26 March 2020

Das Asylrecht als Kollateralschaden der Grenzkontrollen

Pünktlich zum 25-jährigen Jubiläum des Wegfalls der Binnengrenzkontrollen zwischen zunächst sieben EU-Mitgliedstaaten (Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Portugal und Spanien) am 26. März 2020, führen insgesamt sechzehn Mitgliedstaaten des Schengen-Raumes wieder Binnengrenzkontrollen vorübergehend durch – 14 von ihnen begründen dies mit der Corona-Krise. Das Asylrecht ist Kollateralschaden dieser Praxis, weil dadurch die Asylantragstellung verhindert oder praktisch erheblich erschwert wird. Dies ist nicht nur rechtswidrig, sondern kann auch zu einer unkontrollierten Weiterverbreitung des Virus führen.

Grenzkontrollen zur Bekämpfung der Corona-Krise

Fünf dieser Länder (Belgien, Deutschland, Frankreich, Portugal und Spanien) führen wieder umfassende Binnengrenzkontrollen durch. Weitere elf der insgesamt 26 Mitgliedsstaaten des Schengen-Raums führen ebenfalls Grenzkontrollen durch (Dänemark, Estland, Finnland, Litauen, Norwegen, Österreich, Polen, Schweden, Schweiz, Tschechische Republik, Ungarn). Zum Geburtstag der Binnenfreizügigkeit sind also Binnengrenzkontrollen die neue Normalität. Nur Frankreich und Schweden begründen diese Kontrollen nicht mit der Corona-Krise.

Die Liste der seit Geltung des Schengener Grenzkodex im Jahr 2006 der EU-Kommission angezeigten vorrübergehenden Binnengrenzkontrollen ist dadurch von 122 Fällen auf 145 Fälle angestiegen. Diese Kontrollen können die Mitgliedstaaten in rechtskonformer Weise gem. Art. 25 ff. des Schengener Grenzkodex anordnen, wenn eine vorhersehbare oder unvorhersehbare nicht anders abzuwehrende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit besteht. Die EU-Kommission und die anderen Mitgliedstaaten sind in diesen Prozess durch Mitteilung und Konsultation einzubeziehen.

Wie sinnvoll solche Kontrollen generell zur Unterbrechung der Infektionsketten sind, soll hier nicht vertieft diskutiert werden. Dass Grenzkontrollen ungeeignet sind, um einer Infektionskrankheit entgegenzutreten, die sich vor allem in Menschenansammlungen ausbreitet, haben unter anderem die zuständige EU-Kommissarin Ylva Johannsson und die Weltgesundheitsorganisation WHO betont.

Im europäischen Kontext bemüht sich die EU-Kommission in ihrer Mitteilung „COVID-19: Temporary Restriction on Non-Essential Travel to the EU“ vom 16. März 2020 darum, eine rechtskonforme Umsetzung der durch die Kontrollen beabsichtigten Bewegungseinschränkungen zu erreichen. Sie definiert in diesem Dokument für die Außengrenzkontrollen, was triftige Reisegründe sind. Das Ziel der Kommission ist dabei nicht nur eine einheitliche Kontrollpraxis an den Außengrenzen, sondern auch die Aufhebung der aufgrund der Pandemie eingeführten Binnengrenzkontrollen („Such a measure would also enable the lifting of internal border control measures, which several Member States have recently reintroduced in an effort to limit the spread of the virus“), insbesondere weil sie diese Kontrollen als Gefahr für den Binnenmarkt ansieht.

Die EU-Kommission betont in der Mitteilung vorab, dass es nicht erlaubt ist, die Einreise für heimreisende Personen und deren Familien aus den EU-Mitgliedstaaten und den assoziierten Staaten sowie für aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige zu beschränken. Daneben listet sie Kategorien von Reisenden auf, die als Reisende mit einer zentralen Funktion oder einem wichtigen Bedürfnis („travellers with an essential function or need“) anzusehen sind. Diese sollten von den Einreisebeschränkungen nicht erfasst sein. Die Liste umfasst neben Gruppen wie Gesundheits- und Pflegepersonal und vielen Personengruppen, die aus beruflichen Gründen reisen, auch Personen, die internationalen Schutz oder Schutz aus anderen humanitären Gründen benötigen („Persons in need of international protection or for other humanitarian reasons“).

Diese Personenkategorie kann nur so verstanden werden, dass damit asylsuchende Personen sowie anerkannte Flüchtlinge gemeint sind, zudem wohl auch erkennbar kranke und behandlungsbedürftige Personen. Dies ist, wie die EU-Kommission in ihren Richtlinien zum Grenzmanagement vom 16. März 2020 eindringlich betont hat, notwendig, um infizierte Personen möglichst schnell und effektiv erkennen und isolieren zu können. Für beide Personengruppen ist in der deutschen Ankündigung zur Wiedereinführung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen kein Raum. Bei erkennbar Kranken sollen zwar die Gesundheitsämter von der Bundespolizei hinzugezogen werden, aber die Zurückweisung ist – das wird aus den FAQ der Bundespolizei und des Bundesinnenministeriums deutlich – die bevorzugte Maßnahme.

Kollateralschaden Asylrecht

Noch dramatischer ist die Situation aber für Menschen, die von ihrem Recht Gebrauch machen wollen, einen Asylantrag zu stellen. In einigen Ländern an den Binnen- und Außengrenzen des Schengen-Raumes (bspw. in Griechenland und der Schweiz) ist die Zurückweisung und Nichtannahme von Asylanträgen an der Grenze offizielle Praxis. Andere Länder wie Belgien und die Niederlande nehmen generell aufgrund der Krisensituation keine Asylanträge mehr an und sorgen so dafür, dass das ohnehin unter Druck geratene Recht auf Schutz vor Verfolgung auch in Europa weiter ausgehöhlt wird. Es scheint so zu sein, dass die für Asyl zuständigen Ministerien und die Regierungen der Mitgliedstaaten des Schengen-Raums nun die Corona-Krise nutzen, um Hand an das Recht, einen Asylantrag zu stellen, zu legen.

Das Verfahren nach deutschem Recht ist, dass die Person an die zuständige Erstaufnahmestelle weitergeleitet werden muss. § 18 Abs. 1 AsylG regelt:

„Ein Ausländer, der bei einer mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörde (Grenzbehörde) um Asyl nachsucht, ist unverzüglich an die zuständige oder, sofern diese nicht bekannt ist, an die nächstgelegene Aufnahmeeinrichtung zur Meldung weiterzuleiten.“

Inwieweit dies an der Grenze umgesetzt wird, dazu schweigen die FAQ von Bundespolizei und Bundesinnenministerium. Die Frage des Umgangs mit Schutzsuchenden wird dort nicht aufgeworfen. Zur Asylantragstellung heißt es beim zuständigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): „Das Bundesamt hat zur gebotenen Vermeidung von Kontakten die persönliche Antragstellung umgestellt und nimmt Asylanträge nur noch schriftlich entgegen.“ Diese ist aber nicht an der Grenze, sondern nur nach einer Registrierung bei einer Erstaufnahmeeinrichtung möglich. In der Praxis besteht also die Gefahr, dass auch Schutzsuchende an der Grenze abgewiesen werden.

Im Lichte der aktuellen Entwicklungen hat das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR die rechtlichen Vorgaben in einem kurzen Dokument zusammengefasst. In diesen Key Legal Considerations on access to territory for persons in need of international protection in the context of the COVID-19 response vom 16. März 2020 stellt UNHCR die völkerrechtlichen Vorgaben bezüglich des Schutzes von Flüchtlingen dar, die im Hinblick auf den Zugang zum Hoheitsgebiet im Kontext der COVID-19 Bekämpfung gelten.

UNHCR knüpft den Umgang mit Asylsuchenden an der Grenze insbesondere an das völkerrechtliche Refoulement-Verbot an, das es verbietet, eine Person in die Gefahr von Verfolgung bzw. von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zurückzuweisen. Dieses Rückschiebungsverbot findet sich nicht nur in Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), sondern auch in Art. 7 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und – im europäischen Kontext besonders wichtig – in Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und in Art. 19 Abs. 2 der Grundrechtecharta der EU. Eine Ausnahme vom Refoulement-Verbot von Art. 3 EMRK ist gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK auch im Notstand nicht erlaubt, dies gilt also auch für jene Länder, die bereits aufgrund der Corona-Krise eine Derogation gemäß Art. 15 EMRK erklärt haben.

Das Refoulement-Verbot hat nach der Rechtsprechung eine prozedurale Komponente, d.h. es muss auch ermöglicht werden, das Recht nicht zurückgeschoben zu werden, effektiv geltend zu machen. Es gilt ab dem Moment, in dem eine Person sich unter der Hoheitsgewalt eines Staates befindet, kann also auch einschlägig sein, wenn die Person sich noch nicht auf dem Hoheitsgebiet befindet. An der Grenze bzw. bei einer Grenzkontrolle ist die Hoheitsgewalt des kontrollierenden Staates immer gegeben. Dessen Beamte müssen daher also das Refoulement-Verbot beachten. Das bedeutet, dass an der Grenze die Möglichkeit bestehen muss, einen Asylantrag zu stellen, wenn eine Person mündlich oder durch ihr Verhalten zu erkennen gibt, dass sie Schutz erhalten möchte.

Eine Berufung auf die generelle Sicherheit eines anderen Staates und ein Verweis auf dessen Schutzsystem ohne vorherige individuelle Prüfung ist in solchen Fällen nicht erlaubt. Dies hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrfach klargestellt. Noch deutlicher wurde in der letzten Woche der Europäische Gerichtshof (EuGH) in zwei Urteilen (LH und PG), die Ungarn betrafen. Der EuGH stellt nicht nur klar, dass Zugang zum Asylverfahren immer gewährleistet sein muss (PG, Rn. 56), sondern macht auch deutlich, dass eine unabhängige, individuelle und gründliche gerichtliche Überprüfung im Hinblick auf den Schutzbedarf (PG, Rn. 29) oder den im Drittstaat bestehenden Schutz (LH, Rn. 35ff.) der Entscheidung zugrunde liegen muss. Dabei dürfen Fristen und andere rechtliche Vorgaben oder tatsächliche Umstände das Gericht nicht an der umfassenden Überprüfung hindern (LH  Rn. 68ff. und PG, Rn. 26ff.). Für potentielle Dublin-Verfahren gilt derselbe Maßstab.

Es bleibt zu hoffen, dass sich alle Staaten des Schengen-Raumes angesichts dieser klaren Aussagen auf die gemeinsamen Werte jedenfalls aber auf die geltenden völker- und unionsrechtlichen Mindeststandards besinnen und Asylsuchende nicht weiter an den Grenzen abweisen oder anderweitig praktisch an der Antragstellung hindern. Und wenn die Besinnung auf die Werte und geltenden Regeln kein Umdenken bewirken kann, dann könnte ein einfaches gesundheitspolitisches Argument helfen, das UNHCR in seinen rechtlichen Erwägungen abschließend ebenfalls nennt: Werden Asylsuchende an der Grenze abgewiesen, dann befinden sie sich in einer unkontrollierten und unkontrollierbaren „in-orbit“ Situation. Eine solche Situation ist im Hinblick auf die Kontrolle der Weiterverbreitung des Virus jedenfalls nicht wünschenswert und kann zu einer unkontrollierten Weiterverbreitung führen, die sich wiederum von Grenzen nicht aufhalten lässt.

Eine solche Überlegung hat in den Bundesunterkünften in der Schweiz aber auch in Kantonen wie dem Kanton Bern jetzt zu einer Umquartierung von Asylsuchenden geführt: es ist einfach ein zu großes gesamtgesellschaftliches Gesundheitsrisiko, Menschen, egal welcher Herkunft, in diesen Zeiten in großen Gruppen auf engem Raum zusammenkommen zu lassen, ob innerhalb der Grenzen oder an den Grenzen. Ich befürchte, der notwendige Gesundheitsschutz der Flüchtlinge wird erst in das kollektive Bewusstsein rücken, wenn diese Gefahr real geworden ist und sich viele Personen in der Nähe von Grenzen angesteckt haben. Eine rechtzeitige, menschenrechtlich korrekte Intervention wäre für alle (und nicht „nur“ für die Flüchtlinge) die wesentlich bessere Lösung.


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