30 March 2020

COVID-19 und das Grundgesetz: Neue Gedanken vor dem Hintergrund neuer Gesetze

Vor einer Woche haben wir hier auf dem Verfassungsblog die Tauglichkeit des grundgesetzlichen Immunsystems für die aktuelle COVID-19-Epidemie unter die Lupe genommen. Dabei sind wir zu dem Schluss gekommen, dass das Grundgesetz auf derartige Ausnahmesituationen nicht besonders gut vorbereitet ist. Im Wesentlichen haben wir folgende Mängel ausgemacht: Erstens, selbst wenn es einmal notwendig sein sollte, lässt sich der Föderalismus im Katastrophenfall nur sehr bedingt einschränken. Zweitens fehlen Verfassungsvorschriften, die die Arbeitsfähigkeit des Parlaments im Zweifelsfall gewährleisten könnten. Drittens trennt das Grundgesetz nicht hinreichend zwischen Normal- und Ausnahmezustand, vor allem in Bezug auf die (Einschränkbarkeit der) Grundrechte.

Nun hat der Gesetzgeber Änderungen seiner Geschäftsordnung und des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) beschlossen, mit denen er auf die momentane Krise in einer Art und Weise reagiert, die die von uns vorgebrachten Punkte noch einmal besonders virulent werden lässt. Für den Fall einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ hat der Gesetzgeber nun weitreichende Kompetenzen der Bundesexekutive, vor allem des Bundesgesundheitsministeriums, im IfSG festgeschrieben. Die Änderungen des Gesetzes sind auf diesem Blog und anderswo bereits eingehend besprochen worden (u.a. hier, hier und hier). Um seine Beschlussfähigkeit zu erhalten, hat der Bundestag darüber hinaus seine Geschäftsordnung geändert. Ab sofort ist das Parlament mit einem Viertel seiner Mitglieder statt wie vorher mit der Hälfte beschlussfähig. Auch wenn manche dieser Änderungen sicher gut gemeint sind, sind sie doch größtenteils unzulängliche Lösungen für die Probleme, die wir in unserem ersten Post ausgemacht hatten.

Das IfSG und die Staatsorganisation

Im Bezug auf staatsorganisationsrechtliche Belange haben wir in unserem letzten Beitrag im Wesentlichen zwei Kritikpunkte vorgebracht: Erstens kann die Bundesregierung den Landesregierungen im Katastrophenfall gem. Art. 35 Abs. 3 GG keine Weisungen erteilen. Zweitens, sieht das Grundgesetz keine Regelungen vor, um die Funktionsfähigkeit der Gesetzgebung auf Bundesebene im Falle eines inneren Notstandes zu erhalten (z.B. in Form eines sehr viel kleineren „Gemeinsamen Ausschusses”), sondern verlässt sich insofern auf informelle Absprachen wie „Pairing“ und ähnliches.

Zunächst zu möglichen Problemen im Zusammenhang mit dem Föderalismus: Die Beobachtung, dass dieser der Bekämpfung der jetzigen Krise nicht im Weg stand, sondern durchaus gut funktioniert hat, ist sicherlich richtig. Dies ist jedoch nicht auf Regelungen im Grundgesetz zurückzuführen, sondern darauf, dass im Moment Bundesregierung und Landesregierungen an einem Strang ziehen. So haben sich Bund und Länder am Sonntag auf ein umfangreiches Maßnahmenpaket zur Bekämpfung des Virus geeinigt. Dies war eine außergewöhnliche politische Leistung. Was aber, wenn in einer nächsten Krise einige Landesregierungen solche Vorhaben blockieren? Schon jetzt gibt es Beispiele für äußerst verantwortungslosen Umgang mit der Krise deutscher Politiker*innen sowie ausländischer Staats- und Regierungschefs (siehe z.B. hier, hier und hier). Sollten Politiker*innen solchen Kalibers einmal in einigen Bundesländern in Regierungsverantwortung kommen, wäre eine solche informelle Zusammenarbeit kaum noch möglich. Dann könnte sich der Föderalismus zu Zeiten eines Katastrophenzustandes durchaus als Problem erweisen. Daran ändert nun auch das neu gefasste IfSG nichts – das kann es als einfaches Gesetz auch gar nicht. Die Länder bleiben gem. Art. 83 GG weiter für die Ausführung des Gesetzes zuständig, auch wenn § 5 IfSG dem Bundesgesundheitsministerium nun entgegen dem Grundgesetz Kompetenzen zuzuschustern versucht. Der Gesetzgeber hat Ermächtigungsgrundlagen für weitreichendere Maßnahmen, insb. für Ausgangssperren, schaffen wollen. Ob diese dann tatsächlich den Anforderungen, insbesondere dem Bestimmtheitsgebot gerecht werden, ist höchst zweifelhaft (s. hier und hier) – wir würden sagen, nein. Die Verfassungsmäßigkeit jedoch einmal unterstellt, wäre im Zweifel nicht gewährleistet, dass diese auch umgesetzt würden. Dass die Zuständigkeit zur Ausführung von Bundesgesetzen grundsätzlich bei den Ländern als eigene Sache liegt, ist richtige und wichtige Entscheidung des Verfassungsgebers für Dezentralisierung von staatlicher Macht. In einem Krisenfall wie dem derzeitigen kommt es angesichts dessen allerdings immer noch darauf an, dass die Bundesländer zu Kooperation und Umsetzung eventuell notwendiger Maßnahmen auch bereit sind. Insofern bleibt für zukünftige Krisen die Möglichkeit von ausnahmsweisen Kompetenzverschiebungen ein wichtiger, diskussionswürdiger Punkt.

Unserem zweiten Punkt, dem Mangel an verfassungsrechtlichen Vorschriften, die die Funktionsfähigkeit der Legislative unter epidemischen Umständen aufrechterhalten würden, ist nun auf zweierlei Weise begegnet worden. Erstens wurde mit großer Mehrheit – entgegen nur einiger Stimmen der AfD-Fraktion – §45 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Bundestags (GOBT) geändert. Das zur Beschlussfähigkeit des Bundestags notwendige Quorum wurde von der “Hälfte seiner Mitglieder” (gegenwärtig also 355 von 709 Mitgliedern) auf ein “Viertel seiner Mitglieder” (gegenwärtig also 178 von 709 Mitgliedern) herabgesetzt. Das ist zwar verfassungsrechtlich nicht sonderlich bedenklich, da das Grundgesetz kein Quorum vorschreibt, den gesundheitlichen Bedenken ist damit aber unzureichend Genüge getan. Auch eine Ansammlung von 178 Menschen stellt ein hohes Risiko für die weitere Ausbreitung des Virus dar. Legislativorgane sind natürlich in unserer Demokratie besonders wichtig und insofern nur bedingt mit anderen Ansammlungen vergleichbar – Ausnahmen von Kontaktverboten für die Legislative sollten insofern auch politisch leichter zu rechtfertigen sein. Nichtsdestotrotz sollte man in Anbetracht des oben erwähnten unverantwortlichen Umgangs mit dem Virus einiger Politiker trotzdem über eine grundrechtlich verankerte ausnahmsweise proportionale Verkleinerung des Parlaments für zukünftige Krisen nachdenken, die deutlich weitergeht als die nun beschlossene Herabsetzung des Quorums.

Verfassungsrechtlich bedenklich hingegen ist die andere die Gesetzgebung betreffende Maßnahme. Wie von Christoph Möllers ebenfalls zutreffend festgestellt, hat das Parlament nämlich (unbeabsichtigt?) den Versuch unternommen, sich selbst zu entmachten. Gem. § 5 Abs. 2 Nr. 3 IfSG-E soll das Bundesministerium für Gesundheit nun „durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates“ Ausnahmen zu Vorschriften des IfSG zulassen können. Das ist mit den Voraussetzungen des Art. 80 Abs. 1 GG schlichtweg nicht zu vereinbaren. Dass ein einzelnes Ministerium und nicht die Bundesregierung als Kollegialorgan ermächtigt wird, macht die Sache sogar noch bedenklicher. Insofern wäre es nicht nur ehrlicher, sondern in unserem demokratischen Rechtsstaat notwendig, entsprechende Regelungen im Grundgesetz selbst zu verankern, die schnelle, effektive und (sowohl virologisch als auch demokratietheoretisch) ungefährlichere Möglichkeiten der Gesetzgebung im Ausnahmefall ermöglichen.

Die Grundrechte in Zeiten einer Epidemie

Das Grundgesetz regelt, anders als viele völkerrechtliche Verträge, nicht explizit, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Form besonders intensive Grundrechtseinschränkungen in Katastrophenzeiten erlaubt sind. Als wir dies in unserem letzten Beitrag kritisierten, wollten wir damit nicht zum Ausdruck bringen, dass noch weiterreichende Grundrechtsbeschränkungen erlaubt sein sollten. Uns ging es nicht um die Ermöglichungsfunktion solcher Vorschriften, sondern darum, dass mit einer entsprechenden Regelung einherginge, dass sich sowohl Gesetzgeber als auch Bevölkerung des (zeitlich begrenzten) Ausnahmecharakters von einschneidenden Maßnahmen besser bewusst würden. Außerdem wäre es unseres Erachtens vorzugswürdig, eine weitere hohe tatbestandliche Hürde in Form eines „Ausnahmezustands“ einzuziehen, bevor sich der Maßstab für die Verhältnismäßigkeit von grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen, wie dieser Tage faktisch ohnehin geschehen, ganz grundsätzlich ändert.

Wie die Gesetzesänderung nun zeigt, ist das Bewusstsein für die veranlassten Grundrechtsbeschränkungen beim Gesetzgeber nicht sehr ausgeprägt. Die alte Form des § 28 IfSG war schlichtweg eine unzureichende Ermächtigungsgrundlage für die getroffenen Grundrechtseinschränkungen, insbesondere für Ausgangssperren. Er zielte auf kurze Grundrechtsbeschränkungen ab, da die Beschränkungen nur zulässig waren, “bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind.” Die Streichung dieses Halbsatzes  impliziert, dass nun auch längerfristige Beschränkungen zulässig sein sollen. Gravierend hinzu kommen andere Details der Gesetzesänderung, die in der aktuellen hitzigen Debatte zuweilen untergehen. So soll nach § 28 Abs. 1 S. 4 IfSG a.F. (“Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden”) ersatzlos gestrichen werden, was eine enorme Einschränkung der körperlichen Unversehrtheit oder sogar der Religionsfreiheit bedeuten könnte. Dass diese und indirekt auch andere Grundrechte wie Berufs- oder Kunstfreiheit betroffen sein könnten, erkennt der Gesetzgeber jedenfalls nicht explizit an. Zwar erwähnt § 28 Abs. 1 IfSG-E als möglicherweise betroffene Rechte nun auch die Freizügigkeit, Art. 11 GG, lässt aber andere Grundrechte wie Berufs-, Kunst- oder Religionsfreiheit weiterhin unerwähnt. Was Ausgangssperren für Gastronom*innen, Künstler*innen und Veranstalter*innen bedeuten, ist dem Gesetzgeber angesichts enormer Hilfspakete offensichtlich bewusst. Warum spielt es dann bei der Schaffung neuer weitreichender Eingriffsbefugnisse eine bloß untergeordnete Rolle? 

Die nun getroffenen Maßnahmen sind freilich nach wie vor am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messen. Insbesondere sind Beschränkungen individueller Freiheiten mit dem erwarteten Nutzen der einschränkenden Maßnahmen für die Epidemienbekämpfung in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Die Maßstäbe dafür scheinen in Zeiten der Epidemie jedoch (wenigstens faktisch) kategorisch zugunsten der Bekämpfung von COVID-19 und des Gemeinwohls verschoben zu sein. Dass mag angesichts der großen Bedrohung durch das Virus gerechtfertigt sein. Es wäre jedoch klarer und transparenter, wenn eine solche grundsätzliche Verschiebung im Grundgesetz geregelt und an hohe tatbestandliche Hürden geknüpft würde. Dann wäre sie auch mit einem klaren Startschuss und einer klaren zeitlichen Begrenzung verbunden. Ihr Ausnahmecharakter wäre so klar, dass eine schleichende Normalisierung des Ausnahmezustands, wie wir sie momentan erleben, deutlich schwieriger wäre.

Conclusio

Mit der Novelle des Infektionsschutzgesetzes sehen wir einfachgesetzliche Regelungen, die versuchen, Probleme zu lösen, die sich aufgrund von verfassungsrechtlichen Vorschriften in der Krise ergeben. In einer rechtsstaatlichen Demokratie ist es aber angezeigt, die verfassungsrechtlichen Vorschriften entsprechend krisenfest zu machen. Selbstverständlich müsste das Grundgesetz so besonnen geändert werden, dass sich katastrophalste Konsequenzen von Notstandsregelungen wie in Weimar nicht wiederholen. Krisenregelungen dürfen keineswegs so beschaffen sein, dass sie Machterweiterung und -zentralisierung auf Dauer zulassen. Sie müssen immer so beschaffen sein, dass sie temporäre Ausnahmen nur zu dem Zwecke zulassen, möglichst schnell wieder zum Normalfall zurückzukehren. Dies ist eine schwierige Aufgabe. Allerdings zeigt die momentane Krise, dass es sich für die nächste Ausnahmesituation lohnen könnte, sich ihrer mit Bedacht und Ruhe anzunehmen, anstatt nun mit schnellschussartigen Gesetzesänderungen zu hantieren.


One Comment

  1. Stephan Feinen Wed 1 Apr 2020 at 13:00 - Reply

    Für mich stellt sich zusätzlich noch die Frage, inwieweit eine in NRW und Bayern geplante Zwangsverpflichtung von Ärzten und Pflegepersonal mit den Regelungen des Art. 12 (Satz 2 und 3) vereinbar ist.

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