Das Bundesverfassungsgericht und die entfesselte Exekutive
Das Bundesverfassungsgericht wird in diesem Monat 60 Jahre alt. Das wird bestimmt zu allen möglichen Laudatien und andachtsvollen Gratulationsadressen Anlass geben, die diese sechs Jahrzehnte als beispiellose Erfolgsgeschichte nacherzählen, als Aufstiegsnarrativ from rags to riches, vom Neuling auf der Verfassungsbühne, der sich ab 1951 den Respekt von Politik und Justiz erst kämpferisch erwerben musste, über die spektakulären Heldentaten von Lüth und Elfes, bis hin zur Etablierung als populärstem Verfassungsorgan, als “Ersatzkaiser” und Exportschlager, überall in der Welt nachgeahmt und selten erreicht.
Das ist alles ganz gut und richtig. Aber viel interessanter ist eigentlich die Frage, ob und wo es Anlass gibt, sich um den zukünftigen Glanz dieser von uns allen so verehrten Institution Sorgen zu machen.
Ich bin gerade in Wien bei einem Rechtssoziologie-Kongress, um meine Fühlung mit der Wissenschaft zu Recht und Gesellschaft aufzufrischen. Einer der Vorträge, die ich heute hörte, war von Thomas Gawron, einem Rechtssoziologen aus Braunschweig, der sich mit der Wirkungsanalyse der BVerfG-Rechtsprechung beschäftigt. Gawron hat untersucht, wie es um die Wirkung des BVerfG speziell in der Verwaltung bestellt ist.
Sein Fazit: Die ist kaum messbar.
Die Exekutive, so Gawrons Feststellung, kommt in der Entscheidungspraxis des BVerfG kaum vor. Die Zahl der Entscheidungen, die Verwaltungsakte einschließlich Planfeststellungsbeschlüsse zum Gegenstand haben, lassen sich an einer Hand abzählen. Und die paar, die Gawron gefunden hat, sind von sehr begrenzter Bedeutung – kein Vergleich zu den zahlreichen und einschneidenden Korrekturen, die die Legislative regelmäßig aus Karlsruhe hinzunehmen hat.
Was heißt hier Exekutive?
Das heißt für sich genommen natürlich noch lange nicht, dass in den Behörden sich niemand um die Richtersprüche aus Karlsruhe schert. Aber wenn man dazunimmt, was sich in der Verwaltung in den letzten Jahren getan hat, kommt man ins Grübeln: Verwaltung hat mit Gesetzesvollzug oft kaum noch etwas zu tun. Und das bleibt nicht ohne Folgen für den Impact der Verfassungsrechtsprechung in der Exekutive.
Wo die klassische Verwaltung noch gesetzgeberisch determinierte Programme umsetzte, füllt sie heute offene Regulierungs- und Gestaltungsmandate aus: Was beispielsweise die Bundesnetzagentur den ganzen Tag treibt, lässt sich nur zum geringen Teil dem Bundesgesetzblatt entnehmen. Die Behörden verfügen nicht nur über umfassende Ermessens- und Beurteilungsspielräume. Teilweise ist ihnen sogar das Mandat übertragen, sich seine eigenen Regulierungsstandards zu definieren.
Es kommt sogar vor, dass ihre neue Eigenständigkeit sogar auf das Gesetzgebungsverfahren zurückwirkt: In Anhörungen des Gesetzgebers tauchen Vertreter nachgeordneter Behörden auf und pochen lautstark und selbstbewusst darauf, dass deren Gestaltungsvorstellungen und institutionelle Eigeninteressen in dem Gesetz Berücksichtigung findet, das sie doch angeblich nur umsetzen sollen.
Wenn das Verwaltungshandeln nicht oder nur eingeschränkt durch Gesetzgebung steuerbar ist, was heißt das dann für die Wirkung der Verfassungsgerichtsrechtsprechung? Fast scheint es, als seien BVerfG und Gesetzgeber in ein selbstreferenzielles Gespräch vertieft, wie die Gesetze von Verfassungs wegen beschaffen zu sein haben – und die Verwaltung tut unterdessen, was sie für richtig hält.
Executive unbound
Für die USA haben jüngst Eric Posner und Adrian Vermeulen die These aufgestellt, dass es in der Tat an der Zeit ist, sich von Madisons Gewaltenteilungsideen zu verabschieden und anzuerkennen, dass sich die Exekutive von den anderen beiden Gewalten nichts mehr sagen lässt. Auf Carl Schmitt gestützt, behaupten Posner und Vermeulen, das könne im modernen Verwaltungsstaat gar nicht anders sein, weil Gesetzgeber und Gerichte mit ihren trägen und komplexen Entscheidungsstrukturen der permanent irgendwelche Krisen bewältigenden Exekutive immer nur mit fürchterlicher Verzögerung hinterherkontrollieren können. Und das sei auch gar nicht schlimm, weil an die Stelle der rechtlichen Verantwortlichkeit die politische trete: Politische Abhängigkeiten und eine wache Öffentlichkeit seien viel wirksamere Checks and Balances für die Machtausübung der Regierung als die Kontrolle durch Parlamente und Gerichte.
Man braucht da keinen Carl Schmitt dafür, um anzuerkennen, dass da etwas dran ist. Nächste Woche, wenn das BVerfG sein Urteil zum Griechenland-Bailout verkündet, werden wir aller Voraussicht nach ein Paradebeispiel für diese Entwicklung vorgeführt bekommen.
Ich meine das gar nicht kulturpessimistisch: Wir haben es sowieso an allen Ecken und Enden mit zunehmendem Rechtspluralismus zu tun. Wir kommen schon seit geraumer Zeit auch ohne hierarchische Normenpyramide und zentral kontrollierter Einheit der Rechtsordnung klar. Und es fehlt auch nicht an Akteuren, die in der Lage sind, der Willkür der Bundesnetzagentur zu steuern.
Nur, das Bundesverfassungsgericht ist halt vermutlich höchstens im Ausnahmefall dabei.
Ob das in den Gratulationsreden zum 60. Geburtstag jemand erwähnen wird?
(c) Michael Swan, Flickr Creative Commons
Vielen Dank für Ihre wie gewohnt und geschätzt interessanten – und jenseits des Mainstreams, den man in den Lubhudeleien zum 60-Jährigen so liest, liegenden – Beobachtungen.
Ich würde jedoch eher die steile Gegenthese vertreten: Dass die Exekutive als Angriffsgegenstand in Karlsruhe höchst selten vorkommt, ergibt sich unmittelbar aus § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG: aus guten Gründen verlangen wir nun einmal die Erschöpfung des Rechtswegs, um eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts überhaupt feststellen zu können. Die Exekutive kann ohne Judikative gar nicht in Karlsruhe landen. Und dann ist Angriffsgegenstand zumeist das letztinstanzliche Urteil (BVerwG, OVG…). So einfach erklärt sich die statistische Abstinenz der Exekutive. Dass Karlsruhe der Legislative natürlich ebenfalls oftmals das Wort redet, liegt natürlich an der extremen Subjektivierung der Grundrechte durch die prozessuale Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde – die dann zu den genannten Absurditäten führt (Art. 38 GG als “Grundrecht auf eine europarechtsgemäß handelnde Regierung”), die allerdings – so meine Vermutung – nächste Woche eine recht einschneidende Zurechtstutzung erleben wird.
Und die Wirkung des BVerfG in der Verwaltung als “kaum messbar” zu bezeichnen, liegt wohl ebenfalls genau neben der Spur. Auch wenn es nach Schlagwort klingt, ist es glaube ich kaum ernsthaft bestreitbar, dass die Verwaltung durch die Rechtsprechung des BVerfG auf fast jedem Feld des Verwaltungsrechts geradezu konstitutionell rationalisiert bzw. zumindest sehr stark verfassungsrechtlich angereichert (oder “aufgeladen”) wird. Solche Effekte können wir bspw. in Frankreich – mit einem (bislang trotz Änderung immer noch) schwachen Verfassungsgericht nicht beobachten – dort übernehmen aber die Verwaltungsgerichte die Funktion, dass sie den Bürger zu einem “Anwalt des Rechts” machen. Dieses verschiedenartige Zusammenspiel von Judikative und Exekutive ist vielschichtiger und geht regelmäßig eben nicht zu Lasten der Judikative. Johannes Masing hat dies in seiner Dissertation “Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts” sehr schön aufgezeigt.
Die Abhängigkeiten von Verfassungsgericht und Exekutive sind daher wesentlich (!) größer, als sie der Braunschweiger Rechtssoziologe Gawron – wohl wegen seiner sachlich falschen statistischen Analyse – vermutet. Auch von “executive unbound” ist wegen der hiesigen hohen, flächendeckenden Kontrolldichte der Gerichte vielleicht in den USA zutreffend, in Deutschland wohl aber kaum zu sprechen. Ich würde also gerade die diametrale Gegenthese zu Ihnen in den Raum werfen wollen, lieber Herr Steinbeis.
An dem Punkt mit der Rechtswegerschöpfung ist was dran. Natürlich werden viele verfassungsrechtlich relevante Fälle schon im Widerspruchsverfahren oder im Verwaltungsgericht abgefischt, bevor sie das BVerfG erreichen. Ich hatte aber Gawron so verstanden, dass er nicht nur die Fälle gezählt hat, in denen sich die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen einen VA gerichtet hätte, sondern solche, in denen es materiell um die Verfassungsmäßigkeit eines VA ging. (Strafvollzugssachen hatte er dabei ausgeklammert.) Und da gab es offenbar tatsächlich fast nichts. Hat mich auch überrascht.
Wie auch immer: Trifft die These von der verfassungsrechtlichen Anreicherung tatsächlich auf jedes oder fast jedes Verwaltungsrechtsfeld zu? Verhältnismäßigkeitsprinzip, okay – aber kann man wirklich davon sprechen, dass die Judikatur des BVerfG die Praxis der, sagen wir, BAFin entscheidend prägt? Oder bewegen sich weite Teile der Regulierungspraxis nicht längst in Logiken, die sich aus ganz anderen Quellen speisen und von der verfassungsgerichtlichen Kontrolle gar nicht mehr erreicht werden können?
Das Problem (ist es ein Problem?) der verselbstständigten Verwaltungseinheiten (Schuppert) ist ja nicht neu. Auch hier ist jüngst ein interessanter Sammelband von Johannes Masing (mit G. Marcou) erschienen. (Ich bekomme übrigens keine Provision von Herrn Masing.) Wahrscheinlich muss man hier das klassische Verständnis der Gewaltenteilung tatsächlich ein wenig neu ausrichten.
Und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kleinzureden, verkennt wohl tatsächlich eine der unbestreitbaren Errungenschaften des BVerfG… Im Übrigen dürfte die Anzahl der vom BVerfG kontrollierten Verwaltungsakte wohl auch so gering sein, da über die doch recht niedrige Hürde der Beschwerdebefugnis bei Self-executing-Gesetzen diese unmittelbar als Rechtssatzverfassungsbeschwerde auf dem Karlsruher Tableau landen; der VA muss daher oftmals gar nicht eingeholt werden bzw. die Instanzen durchlaufen.
Dass das BVerfG kaum Fälle entscheiden soll, in denen es materiell um Verwaltungshandeln oder, enger, die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten geht, kann nicht sein. Allein die Vielzahl der Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit von Demonstrationen sind mehr als an einer Hand abzählbare Fälle. Ein flüchtiger Blick auf jüngste Entscheidungen zeigt im Juli ein Verfahren, in dem es um den Widerspruch gegen die Ernennung eines Beamten geht, im Juni geht es um Bescheide der Schulaufsicht, im Mai zweimal die Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis und nochmal eine beamtenrechtliche Auswahlentscheidung … die Zahlen können nicht stimmen.
Wenn man sich Behörden wie die BaFin oder die BNetzA nimmt, wird man wohl wirklich kaum eine Wirkung des BVerfG finden. Warum?
Nicht weil diese Behörden sich nicht um Verfassungsrecht kümmern, sondern weil sie kaum juristische Streitfälle produzieren, die höhere Instanzen erklimmen.
Das liegt zum einen daran, dass die Materien hochspezialisiert sind (wer hat sich hier schon mal um die Regulierung des Zugangs zum bundesweiten Gastransportnetz gekümmert? eben.), so dass die strittigen Entscheidungen – wenn es denn überhaupt mal welche gibt (dazu gleich) – kleinteilige Detailstreitigkeiten betreffen. Zum anderen liegt es daran, dass es überhaupt eher wenige strittige Entscheidungen gibt, weil die Regulierung in Zusammenarbeit mit den zu Regulierenden erarbeitet wird. So unschön das sein mag, so logisch ist es, weil der Staat kaum genügend Manpower und Detailwissen über die einzelnen Sachverhalte hat, um ohne Beteiligung der Betroffenen zu entscheiden.
Das mag aus einer demokratietheoretischen Perspektive weniger schön sein, funktioniert in der Praxis aber halbwegs gut, weil es mehrere Konkurrenten gibt, die zumindest dafür sorgen dass keiner bevorteilt wird. Und da es häufig einen funktionierenden Wettbewerb gibt (Ausnahme: EBA), steigen auch die Preise nicht zu Ungunsten der Kunden, weil die Anbieter und die Behörden auch darauf achten.
Wenn der Gesetzgeber sich stärker in solche Fragen einmischen würde, wird mir Angst und Bange. Die Fachbehörden wissen in der Regel, worüber sie reden, die Abgeordneten tun es in aller Regel nicht und scheinen eher erratisch auf einzelne Lobbyisten zu hören. Das führt dann dazu, dass man untersuchen darf, ob es nicht aus Kostengründen günstiger wäre, ca. 20 TKm Glasfaserkabel zu verbuddeln, statt bestehende Leitungen zu mieten…
In einem Teilbereich beobachte ich, dass eine Entscheidung des BVerfG keine deutliche Auswirkung auf Verwaltungshandeln hat. Die Entscheidung zur Radwegebenutzungspflicht (RWBP) hat – zumindest in Köln – nicht zu einer Umsetzung dahingehend geführt, dass nun die RWBP generell aufgehoben worden bzw. die Straßen auf ihre Gefahrenlage geprüft und die RWBP-Anordnung begründet worden wäre. Lediglich einzelne Straßen werden nun – unter außerordentlicher Propagandaarbeit mit dem Hinweis auf innovative Ideen – von den anordnenden Verkehrszeichen befreit. (Aber vielleicht bin ich als Nicht-Jurist da zu blauäugig anzunehmen, dass ein BVerfG-Urteil in diesem Bereich auf Verwaltungshandeln direkten Einfluss haben müsste.)
[…] Er schlug ein Gesetz vor, dass eine solche Zusammenarbeit verbieten würde. Max Steinbeis schrieb in diesem Blog über die zunehmende Macht der Exekutive, die von keinem Parlament mehr kontrolliert […]