23 October 2017

Das Arbeitsparlament im Wartemodus – ein Hauptausschuss für den 19. Deutschen Bundestag?

Am Dienstag konstituiert sich der 19. Deutsche Bundestag. Damit rückt auch das parlamentarische Geschehen wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit. Der Bundestag ist ein Arbeitsparlament – nicht im Plenum, sondern in den Fachausschüssen und Fraktionen findet der Großteil der Parlamentsarbeit statt. Eine Einsetzung der Ausschüsse ist aber noch nicht in Sicht. Traditionell beginnen sie ihre Arbeit erst nach der Regierungsbildung, dann sind Ressortzuschnitt und Personalfragen geklärt. Je länger die Jamaika-Koalitionsbildung also dauert, desto wahrscheinlicher wird eine Neuauflage des Hauptausschusses.

Zur Erinnerung: Nach der Bundestagswahl 2013 verstrichen 86 Tage bis zur großkoalitionären Regierungsbildung. Das war die längste Findungsphase, die es – bisher – nach Bundestagswahlen gab. Um dennoch handlungsfähig zu bleiben, setzte der Bundestag mit einfachem Plenarbeschluss einen Hauptausschuss ein. Dieser übernahm bis zur Konstituierung der Fachausschüsse 48 Tage lang ihre Aufgaben, auch die der verfassungsrechtlich und gesetzlich normierten Ausschüsse. Seine Zuständigkeiten erhielt der Hauptausschuss vom Plenum überwiesen, ein Selbstbefassungsrecht besaß er nicht. Der „Super-Ausschuss“ zählte 47 ordentliche Mitglieder und ebenso viele Stellvertreter. Den Vorsitz übernahm der Bundestagspräsident Norbert Lammert.

Ein solcher Hauptausschuss ist ein Ausschuss sui generis und nicht etwa ein Sonderausschuss i.S.v. § 54 Abs. 1 Satz 2 GO-BT. Sonderausschüsse haben den Zweck, ein bestimmtes politisches Thema zu behandeln. Ein Hauptausschuss aber ist das Resultat einer besonderen politischen Situation. Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum fiel das Urteil über den Hauptausschuss der 18. Wahlperiode unterschiedlich aus: Während ihn die meisten Autoren für verfassungswidrig hielten, war seine Einsetzung für andere noch vom weiten parlamentarischen Selbstorganisationsrecht des Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG gedeckt. Im Wesentlichen kristallisieren sich vier Kritikpunkte an einem Hauptausschuss nach dem Modell der letzten Wahlperiode heraus:

1.

Zunächst scheint der Wortlaut des Grundgesetzes ein Argument gegen den Hauptausschuss zu liefern. Die Verfassung spricht durchweg vom Bundestag und seinen „Ausschüssen“ in der Mehrzahl. Mit Blick auf Sinn und Zweck jener Vorschriften ist jedoch schon fraglich, ob nicht auch das ständig tagende Parlamentarische Kontrollgremium oder gar der (Vor)Ältestenrat unter den Ausschussbegriff des Grundgesetzes fallen. Ungeachtet dessen nutzt das Grundgesetz die Formulierung für den parlamentarischen Regelfall, der erst nach Ablösung der geschäftsführenden Bundesregierung und Einsetzung der Fachausschüsse beginnt. Auch vor der 18. Wahlperiode wurden die Fachausschüsse nicht am Tag der ersten Bundestagssitzung konstituiert. Es wäre für die Verfassungsväter und -mütter schon in sprachlicher Hinsicht umständlich gewesen, eine andere Formulierung zu wählen (vgl. auch Art. 45 GG a.F.). Die Einsetzung eines Hauptausschusses verstößt keineswegs gegen das Grundgesetz, weil dies an einigen Stellen von Ausschüssen in der Mehrzahl ausgeht. Das vermeintliche Wortlaut-Argument entpuppt sich als Wortklauberei.

2.

Gewichtiger kommen da schon die Art. 45, 45a und 45c GG her, die ausdrücklich die Bestellung von Ausschüssen für die Angelegenheiten der Europäischen Union, Auswärtiges, Verteidigung und Petitionen fordern. Diese vier „Pflichtausschüsse“ existieren nach dem Ende der Wahlperiode nicht fortwährend weiter (vgl. aber § 3 Abs. 4 PKrGrG), sie werden wie die anderen Ausschüsse vom neuen Bundestag eingesetzt. Die „Bestellung“ der Pflichtausschüsse bedeutet nicht bloß die personelle Entsendung von Abgeordneten in bestehende Pflichtausschüsse, sondern die institutionelle Bestellung der Ausschüsse durch Einsetzung und Konstituierung. Meint das Grundgesetz personelle Bestellungen, spricht es von der Bestellung der jeweiligen Mitglieder.

Die Pflichtausschüsse besitzen eine verfassungsrechtlich verankerte institutionelle sowie kompetenzielle Bestandsgarantie – der Bundestag muss sie einsetzen, isoliert voneinander. Die institutionelle Bestandsgarantie wird mit der – wenn auch verzögerten – Einsetzung der Fachausschüsse gewahrt. Eine Frist zur Einsetzung existiert gerade nicht. Vielmehr stellt die andauernde Regierungsbildung einen sachlichen Grund für die späte Ausschusseinsetzung dar. Ressortzuschnitt und Ausschusswesen bedingen sich. Darüber hinaus führt auch die kompetenzielle Bestandsgarantie der Pflichtausschüsse nicht dazu, dass die Einsetzung eines Hauptausschusses automatisch einen Verfassungsverstoß nach sich zieht. Genese und Telos der Art. 45, 45a und 45c GG zeigen, dass ein vorübergehend tagender Hauptausschuss ihnen nicht widerspricht. So liegt der verfassungsrechtlichen Verankerung der Pflichtausschüsse weitaus weniger die Überlegung einer klaren Kompetenzabgrenzung (siehe auch §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 69 Abs. 8 GO-BT) zugrunde als die Stärkung des Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union, die parlamentarische Kontrolle in Fragen des Auswärtigen und der Verteidigung sowie die Verbesserung des Petitionsverfahrens. Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine Entleerung der Bestandsgarantie schlagen nicht durch, wenn ein Hauptausschuss bis zur Regierungsbildung und Einsetzung der Pflichtausschüsse ihre Funktionen übernimmt.

Problematischer sind die Sonderbefugnisse der Pflichtausschüsse: Der Europaausschuss kann in den Fällen des Art. 45 Satz 2 und 3 GG das Plenum ersetzen. Art. 45a Abs. 2 Satz 1 GG verleiht dem Verteidigungsausschuss die Rechte eines Untersuchungsausschusses. Nach Art. 45c Abs. 1 GG obliegt es dem Petitionsausschuss, sich um Bitten und Beschwerden gemäß Art. 17 GG zu kümmern. Solche Rechte können mittels Plenarbeschluss nur bedingt auf einen Hauptausschuss übertragen werden, da Rechte von Dritten betroffen sind. Hier stößt das parlamentarische Selbstorganisationsrecht an seine Grenzen.

Grundsätzlich gilt der Plenarvorbehalt, d.h. das Plenum übernimmt als Hauptorgan des Deutschen Bundestages die Aufgaben des Parlaments. Unzulässig ist eine Delegation von Entscheidungsbefugnissen insbesondere, wenn das Grundgesetz sie wie im Falle des Art. 45 Satz 2 und 3 GG bereits auf ein bestimmtes Gremium vorsieht. Ein Hauptausschuss kann die Sonderbefugnisse des Europaausschusses jedoch ausnahmsweise wahrnehmen: Die Letztentscheidungskompetenz liegt weiter beim Bundestagsplenum, es hat ein „Rückholrecht“. Zudem existiert der vom Grundgesetz vorgesehene Europaausschuss noch nicht. Die Rechte der Bundesregierung sind durch die Wahrnehmung von Informations- und Mitwirkungsrechten i.S.v. Art. 45 Satz 2, 23 GG durch einen Hauptausschuss kaum berührt.

Die Rechtslage beim Untersuchungsrecht gestaltet sich bedenklicher: Zur Aufklärung von Sachverhalten kann der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss strafprozessuale Befugnisse gegenüber Privaten ausüben. Der Bundestag kann keinen Hauptausschuss schaffen, der in der Lage ist, sich ohne verfassungsrechtliche Grundlage zu einem Untersuchungsausschuss in Verteidigungssachen zu konstituieren. Eine solche grundgesetzliche Vorschrift braucht es, weil einem Untersuchungsausschuss als Teil der Legislative exekutivische Befugnisse zukommen. Diese Verschränkung in der Gewaltenteilung verlangt eine verfassungsrechtliche Grundlage: Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG. Das Selbstbefassungsrecht des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuss steht ihm qua Verfassung zu, nicht erst gemäß § 62 Abs. 1 Satz 3 GO-BT – Verteidigungsausschuss und Untersuchungsrecht gehen untrennbar miteinander einher. Im Ergebnis ist der Plenarbeschluss des Bundestages aus der 18. Wahlperiode an dieser Stelle verfassungskonform auszulegen: Ein Hauptausschuss kann sich nicht zu einem Untersuchungsausschuss konstituieren. Um eine Untersuchung in verteidigungspolitischen Angelegenheiten durchzuführen, muss der Bundestag den Verteidigungsausschuss nach Art. 45a Abs. 2 GG einsetzen.

Art. 45c GG berührt wie Art. 45a Abs. 2 Satz 1 GG nicht nur Rechte von Privaten, die Vorschrift bezieht sich sogar unmittelbar auf ein Grundrecht (Art. 17 GG). Ein Hauptausschuss hindert die Petenten jedoch nicht an der Wahrnehmung ihres Grundrechts. Es handelt sich bei Art. 45c GG um eine staatsorganisatorische Norm, die keinen Anspruch auf eine Petitionsbehandlung im Petitionsausschuss begründet. Dieser hat zwar auch Sonderbefugnisse (z.B. Anhörungsrechte nach § 4 PetAG), kann sie aber anders als Untersuchungsausschüsse nicht zwangsweise durchsetzen. Besondere Informations- und Kontrollrechte (Aktenvorlage, Auskunftserteilung, Zutritt, Amtshilfe) gegenüber der Bundesregierung, den Bundesbehörden und auch gegenüber Gerichten (§ 7 PetAG) haben auf diese kaum eine veränderte Rechtswirkung, sofern sie vorübergehend ein Hauptausschuss wahrnimmt.

3.

Zwar war der schwarz-rote Koalitionsvertrag zum Zeitpunkt der Einsetzung des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode noch nicht unterschrieben, die Koalitionsverhandlungen aber waren bereits abgeschlossen. Die zukünftige Rollenverteilung im Parlament stand bereits unter Vorbehalt des SPD-Mitgliedervotums fest. Die Spiegelbildlichkeit von Plenum und Ausschüssen führte im Parlament der „qualifizierten Großen Koalition“ (Pascale Cancik) dazu, dass die zukünftige Opposition im Hauptausschuss weiter marginalisiert wurde. Formell war die Opposition im Hauptausschuss der 18. Wahlperiode zwar mit zehn von 47 Sitzen überrepräsentiert. Doch die beiden Fraktionen von DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN waren mit nur jeweils fünf Ausschusssitzen kaum imstande, Fachleute für alle Ressorts in einen Hauptausschuss zu schicken. Für eine kleine Anzahl von Abgeordneten ist es schwerer, effektive Oppositionsarbeit zu leisten. Dies ist im Hinblick auf die ohnehin schon geringeren Ressourcen der Oppositionsfraktionen in Phasen qualifizierter Großer Koalitionen problematisch, wenn im Ergebnis auch nicht verfassungswidrig. Im 19. Deutschen Bundestag wird die parlamentarische Opposition aller Voraussicht nach mandatsstärker sein, sodass sich das Problem automatisch entschärft. Die Frage nach einer ausreichenden Möglichkeit der parlamentarischen Minderheit, sich in den Willensbildungsprozess des Bundestages einzubringen, stellt sich zumindest nicht in gleichem Maße.

4.

Das wesentliche Verfassungsproblem des Hauptausschusses liegt im formalisierten Gleichbehandlungsgebot der einzelnen Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 GG. Ein Hauptausschuss führt dazu, dass der überwiegende Teil der Abgeordneten zeitweise von der unmittelbaren Ausschussarbeit ausgeschlossen ist. Dabei steht spätestens seit der Wüppesahl-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts fest, dass Abgeordnete „nicht ohne gewichtige, an der Funktionstüchtigkeit des Parlaments orientierte Gründe von jeder Mitarbeit in den Ausschüssen ausgeschlossen werden“ dürfen. Abgeordnete haben einen Anspruch auf die Mitarbeit im „Maschinenraum des Parlaments“. Eine spezielle verfassungsrechtliche Grundlage für einen Hauptausschuss findet sich nicht, schon gar nicht in Art. 53a GG und dessen Notfallparlament. Es braucht sie aber auch nicht. Der Bundestag hat einen weiten Gestaltungsspielraum in der Gestaltung von Organisation und Verfahren gemäß Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG, um seinen Aufgaben in angemessener Weise nachzukommen. Eine Ungleichbehandlung der Abgeordneten ist durch die vorübergehende Einsetzung eines Hauptausschusses von Verfassungs wegen gerechtfertigt: Es braucht ein handlungsfähiges Parlament, auch in Zeiten der Koalitionsfindung. Die Einsetzung eines Hauptausschusses stellt insofern eine zweckmäßige parlamentarische Handlungsweise dar, die dem Willen des Verfassungsgebers im Übrigen nicht widerspricht. In einem Hauptausschuss können die wesentlichen tagespolitischen Probleme effektiv bearbeitet werden (z.B. die Mandatierung von Bundeswehreinsätzen), das zeigen nicht zuletzt die konkreten Tätigkeiten des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode. Zudem bleibt dem Plenum die Letztentscheidung vorbehalten. Es ist überhaupt erst das Plenum, das für die Überweisung der Zuständigkeiten an den Hauptausschuss Sorge trägt. Den Abgeordneten, die nicht Mitglied im Hauptausschuss sind, bleibt im Übrigen das Recht, an Ausschusssitzungen des Hauptausschusses teilzunehmen.

Wer die Keule des Verfassungsbruchs schwingt, sollte zumindest auch im Blick haben, dass das Grundgesetz selbst die Unterscheidung von Abgeordneten in der Ausschussarbeit vorsieht, sofern es z.B. bestimmte Pflichtausschüsse mit Sonderbefugnissen regelt. Ungeachtet dessen ist es praxisfern zu glauben, die Bedeutung des Tourismusausschusses sei mit der des Haushaltsausschusses vergleichbar. Alle Abgeordneten sind gleich, manche aber zwangsläufig gleicher. Die Mandatsgleichheit erfuhr gerade in jüngster Vergangenheit nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 142, 25) akzentuiert, eine Renaissance. Dies mag vor allem theoretisch überzeugen. Das Pathos vom einzelnen Abgeordneten, der Gesetzgebungsarbeit und Regierungskontrolle eigentlich im Alleingang bewältigen kann, mutet verfassungsromantisch an, ist realitätsfern und auch nicht notwendig. Abgeordnete und Fraktionen können nicht separiert betrachtet werden. Fraktionen sind nicht ohne Grund die wichtigsten Steuerungseinheiten des Parlaments. Schließlich dient der Zusammenschluss von Abgeordneten zu Fraktionen nicht nur der Arbeitsteilung und Meinungssammlung; er führt auch dazu, dass Abgeordnete an den Willensbildungsprozessen außerhalb des Plenums und der eigenen Ausschusstätigkeit beteiligt werden. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ist keine Aufforderung zu politischem Einzelgängertum. Das Bundesverfassungsgericht nennt Fraktionen „notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens“, die es übrigens auch schon im Honoratiorenparlament der Frankfurter Nationalversammlung gab, mögen sie auch noch nach ihrem Stammlokal geheißen haben.

Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen einen Hauptausschuss lassen sich weitestgehend ausräumen. Voraussetzung dafür ist, dass der Bundestag gewillt ist, einen provisorisch tagenden Hauptausschuss schnellstmöglich durch die Fachausschüsse zu ersetzen. Als Untersuchungsausschuss kann er sich jedoch nicht konstituieren. Die Einsetzung eines Hauptausschusses in der 19. Wahlperiode wäre angesichts der anstehenden Koalitionsverhandlungen also nicht verfassungswidrig. Ob sie rechtspolitisch vorzugswürdiger ist als die unmittelbare Einsetzung aller oder zumindest der Pflichtausschüsse, soll dahingestellt bleiben. Doch auch eine sofortige Einsetzung der verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Ausschüsse (Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung sowie Haushalt) führt dazu, dass die allermeisten der neuerdings 709 Abgeordneten weiterhin auf „ihren“ Ausschuss warten müssten. Leichter würde es die Regierungsbildung auch nicht machen. Personalfragen und Ressortzuschnitt können der verfassungsrechtlichen Mandatsgleichheit nicht die Waage halten, dennoch ist ihre parlamentspraktische Relevanz nicht von der Hand zu weisen. Eins zu eins lässt sich der Hauptausschuss jedoch gar nicht in die 19. Wahlperiode übertragen, da es bereits heute zwei fraktionslose Abgeordnete gibt. Sie haben keine Einflussmöglichkeit durch eine Fraktion, das macht einen Hauptausschuss nicht weniger kompliziert.


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