkannt“, dass § 1 der Verordnung der Versammlungsbehörde einen „Entscheidungsspielraum“ belasse – „für die Ausübung des durch § 15 I VersG eingeräumten Ermessens“ und „gerade auch zur Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit“ (Rn. 13).
Schon die Verkennung dieses Entscheidungsspielraums habe die Stadt an einer hinreichenden Berücksichtigung der Versammlungsfreiheit gehindert. „Darüber hinaus“ habe sie aber auch „über die Vereinbarkeit der Versammlung mit § 1 der Hessischen Verordnung nicht unter hinreichender Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls entschieden“, sondern gegen die Versammlung „überwiegend Bedenken geltend“ gemacht, „die jeder Versammlung entgegengehalten werden müssten“ und auch damit „die zur Berücksichtigung von Art. 8 I GG bestehenden Spielräume des § 1 der Verordnung leerlaufen“ lassen (Rn. 14).
5.
Das Bundesverfassungsgericht hat also Entscheidungsspielräume schon in der hessischen Verordnung ausgemacht, aber auch auf die notwendige Ermessensausübung nach § 15 I VersG verwiesen, und die Anforderungen als offensichtlich verletzt angesehen, die bei der Ausfüllung dieser Spielräume an die gebotene Berücksichtigung der Versammlungsfreiheit im Einzelfall zu stellen sind.
Etliche Grundsatzfragen und grundrechtliche Zweifel hat es dabei ungeklärt gelassen (vgl. zu solchen Fragen aber etwa die zustimmungswürdigen Beiträge hier, hier und hier). So ist es insbesondere nicht darauf eingegangen, ob § 28 I, § 32 IfSG und die darauf gestützten Corona-Verordnungen überhaupt den Anforderungen des Parlamentsvorbehalts an Versammlungsbeschränkungen genügen können, was äußerst zweifelhaft ist.
Bemerkenswert ist, dass das Bundesverfassungsgericht ohne weiteres (insoweit mit dem VG Gießen, vgl. auch hier) davon ausgeht, dass Versammlungsbeschränkungen sich nicht etwa schon aus den Kontaktbeschränkungsregelungen der auf das Infektionsschutzgesetz gestützten Corona-Verordnung selbst ergeben, und zwar auch nicht, soweit diese Versammlungen miterfassen, sondern weiterhin letztlich auf § 15 I VersG gestützt werden und die Verletzung der Kontaktbeschränkungsregelungen gegebenenfalls als Bestandteil der öffentlichen Sicherheit im Rahmen des § 15 I VersG zu berücksichtigen ist.
6.
Das dürfte auch auf vergleichbare Landesregelungen zu Kontaktbeschränkungen übertragbar sein, wie etwa diejenige der Verordnung in Baden-Württemberg (§ 3), und zwar unabhängig davon, ob diese schon selbst Anhaltspunkte für Entscheidungsspielräume erkennen lassen: Jedenfalls im Rahmen des etwa durch § 15 I oder III VersG eröffneten Ermessens ist die Versammlungsfreiheit dann im Einzelfall gebührend zu berücksichtigen. So wie etwa ein Verstoß gegen die versammlungsgesetzliche Anmeldepflicht allein noch nicht ausreichen kann, um eine Versammlungsauflösung zu rechtfertigen (vgl. BVerfGE 69, 315 [351]), kann womöglich auch ein Verstoß gegen generelle Kontaktbeschränkungen allein unzureichend sein, um verhältnismäßige Versammlungsuntersagungen nach § 15 I oder III VersG zu rechtfertigen, solange sich im Einzelfall ein hinreichender Infektionsschutz durch Auflagen sicherstellen lässt.
Entsprechendes dürfte entsprechend auch (mindestens) für die Ausübung des Ermessens bei der Erteilung von Ausnahmegenehmigungen zu verlangen sein, soweit Corona-Verordnungen Versammlungen ausdrücklich einem Genehmigungsvorbehalt unterwerfen – und zwar unabhängig von der Frage, ob ein solcher Genehmigungsvorbehalt überhaupt als solches mit der Versammlungsfreiheit vereinbar ist (vgl. für die Regelung in Hamburg verneinend VG Hamburg, anders aber offenbar das OVG Hamburg [beide: 16.4.]).
7.
Auch wenn das Bundesverfassungsgericht in seiner ersten stattgebenden Eilentscheidung zu coronabedingten Versammlungsbeschränkungen also wichtige Fragen offengelassen hat, hat es zumindest eine Grundsatzfrage doch geklärt – nämlich, dass es auch in Zeiten von SARS-CoV-2 daran festhalten wird, dass die Kommunikationsfreiheiten für eine Demokratie „schlechthin konstituierend“ sind (vgl. BVerfGE 7, 198 [208]; s. auch BVerfGE 69, 315 [344 f.]). Die Symbolkraft der Entscheidung kann deshalb kaum überschätzt werden. Bei aller in juristischen Bewertungsfragen in diesen schwierigen Zeiten sicher gebotenen Zurückhaltung ist doch zu hoffen, dass sie am Beginn einer neuen Phase der Pandemie-Bekämpfung steht, in der der Ausübung zentraler Grundrechte jedenfalls nicht weniger Gewicht beigemessen wird als dem Einkaufen im Baumarkt.
Endlich! Das wurde aber auch Zeit ….
vgl. hierzu die m.E. sehr ausführlich und hervorragend begründete Entscheidung der 17. Kammer des VG Hamburg – 17 E 1648/20
(https://justiz.hamburg.de/contentblob/13858150/5dccce7cac604b552dd5ffa03163fe49/data/17-e-1648-20-beschluss-vom-16-04-2020.pdf)
Bernd Handierk – Assessor Jur.
Das BVerfG hat seine Linie begrüßenswerter Weise schon am 17.4. erneut für Baden-Württemberg bekräftigt (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/04/qk20200417_1bvq003720.html).
Anders als im Beitrag erwogen, hat es hier nicht schon tatbestandliche Spielräume gesehen, sondern ist von einem generellen Verbot mit Ausnahmevorbehalt ausgegangen, hat aber auch hier die Einzelfallprüfung bei der Ausnahmeerteilung angemahnt. Es wird ausdrücklich offengelassen, “ob es von Art. 8 GG gedeckt ist, die Ausübung der Versammlungsfreiheit durch Rechtsverordnung einem grundsätzlichen Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zu unterwerfen und die Erteilung einer solchen Erlaubnis in das Ermessen der Verwaltung zu stellen” (Rn. 24; https://twitter.com/HongMathias/status/1251466202272186368).
Anders und m.E. zutreffender hat das BVerfG nunmehr am 17.4.2020 entschieden: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/04/qk20200417_1bvq003720.html
Das Bundesverfassungsgericht lässt ausdrücklich offen, ob der Rechtsansicht des VGH BW zu folgen ist, der in § 3 Abs. 1 Corona-VO BW ein (jedenfalls implizites) Versammlungsverbot erblickt. Dass das konsequent ist, zeigt bereits § 3 Abs. 6 Nr. 1 Corona-VO BW: Hiernach können (ausdrücklich systemkritische) VERsammlungen ausnahmsweise zugelassen werden. Diese Ausnahme ginge ins Leere, wenn § 3 Abs. 1 Corona-VO BW diese nicht (auch) untersagte.
Irritierend ist allerdings, dass die Kammer nicht auf ihre Entscheidung vom 15.4.2020 eingeht und sich zum Verhältnis der beiden Entscheidungen einlässt. Das BVerfG nimmt erneut direkt Bezug auf die Stellungnahme der Landesregierung (diesmal BW) und legt diese seiner Entscheidung zugrunde – kann dies diesesmal aber auch schlüssig, weil die Stellungnahme im Gegensatz zur Entscheidung vom 15.4.2020 im Kern nicht entscheidungserheblich ist.
Ich wäre da etwas skeptischer. Natürlich ist die Entscheidung zunächst einmal zu begrüßen, erinnert sich doch das BVerfG immerhin einmal ausdrücklich daran, dass Grundrechte nicht hinweggefegt werden können und eine Abwägung zu erfolgen habe – was aber jetzt nicht gerade irgendetwas Progressives in sich trägt. Wenn dieser Minimalkonsens aufgelöst würde, wäre nun wirklich alles dahin.
Die Frage ist halt, was gilt denn weiterhin garantiert. Und da ist unter Berücksichtigung der Entscheidung 1 BvQ 29/20 – 5 Tage zuvor, entschieden in gleicher Besetzung – schon zu attestieren, dass – zumindest diese Kammer des BVerfG – im Moment jeder Demonstration im Verfahren der Einstweiligen Anordnung den Grundrechtsschutz nicht zukommen lassen wird, wenn die Begründung als solche nur formal ausreichend ist (was sie in Gießen eben in grober Weise nicht war).
Hätte Gießen das Verbot aufrecht erhalten, und in der Begründung sich beim Beschluss 1 BvQ 29/20 bedient, wäre auch ein erneuter Anruf des BVerfG fehlgeschlagen, was das BVerfG ja auch durch die Blume im Gießen-Beschluss angedeutet hat.
Gewonnen ist bisher nicht viel, verloren im Gegensatz zu früherem Minimalkonsens schon. Der Kampf insbesondere um die Versammlungsfreiheit wird auch hinsichtlich der aktuellen Tendenzen des BVerfG weitergehen müssen.